Bruce Nauman Subjektivität Performance Film

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Die eigentliche Tätigkeit. Aktion und Erfahrung bei Bruce Nauman

in: Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, hrsg. von Erika Fischer-Lichte, Robert Sollich, Sandra Umathum und Matthias Warstat, München 2006, S. 57-74.

Kapitel III: Vom Werk zur Performance

Naumans Arbeiten der späten 60er und frühen 70er Jahre präsentieren, was mit Wolfgang Iser als „Reduktionsform der Subjektivität“ bezeichnet werden kann: Subjektivität erscheint hier auf ihren Grund zurückgeführt. In einem Interview schildert Nauman seine damalige Situation folgendermaßen: „Als ich von der Universität kam […], hatte [ich] keinerlei Umfeld für meine Kunst […], es gab keine Kontakte, keine Gelegenheit, jemandem zu erzählen, was ich Tag für Tag tat, keine Gelegenheit, über meine Arbeit zu sprechen. Und vieles, was ich tat, machte keinen Sinn, also hörte ich damit auf.“
In diesem Augenblick der Krise geht Nauman an den Nullpunkt künstlerischer Tätigkeit zurück. So fährt er in dem Interview fort:
„Im Atelier war ich auf mich selbst gestellt. Das warf dann die grundlegende Frage auf, was ein Künstler tut, wenn er im Atelier ganz auf sich selbst gestellt ist. Ich folgerte also, dass ich ein Künstler in einem Atelier war und dass demnach alles, was ich dort tat, Kunst sein musste. Was tatsächlich ablief, war, dass ich Kaffee trank und hin- und herging. Die Frage kam dann auf, wie ich diese Aktivitäten strukturieren konnte, so dass sie Kunst werden oder eine andere Art von geschlossener Einheit, die anderen Menschen zugänglich gemacht werden könnte. An diesem Punkt rückte die Kunst als Tätigkeit gegenüber der Kunst als Produkt in den Vordergrund.“
Es scheint, als wäre Nauman einem Zustand verfallen, den ein Romantiker wie Baudelaire als „ennui“ bezeichnet hätte. Nauman fehlen das Ziel, die Mittel und die Veranlassung, Kunst zu machen. Das Atelier wird zum leeren Raum, wo es nichts zu tun gibt, keine Arbeit und keine Verpflichtung. Nur etwas stört den Müßiggang, der sich hier ausbreiten könnte: Naumans Überzeugung, dass er ein Künstler sei, der unmöglich in Sprachlosigkeit verharren könne. Dass Tätigwerden und Produzieren einen Ausweg aus der Leere des Ichs weisen kann, war schon den Künstlern der Romantik aufgegangen. Nauman findet dieselbe Antwort, gibt dem Produzieren jedoch eine reflexive Wendung, in der die Dynamik der Produktivität selbst hervortritt. Nauman umgeht das Ausdrucksproblem, keine Botschaft zu haben, indem er nicht nach einem Inhalt sucht, den es auszudrücken gälte, sondern die Situation, in der er sich befindet, als solche zum Inhalt macht: Das Hin- und Hergehen im Atelier wird zum Gegenstand des künstlerischen Tuns. Auf diese Weise gelingt es, den Anspruch zu durchqueren, Ursprung des eigenen Handelns zu sein, und damit auch, den „ennui“, die konsternierende Einsicht in die Leere des Ichs, zu durchbrechen. Die Wendung setzt allerdings voraus, die Vorstellung eines geschlossenen Ichs, das die Einheit von Erfahrung und Ausdruck gewährleistet, aufzugeben und das Selbst in der Spannung von Körper, Identität, Inszenierung, Geste, Artikulation und Form zu begreifen.
Auf dieser Grundlage beginnt Nauman Performances zu entwickeln, die er, allein im Atelier, mit und an sich durchführt und die er mit Hilfe von Film oder Videoband aufzeichnet. Die Performances oszillieren zwischen dem Tun und dem Beobachten des Tuns. Während er den eigenen Körper wie ein „Stück Material“ benutzt, subjektiviert sich die Kamera, die nicht nur als Aufzeichnungsgerät dient, sondern zugleich als ein nach außen verlegtes Auge, für das er sich inszeniert. So werden die Performances zu einer Möglichkeit, mit sich selbst zu ’spielen‘. Nauman entwirft jeweils eine Regel, an die er sich in der Ausführung so lange hält, bis, wie er sagt, „das wirkliche Leben einschreitet“ und die Aktion abgebrochen oder aber die Regeln geändert werden müssen. Im Performance-Film Playing a Note on the Violin While I Walk around the Studio (1968) (Abb. 1) spielt er, im Atelier herumwandernd, fortlaufend einen einzigen hohen Geigenton. Das bedeutete eine besondere körperliche Anstrengung, da Nauman dieses Instrument gar nicht spielen konnte und seine Glieder rasch zu schmerzen begannen. Zehn Minuten Filmmaterial standen zur Verfügung, und so lange sollte der Film auch werden. Doch nach sieben Minuten musste er eine Pause einlegen, bevor er ihn zu Ende drehen konnte.
In einem anderen, ebenfalls 1968 entstandenen Performance-Film, Bouncing Two Balls Between the Floor and Ceiling with Changing Rhythms (Abb. 2), schlägt Nauman gleichzeitig zwei Bälle an den Boden und die Decke und versucht dabei, einen bestimmten Rhythmus einzuhalten. Die Bälle sollen beispielsweise einmal den Boden und einmal die Decke berühren, um dann gefangen zu werden, oder zweimal den Boden und einmal die Decke usw. „An einem bestimmten Punkt“, so Nauman, „sprangen beide Bälle hin und her, und ich rannte die ganze Zeit herum und versuchte, sie zu fangen. Manchmal landeten sie auf etwas, das am Boden lag, oder an der Decke, und dann sprangen sie in die Ecke und stießen zusammen. Schließlich konnte ich keinem von beiden mehr folgen […]. […] Ich hatte versucht, einen bestimmten Rhythmus einzuhalten […], und als ich aus ihm heraus kam, beendete das den Film.“
Statt ein Produkt herzustellen, leitet Nauman einen Prozess ein, der das Produkt in der Schwebe hält. Er agiert zugleich als Entwerfer und Ausführender des Spiels, bei dem der eine dem anderen die Aufgabe schwer macht. Die aufgezeichneten Vorgänge sind letztlich ohne Belang. Sie bilden weder den Inhalt noch den Zweck der Performances, sondern dienen als Mittel zur Inszenierung einer Struktur. Dabei berühren sich Aktions- und Filmstruktur, indem – wie Naumans Ausführungen deutlich machen – der Kontrollverlust über die Bälle nicht nur die Aktion beendete, sondern zugleich auch den Film. Entscheidend an der in den Performances entfalteten Tätigkeit ist die serielle, auf jede Expressivität verzichtende Bewegungsabfolge, sowie die Zweiteilung, zunächst ein quasi choreographisches Konzept zu entwerfen, um sich diesem solange zu unterwerfen, bis Konzept und Ausführung kollidieren. Was Nauman interessiert, ist nicht die Erfüllung des Programms, sondern die Art und Weise seines Kollapses. Die Filme entfesseln die Dialektik von Freiheit und Zwang, Zufall und Kontrolle, spielerischem ‚play‘ und hartem ‚game‘. Nauman spielt das Spiel und wird zugleich von ihm gespielt. Sein Augenmerk richtet sich auf das Auseinandertreten des Ichs in verschiedene Rollen, Perspektiven und Kräfte. Das erzeugt jedoch nicht nur Entfremdung, sondern zugleich – wie es Naumans Ziel ist – ein Bewusstsein seiner selbst: „Ein Bewusstsein seiner selbst“, so Nauman, „gewinnt man nur durch ein gewisses Maß an Aktivität und nicht, indem man nur über sich nachdenkt. Man macht Übungen, trainiert, wird sich des eigenen Körpers bewusst. Das passiert nicht, wenn man Bücher liest.“ Auf diese Weise exponieren die Performance-Filme das Paradox, dass das Subjekt sich unterwerfen muss, um zum Ausgangspunkt seiner Handlungen werden zu können, so wie es in der doppelten, ambivalenten Etymologie des Wortes angelegt ist: ’subjectus‘ einerseits als ‚Untertan‘, andererseits als lateinische Übersetzung des griechischen ‚hypokeimenon‘, das ‚Substanz‘ und ‚Zugrundeliegendes‘ bedeutet. Nauman verbindet diese beiden Aspekte von Subjektivität, indem er sich als Performer einem selbst entworfenen, frei gewählten Zwang unterwirft. Das verleiht den Aktionen eine Komik, die bewusst auf die Figuren- und Handlungszeichnung Samuel Becketts anspielt. Indem das Subjekt sich selbst zum Sujet wird, erhält es die Souveränität, die es verliert, im selben Zuge wieder zurück.

Kapitel I: Aktivität und Passion
Kapitel II: Nauman und das „offene Kunstwerk“
Punkt Bruce Nauman Kapitel III: Vom Werk zur Performance
Bruce Nauman Pfeil Kapitel IV: Von der Performance zur Installation
Kapitel V: Das Spiel (mit) der Subjektivität
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Bruce Nauman Umberto Eco das offene Kunstwerk

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Die eigentliche Tätigkeit. Aktion und Erfahrung bei Bruce Nauman

in: Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, hrsg. von Erika Fischer-Lichte, Robert Sollich, Sandra Umathum und Matthias Warstat, München 2006, S. 57-74.

Kapitel II: Nauman und das „offene Kunstwerk“

Auf diese Weise wird Nauman zum Testfall eines Konzeptes, das für die Beschreibung der Beziehung zwischen Künstler, Werk und Betrachter in der Kunst seit dem Zweiten Weltkrieg klassisch geworden ist: Umberto Ecos Konzept des „offenen Kunstwerks“. In den Aufsätzen, die unter diesem Titel 1962 auf italienisch und 1977 auf deutsch erschienen, untersuchte Eco, was er als die „operativen Strukturen“ der modernen Kunst bezeichnete. Unter Struktur verstand Eco das Relationssystem zwischen den unterschiedlichen Werkebenen – semantischen, syntaktischen, physischen, emotiven oder thematischen. Den Begriff der Struktur unterschied er dabei vom Begriff der Form: Jene sei die bereits aufgefasste Form und umfasse sowohl die strukturellen Beziehungen im Werk als auch die strukturierte Antwort des Betrachters darauf. Mit der Offenheit des offenen Kunstwerks war keineswegs ein subjekt- und erlebnisorientiertes ‚anything goes‘, weder die Offenheit des Kunstbegriffs noch die Bedeutungsoffenheit des Werks gemeint. Stattdessen ging es Eco um eine Poetik zeitgenössischer Kunstwerke, die zeigen sollte, auf welche Weise Bedeutung hier anders erzeugt werde als in der traditionellen Kunst. Eco betonte, dass nicht jedes offene Kunstwerk dasselbe bedeute und Offenheit nicht schon die Bedeutung sei, um die es gehe. Die Tendenz zu Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit deutete er weder negativ als Spiegelung einer Gegenwartskrise noch positiv als Ausdruck eines neuen Menschentyps, der zur ständigen Horizonterweiterung und Erneuerung seiner Erkenntnisschemata bereit sei. Das zentrale Argument war vielmehr, dass sich Bedeutung nicht im Werk selbst finden lasse, sondern in dessen „kommunikativen Strukturen“, die man klären müsse, bevor die Bedeutung und der geschichtliche Ort eines Kunstwerks bestimmt werden könnten. Diese zeigten sich in der je spezifischen Art, das semantische, syntaktische, physische und emotive Material zu strukturieren, sowie in der Art und Weise, wie der Betrachter in die Strukturierung einbezogen werde. Die Betonung, Offenheit sei ein Medium der Bedeutungserzeugung und nicht schon die Bedeutung selbst, scheint mir wesentlich zu sein, vor allem weil sie darauf hinweist, dass es ganz unterschiedliche Offenheiten, Unbestimmtheiten und Mehrdeutigkeiten gibt, die jeweils in ihrer Eigenart erkannt werden müssen. Die Offenheit wird vom Werk gleichsam konturiert und gefärbt, das heißt in einer bestimmten Weise allererst erzeugt.
An zwei Punkten scheint mir Ecos Ansatz allerdings problematisch zu sein. Die soeben genannte Variationsmöglichkeit in der Bedeutung von Offenheit schränkte Eco sehr stark ein. Ganz unabhängig von der konkreten Erscheinungsweise begriff er das offene Kunstwerk als „epistemologische Metapher“ für die Art und Weise, in der die moderne Kultur und Wissenschaft ihre Welt sähen. Die Eigenart des modernen Kunstwerks, ein Möglichkeitsfeld zu eröffnen, verknüpfte er mit nach-newtonscher Physik, Relativitäts- und Feldtheorie. Diesbezüglich schrieb er der Kunst eine pädagogische Funktion zu. Ihre Leistung erkannte er darin, uns bei der Einübung in diese neuen wissenschaftlichen Realitäten zu helfen. Gemäß Eco stellt sich das offene Kunstwerk die Aufgabe, uns ein Bild von der Diskontinuität zu geben, und zwar weniger durch deren Darstellung als vielmehr dadurch, dass es diese als Kunstwerk verkörpere. Damit vermittle es zwischen den abstrakten Kategorien des zeitgenössischen wissenschaftlichen Weltbildes und der lebendigen Materie unserer Sinnlichkeit. Diese bedeutungsmäßige und funktionale Schließung der Offenheit des Kunstwerks als Spiegel der physikalisch gedeuteten Welt und zugleich als pädagogisches Instrument, diese sinnlich erfassen zu können, steht im Widerspruch zur eigenen Ermahnung, zunächst die je eigenen kommunikativen Strukturen der einzelnen Kunstwerke zu untersuchen, bevor über deren Bedeutung und geschichtlichen Ort entschieden werde. Nicht die Auffassung des Kunstwerks als epistemologische Metapher erscheint mir problematisch – ich werde selbst am Ende dieses Textes Naumans Kunst als eine solche Metapher zu deuten versuchen -, sondern die Einschränkung des metaphorischen Verweisens auf diesen einen Bereich.
Der zweite problematische Punkt betrifft Ecos Begriff der Offenheit selbst. Sie erscheint bei ihm nur in dem Maße als offen, in dem sie in der Kommunikation zwischen Werk und Betrachter geschlossen werden kann – so schwierig das im einzelnen Falle sein mag. Eco ging es um Bestimmungsleistungen im Horizont eines nur zunächst Unbestimmten. Eine Offenheit, die sich nicht schließen lässt, zog er nicht in Betracht – eine Offenheit, die in genau der Weise offen bliebe, wie das Unbewusste notwendig unbewusst bleiben muss.
In beiden Punkten unterscheidet sich die Offenheit von Naumans Kunst von derjenigen, die Eco im Auge hat. Auch bei seinen Arbeiten geht es um die Relation von Subjekt und Werk, die, indem sie uns dazu auffordert, die verschiedenen Signifikanten modellierend und strukturierend aufeinander zu beziehen, als Metapher der Relation von Subjekt und Welt begriffen werden kann. Sobald wir jedoch in die „kommunikativen Strukturen“ des Werks eintreten, eröffnet sich bei Nauman darüber hinaus eine Offenheit anderer Art. Sie betrifft nicht die Welt, sondern den anderen Pol in der Interaktion von Subjekt und Werk, nämlich das Subjekt selbst. Nauman erzielt diese zweite Öffnung, indem zentrale Arbeiten seines Œuvres als Instrumente der Selbstbeobachtung angelegt sind. Im Prozess derselben spaltet sich das Subjekt in eine Innen- und Außenperspektive auf, die zueinander in ein irreduzibel offenes Verhältnis treten. Die Werke lassen erfahrbar werden, dass das das Subjekt für sich selbst nur als Anderer, nicht aber als Subjekt beobachtbar ist, mit anderen Worten: dass das Subjekt zum blinden Fleck seiner eigenen Wahrnehmung wird. Diese für Naumans Werke kennzeichnende „operative Struktur“ (Eco) sei im Folgenden an einigen aktions- oder handlungsbezogenen Arbeiten konkretisiert.

Kapitel I: Aktivität und Passion
Punkt Bruce Nauman Kapitel II: Nauman und das „offene Kunstwerk“
Bruce Nauman Pfeil Kapitel III: Vom Werk zur Performance
Kapitel IV: Von der Performance zur Installation
Kapitel V: Das Spiel (mit) der Subjektivität
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Bruce Nauman Betrachter Aktion Passion

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Die eigentliche Tätigkeit. Aktion und Erfahrung bei Bruce Nauman

in: Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, hrsg. von Erika Fischer-Lichte, Robert Sollich, Sandra Umathum und Matthias Warstat, München 2006, S. 57-74.

Kapitel I: Aktivität und Passion

Die Selbstaktivierung zum Performer und die Aktivierung des Betrachters zum Teilhaber des Werks führen bei Bruce Naumans Arbeiten zu einer Entschleunigung bis zum Stillstand. Er gleicht dem Verharren auf einer Schwelle – auf der Schwelle zwischen Einschluss und Ausgrenzung, somatischer Empfindung und intellektueller Reflexion, spezifischer Erfahrung und generalisierbarem Sinn. Insbesondere bei den begehbaren Installationen arbeitet Nauman mit zwei unterschiedlichen Aktivierungen des Betrachters: zum einen mit der unmittelbaren Interaktion als Automatismus von Reiz und Reaktion, zum anderen mit der komplexen, Psychologie, Anthropologie, Physiologie, zuweilen auch Soziales und Politisches einschließenden reflexiven Aktivierung des Rezipienten. Weder die automatistische noch die reflexive Aktivierung sind kunstspezifisch. Das Kennzeichen von Naumans Arbeiten, das auf die spezifischen Möglichkeiten der Kunst verweisen dürfte, besteht darin, beide Aktivierungen gleichzeitig hervorzurufen und in Konflikt zueinander treten zu lassen. Die Erkenntnisse, die dadurch eröffnet werden, erscheinen grundlegend und zugleich in ihrem weiterführenden Sinn zweifelhaft. Exemplarisch für diesen epistemischen Zweifel ist eine Einsicht, die Nauman in einem jüngeren Interview vorträgt. Nehmen wir einmal an, so Nauman in diesem Interview, wir wollten den rechten Fuß heben und einen Schritt nach vorne setzen. Stünden wir auf dem rechten Fuß, gehe das nicht. Wir müssten, um ihn heben und versetzen zu können, das Gewicht erst einmal auf den linken Fuß verlagern. Wenn wir dann den rechten Fuß erneut bewegen wollten, beginne das Spiel von neuem. Nauman zergliedert die simple, gewöhnlich unwillkürlich ablaufende Bewegungsfolge des Gehens, um festzustellen, dass wir eigentlich hinken, wenn wir gehen. Worüber Nauman schweigt, ist die Frage, was aus dieser Einsicht folgt. Denn im Grunde müssen wir sie wieder vergessen, um tatsächlich gehen zu können.
Der Wandel von einer distanzierten, kontemplierenden Beziehung zwischen Werk und Betrachter zur aktiven Beteiligung des Betrachters am Werkprozess dynamisiert sich in den 60er Jahren in einer Weise, die den jeweiligen Rezeptionsprozess zuweilen zum eigentlichen Inhalt des Kunstwerks avancieren lässt. Die künstlerische Bedeutungsstiftung subjektiviert und performativiert sich, indem sie sich von ihren konkreten Umständen und Verläufen weder ablösen kann noch will. Innerhalb dieses Wandels kommt Naumans Œuvre besondere Bedeutung zu. Insbesondere zwingen seine Arbeiten dazu, Werkbetrachtung und Selbstbefragung fortwährend aufeinander zu beziehen. Die Interpretation der jeweiligen Werke kann gar nicht anders, als die Strukturbeobachtungen am Werk und die Selbstbeobachtung des Rezipienten wechselseitig auseinander hervorgehen zu lassen – wobei sich die Selbstbeobachtung des Betrachters bei Nauman an Werken vollzieht, die ihrerseits in der Selbstbeobachtung des Künstlers gründen. Die Arbeiten öffnen sich rückhaltlos für den Betrachter, den sie auffordern, das Werk zu ‚machen‘, das gerade bei den raumgreifenden Installationen ohne dessen Mitwirkung unförmig und unsinnig bliebe. Allerdings stellt sich bald eine gegenläufige Erfahrung ein. Der Betrachter ‚macht‘ das Werk nicht, sondern wird vielmehr von diesem ‚gemacht‘, indem er in einer zuweilen diktatorischen Weise in eine ästhetische oder sogar existenzielle Erfahrung gedrängt wird. Die spezifisch Naumansche Ausprägung des ‚Kunstrisikos‘, um das dieser Sammelband kreist, besteht folglich in zwei unauflösbaren Spannungen: einerseits zwischen intensiver somatischer Erfahrung und offen bleibendem Sinn, andererseits zwischen Aktivierung des Betrachters und dessen Passion.

punkt Kapitel I: Aktivität und Passion
Paul Cezanne - Pfeil Kapitel II: Nauman und das „offene Kunstwerk“
Kapitel III: Vom Werk zur Performance
Kapitel IV: Von der Performance zur Installation
Kapitel V: Das Spiel (mit) der Subjektivität
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Die eigentliche Tätigkeit als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 869 KB)

Paul Cezanne Struktur Fleck Harmonie parallel zur Natur

Subjektivität und Medialität bei Cézanne als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.450 KB)

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Subjektivität und Medialität bei Cézanne – mit Vorbemerkungen zu Dürer, Kersting und Manet

in: Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, hrsg. von Michael Lüthy und Christoph Menke, Berlin 2006, S. 189-207.

Abschnitt IV

Als Cézanne auf einem Fragebogen anzugeben hatte, worin für ihn das „Ideal irdischen Glücks“ bestünde, notierte er: „Eine schöne Formel haben. “ Das Geheimnis seiner Malerei liegt nicht in einer verborgenen Bedeutung, sondern an der Oberfläche: in der Struktur. Sie hat die Eigenschaft, Bedeutung nicht aufgrund der Relation von Zeichen und Bezeichnetem zu erzeugen, sondern aufgrund der differentiellen Logik des Kontrastes. Ob ein Fleck eher eine Mauer oder aber ein blühendes Feld meint, kann erst im Zusammenhang mit den anderen Flecken vermutet werden, und auch dann noch unterliegt diese Zuschreibung beständiger Modifikation, die durch jede Identifizierung eines weiteren Flecks angestoßen werden kann. Wenn ‚Sehen‘ im Sinne der produktiven Einbildungskraft bedeutet, ‚etwas als etwas‘ zu sehen, dann dehnt Cézanne dieses ‚als‘ bis zu dem Punkt, wo es als Vorgang sichtbar wird. Worauf das Wiedererkennen des Motivs basiert, d.h. wo sich die Ähnlichkeit zum Dargestellten einstellt, darauf kann man im Bild nicht zeigen. Das Signifikat läßt sich von der signifikanten Struktur nicht ablösen, die ‚Realisierung‘ bleibt ein unabschließbarer Prozeß. Diese Ambivalenz von Bildaufbau und Bildzerfall zeigt sich auch aus der Perspektive der malerischen Praxis. Cézannes ‚réalisation‘, die Ich und Welt, innen und außen, Objekt und Empfindung, Ordnung der Malerei und Ordnung der Natur verschmelzen wollte, verwirklichte sich allein im flüchtigen Augenblick, in dem der Pinsel die Leinwand berührte – im Augenblick des Umschlags von Subjekt und Medium, der Medialisierung des Subjekts und der Subjektivierung des Mediums. Diese punktuelle, an den Augenblick der ‚Artikulation‘ gebundene Vermittlung ließ sich nicht in die Gewißheit einer ‚Aussage‘ oder eines ‚Inhalts‘ überführen, sondern nur als ein im Bild immer neu sich ereignendes Vermittlungsgeschehen realisieren. Wenn Cézannes Gemälde einen Effekt der Präsenz erzeugen, so handelt es sich folglich nicht um den epiphanischen Vorschein eines zugrundeliegenden ‚Seins‘, sondern um den Effekt eben jenes Pulsierens der Oberfläche, das der Stabilität des Bildes und des dargestellten Raums entgegenwirkt und ein irritierendes Moment von Unkontrollierbarkeit einführt. Die Bildpräsenz entspringt allerdings nicht allein diesem Pulsieren selbst. Sie verdankt sich ebenso sehr einer Möglichkeit, die nicht eine des Bildes ist, sondern vielmehr dessen Grenze anzeigt. Denn in jenem Pulsieren der Oberfläche schwingt zugleich die Gefahr mit, außer Kontrolle zu geraten und das fragile Gewebe des Bildes zu zerreißen. Im Prozeß der ‚réalisation‘ des Bildes zeigte sich diese Gefahr in der jederzeit bestehenden Möglichkeit eines ‚falschen Flecks‘: „Wenn ich zu hoch oder zu tief greife“, so sagte Cézanne nach den Erinnerungen Gasquets, „ist alles verpfuscht. Es darf keine einzige lockere Masche geben, kein Loch, durch das die Erregung, das Licht, die Wahrheit entschlüpft.“ Der ‚falsche Fleck‘ hätte nicht nur ein künstlerisches Mißlingen angezeigt. Als Loch im Gewebe hätte er zugleich jene „Harmonie parallel zur Natur“ zerstört, die Cézanne zu erreichen versuchte und die er wie einen Schleier zwischen sich und die Welt spannte – im kühnen Versuch, Selbst und Welt sich berühren zu lassen, indem er Subjektivität und Medialität der Kunst ineinanderführte.

Abschnitt I
Abschnitt II
Abschnitt III
punkt Abschnitt IV
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Subjektivität und Medialität bei Cézanne als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.450 KB)

Paul Cezanne realisation sensation motiv

Subjektivität und Medialität bei Cézanne als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.450 KB)

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Subjektivität und Medialität bei Cézanne – mit Vorbemerkungen zu Dürer, Kersting und Manet

in: Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, hrsg. von Michael Lüthy und Christoph Menke, Berlin 2006, S. 189-207.

Abschnitt III

Indem sich in der Kunst der Moderne die Aufmerksamkeit zunehmend vom Produkt auf die Produktion verschiebt und dem Akt der Hervorbringung häufig mehr Interesse entgegengebracht wird als dem hervorgebrachten Kunstwerk selbst, wandeln sich die ‚Inhalte‘, welche die Kunst kommuniziert, radikal. Das Kunstwerk verdankt sich jener intimen Zwiesprache zwischen Künstler und Medium, die Kersting und Manet in unterschiedlicher Akzentuierung vorführen. In dieser Zwiesprache verschmilzt das Selbstgespräch des Künstlers, der im Fortgang zum Bild zu sich selbst zurückzukehren sucht, mit der im Bild vollzogenen modellhaften Vermittlung von Selbst und Welt. Beide Vermittlungsgeschehen – des Subjekts mit sich selbst und mit der Welt – werden vom Bild auf Dauer gestellt und dem Betrachter kommuniziert. Dieser im Bild bzw. als Bild kommunizierte Prozeß tritt in der Moderne an die Stelle dessen, was in der früheren Kunst Narration und Repräsentation waren.
Was es heißt, Kunstwerke als jenes doppelte Vermittlungsgeschehen zu begreifen, möchte ich im Folgenden anhand von Paul Cézannes Gemälden genauer ausführen. Die Wahl fiel nicht zuletzt deshalb auf Cézanne, weil seine Malerei in einer für unseren Zusammenhang einschlägigen Weise gegensätzlich gedeutet wird. Die einen erkennen in ihr, in der Nachfolge von Maurice Merleau-Pontys phänomenologischer Cézanne-Deutung, jene „kopernikanische Wende“ der Kunst, die das subjektivierte, im eigenen Leib zentrierte Sehen zum Fundament der Malerei erklärt. Die anderen hingegen, dem formalistischen Moderneverständnis zuneigend, begreifen sie als jene entscheidende, bis weit ins 20. Jahrhundert und in die ungegenständliche Malerei hineinwirkende Offenbarung, daß ein Bild – wie die berühmte Formulierung von Maurice Denis lautet –bevor es irgend etwas darstellt, zunächst einmal eine Oberfläche ist, die von Farben in einer bestimmten Anordnung bedeckt wird. Cézannes Malerei gilt sowohl als Kronzeuge der Subjektivierung als auch der medialen Selbstreferenz der modernen Malerei. Damit aber stellt sich die Frage, ob – und gegebenenfalls warum – beide Deutungen zugleich richtig sein können. Wenn wir in Bezug darauf Cézannes Arbeitsweise und malerisches Selbstverständnis genauer betrachten, begegnen wir manchen Aspekten der Verflechtung von Subjektivität und Medialität wieder, die bereits bei Kerstings und Manets (Selbst-)Darstellungen angesprochen wurden – insbesondere der Rolle des Lichts, der Unentschiedenheit zwischen Aktivität und Passivität des künstlerischen Tuns sowie des Ineinandergreifens von Indexikalität und Ikonizität.
Es wird nie genau zu bestimmen sein, worin das Ziel von Cézannes ‚réalisation‘ bestand – jenes ‚Realisierens‘, als das er seine malerische Tätigkeit begriff und dessen Verfehlen er bis zu seinem Lebensende fürchtete. Eine erste Vorstellung davon geben jedoch die Begriffe, die Cézanne benutzte, wenn er sein künstlerisches Verfahren beschrieb. Da ist zunächst das ‚Motiv‘, mit dem er nicht nur den gegenständlichen Vorwurf des Bildes meinte, sondern ebenfalls die Motivation für seine unermüdliche Arbeit des Beobachtens und Malens. ‚Aller sur le motif‘, wie er seinen Gang zur Arbeit nannte, bedeutete folglich, in eine Beziehung zu einem äußeren Objekt zu treten, das ihn zugleich innerlich bewegte und das es im Lichte dieses doppelten Bezugs bildnerisch auszuarbeiten galt. Das Sichtbare war ihm Darstellungsgegenstand und Inspirationsquelle, Modell und Muse zugleich. Heteronome und autonome Vorstellungen künstlerischer Kreativität verschränken sich, indem diese als zugleich innen- und außengeleitet erscheint, motiviert durch etwas, was man mit Jacques Lacan eine „intime Exteriorität“ nennen könnte.
‚Sensation‘, am ehesten zu übersetzen als ‚Empfindung‘, entfaltet als weiterer Schlüsselbegriff in Cézannes Vokabular eine vergleichbare Komplexität. Zunächst meint er die visuelle Wahrnehmung im Sinne der ‚Impression‘, also einen vom Objekt ausgehenden optischen Sinnesreiz. Zugleich umfaßt er die Emotion als psychische Reaktion auf das Wahrgenommene. Ausdrücklich stellte Cézanne nicht das darzustellende Objekt, sondern die ‚sensation‘ in den Mittelpunkt seiner malerischen Bemühungen. Damit formulierte er eine Beziehung zur Welt, die „gleichzeitig Ergreifen und Ergriffenwerden“ war. Das Medium, das dabei zwischen den Dingen und den Empfindungen vermittelte, waren – auf das Sehen bezogen – das Licht sowie – auf die Übersetzung in Malerei bezogen – die Farbe.
Die ‚réalisation‘ von Cézannes Malerei zielte folglich auf mehreres zugleich. Sie galt zunächst dem Naturmotiv in seiner unendlichen Vielfalt, des weiteren den Empfindungen, welche dieses in ihm auslöste, und schließlich dem Gemälde selbst, dessen Gelingen die anderen ‚Realisierungen‘ erst ermöglichen würde. ‚Malen‘ hieß, jene gegenläufigen Bewegungen des Aufnehmens und Abgebens, der ‚Impression‘ und der ‚Expression‘, in einer einzigen Geste ineinander aufgehen zu lassen. Als Cézanne habe erklären wollen, was ‚ein Motiv‘ sei, habe er, so erinnert sich Gasquet, die Hände voneinander entfernt, um sie dann ganz langsam mit gespreizten Fingern wieder aneinander anzunähern, sie ineinander zu schieben und fest miteinander zu verschränken. Diese Verschränkung zu leisten, überantwortete Cézanne den farbigen Flecken, aus denen seine Bilder sich zusammensetzen. Sie bildeten das Grundelement, aus dem er, je später im Œuvre desto ausdrücklicher, seine Bilder ‚baute‘ (Abb. 4). Diese Bausteinfunktion konnten sie deshalb erfüllen, weil sie verschiedene Dualitäten in sich aufhoben. Jede ‚tache‘ ist Form und Farbe, Malerei und Zeichnung, Licht und Dunkelheit, materieller Rohstoff und Form in einem. Statt die Dinge durch die Linie zu umreißen, durch das Spiel von Licht und Schatten zu modellieren und schließlich durch die Farbe zu kolorieren, so wie es in der klassischen Kunst geschah, basierte Cézanne seine Malerei allein auf einem differentiellen System kontrastierender Farbmarkierungen. Komposition ersetzte er durch ein Verfahren, das er ‚Modulation‘ nannte. Die ‚tache‘ war folglich Endpunkt und Ausgangspunkt zweier gegenläufiger Prozesse. In ihr wurden komplexe Erfahrungen und Verfahren eingefaltet, um anschließend daraus die Ordnung des Bildes zu entfalten.
Mit dem rhythmisierten, eine Art gleichmäßiger Unschärfe hervorbringenden Gewebe der ‚taches‘ versuchte Cézanne der Natur des Sehens möglichst nahe zu kommen. Das Vorgehen war allerdings ebenso paradox wie das Ergebnis. Um neu sehen zu lernen, brach Cézanne mit den Konventionen der Malerei – Konventionen, die hier anhand eines Landschaftsgemäldes von Claude Lorrain vergegenwärtigt seien (Abb. 5). Im Willen, der ‚Verdunkelung‘ des konventionalisierten Sehens eine neue Klarheit entgegenzusetzen, ersetzte Cézanne die illusionistische Durchsichtigkeit des klassischen Tafelbildes durch eine fleckige Opazität, also durch eine Malweise, die nicht nur die Medialität des Bildes, sondern mehr noch: dessen Dinglichkeit zur Schau stellte. Damit aber bezog sich das ‚neue Sehen’ vor allem auf Gemälde, deren Erscheinungsweise befremdlich ins Auge stach. Es mündete in ein Bild, das zuallererst auf sich selbst verwies.
Mit seinem Prinzip der ‚Modulation‘ kontrastierender Flecken durchkreuzte Cézanne die klassische Bildordnung Punkt für Punkt. Die symbolische Ordnung des klassischen Bildes gründete in einer Metaphysik der Schönheit als Angemessenheit und Proportion. Kompositorisch manifestierte sich dies als Hierarchie von Teil und Ganzem, Zentrum und Peripherie, Vorne und Hinten, Hell und Dunkel, malerischer Präzision und skizzenhafter Andeutung, wobei sich die Organisation dieser einzelnen Bildaspekte in ihrer Sinnfälligkeit gegenseitig bestärkte. Im Mittelpunkt des Gemäldes, buchstäblich und metaphorisch, stand der ‚Bildheld‘ und spielte sich das Hauptgeschehen ab – bei Lorrain jene im goldenen Schnitt der Bildbreite positionierte mächtige Baumgruppe sowie die ihr beigeordneten alttestamentarischen Figuren Jakobs, Labans und seiner Töchter –, während die Peripherie und der Hintergrund des Bildes als Echo und Bestätigung des Hauptgeschehens dienten. Gleichzeitig wurde das Bild als ‚Durchblick‘ (‚prospectus‘, ‚prospectiva‘) aufgefaßt. Der Blickpunkt des Betrachters und der Fluchtpunkt des Bildes standen dabei in einem unumkehrbaren Verhältnis zueinander, allein schon deshalb, weil der räumliche Durchblick unmittelbar mit der geforderten ‚perspicuitas‘, der Prägnanz und Lesbarkeit der Darstellung, verbunden war. Bei Cézanne hingegen überwiegt das Heterogene das Homogene, das Offene das Geschlossene, die Peripherie das Zentrum, die Zerstreuung die Konzentration; und während die klassische Kompositionsform Bild und Betrachter über die Metaphern des ‚Organismus‘ analogisierte, kündigt Cézannes Fleckentextur das Spiegelverhältnis zwischen Betrachterkörper und Bildkörper auf.
In denselben Zusammenhang gehört auch Cézannes vieldiskutierter Bruch mit der zentralperspektivischen Raumordnung. Häufig wird dieser Bruch lediglich im Zusammenhang mit der modernistischen Malerei gesehen, deren Tendenz zur Flächigkeit den Illusionismus des klassischen ‚Bildfensters’ destruiere und die Medialität des Bildes selbstreferentiell herausstelle. Seltener bedacht wird der Umstand, daß das Verschwinden des Fluchtpunktes als innerem Fokus des Bildes zwangsläufig das Verschwinden des Betrachterstandpunktes als äußerem Fokus des Bildes nach sich zieht. An beiden Polen der Sehachse gerät Cézannes Malerei sozusagen ‚out of focus‘, so daß die Beziehung zwischen Bild und Betrachter ebenso unbestimmt wird wie der Zusammenhang zwischen den einzelnen Flecken im Bild.
Das zwischen Ich und Welt vermittelnde Medium war für Cézanne, wie bereits erwähnt, das Licht. Zugleich aber war er sich bewußt, daß dieses im Bild nicht reproduziert, sondern nur durch etwas anderes, durch Farbe, dargestellt werden konnte. Aufgrund dieser Eigenart, ‚durch anderes‘ zu repräsentieren, verschränken Cézannes Flecken Ähnlichkeit und Entstellung, erscheinen sie überdeterminiert und unterbestimmt zugleich. Diesbezüglich besteht eine der Pointen von Cézannes Malerei in der Überlagerung von Sehen und Berühren. Wie schon die Ambivalenz der Begriffe ‚motif‘ und ‚sensation‘ zeigt, war das Gesehene für Cézanne immer zugleich dasjenige, was ihn im Inneren ‚berührte‘. Wurde das Gesehene dann als Bild realisiert, entstand dieses aus lauter einzelnen kleinen ‚Berührungen‘ der Leinwand; tatsächlich sind ‚tache‘/‚Fleck‘ und ‚touche‘/‚Berührung‘ auch etymologisch verwandt. Dieselbe Überblendung zeigt sich in Cézannes Beschreibung seines Sehens. Er wünschte sich, ebenso präzise wahrnehmen zu können wie eine lichtempfindliche fotografische Platte, auf der sich „die ganze Landschaft einschreiben“ sollte. Mit dem Vergleich des eigenen Sehens mit einer fotografischen Apparatur griff er gerade nicht den naheliegenden Vergleich von Auge und Kameraobjektiv auf. Vielmehr parallelisierte er die jeweils ‚dahinter‘ liegenden Ebenen von fotografischer Platte und Gehirn. Dieses sollte sich, so seine Formulierung, mit dem Bild der Dinge „imprägnieren“. Cézannes Beschreibung des eigenen Sehens betont die passive Medialität des künstlerischen Selbst, das zum bloßen Registrator und Vermittler empfangener Kräfte wird. Zugleich läßt eine solche Selbstauffassung jedes reflexive Modell scheitern, ‚sich selbst sehen zu sehen‘. Denn gegenüber der Unmittelbarkeit der Berührung wird jedes ‚sehende‘ Bewußtsein davon zur nachträglichen Rekonstruktion; oder anders formuliert: Das Gehirn sieht nicht.
Indem jeder Farbfleck zugleich ikonisches und indexikalisches Zeichen ist, wird die Relation zwischen der Bildoberfläche und demjenigen, was auf ihr sichtbar wird, zutiefst ambivalent. Einerseits verharren die Bilder in einer Art absoluter Distanz zu den Dingen, die Cézannes Malerei jenen Zug von ‚Unmenschlichkeit‘ verleiht, den Merleau-Ponty an ihr herausstrich (Abb. 6). Zugleich aber drängt dieser unnahbare Grund, der in einem klassischen Gemälde wie demjenigen Lorrains lediglich den lichtvollen Hintergrund des bühnenartigen Raums abgab, immer stärker nach vorne, bis er jeglichen Zwischenraum verdrängt und mit der Bildfläche verschmilzt. Einerseits also entfernen sich die Gegenstände aus dem immer unkörperlicher werdenden Bild, andererseits aber bewegen sich Bild und Gegenstand solange aufeinander zu, bis sie ineinander aufgehen. Die Bildfläche wird zur Membran, wo diese gegenläufigen Bewegungen sich berühren. An Gemälden wie Sous-bois – Chemin du Mas Jolie au Château Noir (Abb. 7), die Ansätze einer zentralperspektivischen Ordnung erkennen lassen, wird diese Ambivalenz besonders augenfällig. Jeder Farbfleck markiert hier zugleich eine Position im Raum und eine Position auf der Bildfläche, wobei beides fortlaufend ins andere umspringt. Im Kontext des Bildes als tiefenräumliche Illusion zeigt sich die ‚tache‘ als Fläche, in der flächigen Ausbreitung der Leinwand indessen als Tiefe. Diese Doppelidentität gewinnen die Flecken deshalb, weil sie sich kaum je verdecken, sondern konsequent nebeneinander gesetzt sind und somit jeweils gleich weit von unserem Auge entfernt scheinen. Die Tiefenerstreckung des Chemin wird zu einem differentiellen Effekt, wobei sich der Raum, den keine einzige Linie erschließt, nie mit einem meßbaren Raum konvergiert. Durch das unruhige Nebeneinander von warmen und kalten, helleren und dunkleren Farbtönen gewinnt er vielmehr eine zeitliche Dimension, die ihn pulsieren – entstehen und wieder schwinden – läßt. Das Bild eröffnet und verdeckt die Tiefe gleichermaßen. Ob es eher ‚hinter‘ dem Raum liegt und diesen aus seinem fleckigen Grund entspringen läßt, oder ob es vielmehr wie ein Schirm ‚vor‘ dem Raum liegt, dessen Licht sich in ihm abzeichnet, bleibt unentscheidbar. Über das Bild rieselt das Licht, dessen Quelle oder Einfall Cézanne niemals malte, sondern das er jeweils über die gesamte Bildfläche zerstreute. Das Sehen ist weder perspektiviert noch fokussiert. Umgekehrt ist im Bild – wie man mit Rilkes Gedicht über den Torso von Belvedere sagen könnte – „keine Stelle, die dich nicht sieht“.
Ein später Brief Cézannes eröffnet eine weitere Dimension der wechselseitigen Kräfte, die auf die zwischen Auge und Sichtbarem liegende Bildfläche einwirken:
„Ich möchte dir sagen“, schreibt er an seinen Sohn, „daß ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, daß bei mir jedoch die Realisierung meiner Empfindungen immer sehr schwierig ist. Ich kann die Intensität, die sich vor meinen Sinnen entfaltet, nicht erreichen, ich besitze diesen großartigen Farbenreichtum nicht, der die Natur beseelt. Hier, am Ufer des Baches, vervielfachen sich die Motive, das gleiche Sujet, unter einem anderen Blickwinkel gesehen, bietet ein Studienobjekt von stärkstem Reiz und von solcher Mannigfaltigkeit, daß ich glaube, mich über Monate beschäftigen zu können, ohne den Platz zu wechseln, indem ich mich bald mehr nach rechts, bald mehr nach links beuge.“
Cézanne wandte seine Aufmerksamkeit von der Registrierung visueller Sensationen und den Phänomenen des Lichts auf den eigenen Körper zurück: auf dessen rhythmische Bewegung und Zeitlichkeit. Unter diesen Voraussetzungen eines dynamisierten Sehens zu malen hieß, dem Bild nicht nur die gegenläufige Verschiebung von Augpunkt und Sehfeld einzutragen, die das Wiegen des Körpers provozierte, sondern zugleich die Empfindung der eigenen Körperbewegung mit derjenigen der ‚beseelten‘ Natur zu verschmelzen – ein bildplastisches Problem, das man sich nicht schwierig genug vorstellen kann. In einem drei Wochen früher geschriebenen Brief, in dem er bereits von Erfahrungen berichtete, die er an demselben Bachufer machte, stellte er dafür eine Maxime auf. Es sei ausschlaggebend, ins Bild „ein Höchstmaß an Wechselbeziehungen hineinzubringen“. Diese Wechselbeziehungen betrafen folglich nicht nur die einzelnen Bildelemente, sondern zugleich das Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem beweglichen Auge des Malers. Zwei Beispiele, an denen der Versuch, beides ineinanderzublenden, besonders gut zu beobachten ist, seien hier herausgegriffen. So führt in Rochers dans la forêt (Abb. 8 ) die starke Konturierung des Felsens im Vordergrund sowie die eigentümliche Überschneidung von Gestein und Baumstamm am linken Bildrand zu einem Effekt, der aus stereometrischen Fotografien bekannt ist: zu einer Räumlichkeit, die eher aus der Verschiebung verschiedener Bildebenen zueinander entsteht als aus einer nachvollziehbaren Tiefenstaffelung der Dinge. Eine andere Variante zeigt das Aquarell eines Blätterwerks (Abb. 9). Die evozierte Bewegtheit läßt sich weder allein auf das Rascheln der Blätter noch auf das Wiegen des Malers reduzieren, sondern hebt beides in einer Bewegtheit des Bildes selbst auf, so als blickten wir durch ein Kaleidoskop, dessen Drehung die Welt in eine immanente Ordnung roter, smaragdgrüner und violetter Facetten überführt.

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Paul Cezanne Kunstproduktion Albrecht Dürer Georg Friedrich Kersting Edouard Manet

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Subjektivität und Medialität bei Cézanne – mit Vorbemerkungen zu Dürer, Kersting und Manet

in: Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, hrsg. von Michael Lüthy und Christoph Menke, Berlin 2006, S. 189-207.

Abschnitt II

Eine der vielen Möglichkeiten, diese Transformationen zu veranschaulichen, bietet der Rekurs auf (Selbst-)Darstellungen des künstlerischen Tuns. Drei Beispiele seien herausgegriffen, von denen das erste in die Anfangszeit künstlerischen Selbstbewußtseins in der frühen Neuzeit führt und das letzte historisch zu Cézannes reflexiver modernistischer Praxis überleitet.
Dürers Holzschnitt des Zeichners der liegenden Frau aus dem Jahr 1525 (Abb. 1) zeigt künstlerische Produktion im Zeichen der Naturnachahmung, zugleich führt er die Technik ebendieser Naturnachahmung anschaulich vor. Nach der Logik von Dürers Graphik entsteht ein Bild in der dreistelligen Relation von Künstler, darzustellendem Objekt und Darstellungsmedium, zu welch letzterem hier nicht nur Zeichengrund und Zeichengerät, sondern auch ein Proportionsraster und ein augenfixierender Stab gehören. Der Darstellungsprozeß hat die Funktion, das Wahrgenommene nach seinen inneren Verhältnissen sowie in seiner Abhängigkeit vom Blickpunkt korrekt wiederzugeben. Dürers Holzschnitt erscheint wie eine Ausbuchstabierung der wirkmächtigen Albertischen Metapher vom Bild als einem offenstehenden Fenster, durch das hindurch wir zu blicken scheinen, wenn wir ein Bild betrachten. Ansicht und Einsicht – die Sichtbarkeit der Dinge, die Klarheit des Sehens und die Erklärbarkeit des Bildprozesses – gehen Hand in Hand. Dürers übersichtlicher, den Ausgangs- und den Zielpunkt der Darstellung symmetrisch ausbreitender Holzschnitt manifestiert jenes frühneuzeitliche Selbstvertrauen in das Gelingen der Repräsentation, das aus dem unmittelbaren Bezug zwischen künstlerischer Qualität, technisch-handwerklicher Fertigkeit und visueller Erkenntnis entsteht.
Mit Kerstings Gemälde von 1812, das Caspar David Friedrich in seinem Dresdner Atelier darstellt (Abb. 2), springen wir in die Frühromantik und damit zugleich ans Ende der Epoche der klassischen Repräsentation, an deren Beginn Dürers Holzstich entstand. Die entscheidende Rolle weist Kersting nicht der Anwendung einer bestimmten Technik zu (obschon sie mit Winkelmaß, Lineal, Skizzenbuch und Malutensilien im Bild repräsentiert ist), sondern den Wirkungen des Lichts, das durch den unabgedeckten Teil des hohen Fensters einfällt. Während es bei Dürer als physikalische Grundbedingung des Sehens sowohl das zu zeichnende Objekt als auch das Blatt des Zeichners ebenmäßig ausleuchtet, verwandelt es bei Kersting das kahle, die Außenwelt ausschließende Ateliergehäuse in einen Raum der Inspiration. Besonders aber fällt das Licht auf die dem Fenster zugewandte Leinwand, die es zu reflektieren und ihrerseits das Gesicht und die Gestalt Friedrichs zu beleuchten scheint – so als male sich das Licht hier selbst und erleuchte diese ‚Selbstabbildung‘ zugleich den Maler als kontemplierenden Zeugen dieses Vorgangs. Die Helle von Friedrichs Gesicht und das identische Blauweiß des Himmels und der Maleraugen provoziert eine weitere Lesart: daß durch den Künstler hindurch das Licht auf die Leinwand ausströme, daß also nicht (nur) das Bild, sondern (auch) der Maler ein Medium der Darstellung sei. Wie auch immer man die Trias von Fenster/Licht, Künstler und Bild strukturiert – in jedem Fall verwandelt sich Dürers durch die beiden großen, tiefliegenden Wandöffnungen eintretendes optisch-physikalisches Licht in ein von ‚oben‘ strömendes Licht der Erleuchtung und Inspiration. Das reflexive Verständnis künstlerischer Subjektivität, das die Kunst als geistige und bewußte Tätigkeit begreift, mischt sich in Kerstings Atelierbild mit einer medialen Auffassung künstlerischer Subjektivität, die ‚Wahrheiten‘ formuliert, die ‚hinter‘ den Willen, das Bewußtsein und die Reflexivität des Künstlers zurückgehen und zugleich über diesen hinausweisen. Folgerichtig stellt ihn Kersting auch nicht im Augenblick des Malens dar, sondern überläßt das Geheimnis der Bildentstehung der offengehaltenen Mitte jener Ellipse, deren Brennpunkte vom Maler und der Leinwand gebildet werden. Dürers positiver Bezug zwischen der Sichtbarkeit der Welt und der Machbarkeit des Bildes wendet sich bei Kersting zum negativen Bezug zwischen der Unsichtbarkeit des Bildes, der hinter Fensterabdeckungen verschwindenden Natur und dem Nicht-Malen des Künstlers. Das Gemälde ‚erzeugt sich‘ im gespannten und zugleich berührungslosen und unbestimmten Dazwischen von Maler und Leinwand, über dem sich, wie von Dürers Proportionsraster gerahmt, die Unendlichkeit und Gestaltlosigkeit des Himmels öffnet. Man könnte versucht sein, in diesem Gegenüber von Künstler und Werk – das die frühromantische Grundfigur der Entgegensetzung von Ich und Welt auf die Ateliersituation zu übertragen scheint – die Veranschaulichung des Hegelschen ‚Selbstbewußtseins‘ zu erkennen, also jenes fortwährenden Prozesses, in dem die Entfremdung als der Fortgang zum Anderen und die Aufhebung der Entfremdung als die Rückkehr zu sich selbst sich wechselseitig ergänzen. Das Gegenüber von Künstler und Werk könnte jedoch auch in der weniger versöhnlichen, der Frühromantik ebenso geläufigen Variante gedeutet werden, daß es die Unhintergehbarkeit und Nicht-Integrierbarkeit ihrer Entgegensetzung demonstriert. So zeigt sich die Ambivalenz des Bezugs von Ich und Welt sowie der Rolle, die hierin der Kunst zukommt, nicht zuletzt an der Eigenart, daß die ästhetisch-religiöse Naturemphase, für die Friedrichs Œuvre steht (und somit auch das Gemälde, in das der Maler sich in Kerstings Gemälde versenkt), mit der Aussperrung der Natur aus dem Atelier einhergeht.
In Edouard Manets Selbstporträt von 1879 (Abb. 3) schließlich werden Subjekt und Medium noch enger geführt. Die beiden Pole von Künstler und Produkt, die in den beiden anderen Bildern nebeneinander angeordnet sind, blendet Manet ineinander, zugleich wird auf jeden Hinweis auf einen umgebenden Atelierraum verzichtet. Diese Engführung resultiert aus dem Umstand, dass es sich, anders als bei Dürer und Kersting, um ein Selbstbildnis handelt. Doch vor allem folgt sie aus der Art und Weise, wie Manet die Situation der Selbstabbildung malerisch umsetzt. Manet war kein Linkshänder, so wie er im Bild erscheint, sondern Rechtshänder, woraus ersichtlich wird, daß er sich seitenverkehrt zeigt. Der Maler malt folglich nicht sich, sondern das, was der Spiegel ihm zeigt. Überlagern sich dadurch Darstellungsgegenstand und Spiegel, so überlagern sich zugleich auch Spiegel und Gemälde, indem Manet es unterläßt, die Spiegeloberfläche von der Gemäldeoberfläche abzuheben, beispielsweise indem er den Spiegelrahmen sichtbar werden ließe. Stattdessen läßt er beide Flächen zusammenfallen, so als handelte es sich bei dem Selbstporträt um einen gemalten – oder: bemalten – Spiegel. Des weiteren thematisiert Manet die Paradoxien, die entstehen, wenn man sich selbst beim Malen malen will. Deutlich wird dies insbesondere an der pinselhaltenden Hand. Die Pinselhiebe, aus denen sie besteht und die hier sichtbarer belassen sind als im übrigen Gemälde, verweisen indexikalisch auf den blitzschnell agierenden Maler, ikonisch hingegen auf jenes rasch sich bewegende Objekt, das Manet im Spiegel beobachtet und malt. Die Vehemenz des Malaktes, die der rohe Pinselduktus anzeigt, ist dabei nur deshalb notwendig, weil sich die Hand so schnell bewegt. Doch auch das Umgekehrte gilt: Die beobachtete Hand bewegt sich nur deshalb so schnell, weil der Maler derart virtuos ans Werk geht. In der Knäuelform der Hand gerinnt diese ‚Verknotung‘ von Subjekt, Medium und Objekt des Bildes zur anschaulichen Gestalt. Dieselbe Spannung zwischen dem Bild als Darstellung und dem Bild als Spur erzeugen die Pinselspitzen, vor allem diejenigen der drei Pinsel in Manets rechter bzw. linker Hand. Deren Abbild scheint jeweils durch einen Selbstabdruck auf der Leinwand entstanden zu sein. Eine andere Facette der Paradoxien, die das Festhalten einer Tätigkeit durch ebendiese Tätigkeit hervorruft, zeigen die Augen des Malers, die im Prozeß des ‚Sich sehen sehen‘ festgehalten sind. Manets Lösung bestand darin, das eine, vom Licht getroffene Auge als aktiven ‚Blick‘, das andere, verschattete indessen als passiv erblicktes ‚Organ‘ zu malen. Am Bild der eigenen Gestalt inszeniert Manet den Übergang von Figuration und Defiguration. Das Sichtbare und das Malbare fallen zusammen und werden gleichzeitig gegeneinandergeführt, als Ein-/Zweiheit von Spiegel und Gemälde, Auge und Hand. Die Grenze der Repräsentation, die Manets Selbstbildnis berührt, ist die Grenze der Repräsentation, die ein Subjekt von sich selbst ausbilden kann.

Abschnitt I
punkt Abschnitt II
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Abschnitt IV
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Paul Cezanne künstlerischer Prozess Subjekt Medium Autonomie der Kunst

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Subjektivität und Medialität bei Cézanne – mit Vorbemerkungen zu Dürer, Kersting und Manet

in: Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, hrsg. von Michael Lüthy und Christoph Menke, Berlin 2006, S. 189-207.

Abschnitt I

Die Auffassung des künstlerischen Prozesses – was in ihm geschieht, worauf er zielt und worin sein Wert besteht – wandelte sich über die Jahrhunderte der westlichen Kunstgeschichte in erheblichem Maße. Einer der dramatischsten Umbrüche ereignete sich zu Beginn der Moderne im späten 18. Jahrhundert, als im Zuge der generellen geistigen und materiellen Umwälzungen auch die sozialen, kulturellen und metaphysischen Referenzrahmen der Kunst aufbrachen. Während die alten Bezugsgrößen schwanden – das Prinzip der Nachahmung, die rhetorische Gliederung der Gattungen und Darstellungsmodi, die Patronats- und Auftragsverhältnisse –, gingen die Künstler auf die Grundlagen ihres Tuns zurück. Zunehmend freigesetzt von ihren tradierten Aufgaben, begannen sie, sich selbst zu erforschen, indem sie ihre Selbst- und Weltwahrnehmung prüften, und über ihre Gestaltungsmedien zu reflektieren. Konkurrierend wurden in der Folge das Subjekt oder aber das Medium als jener letzte Grund vorgeschlagen, auf dem die Kunst basiere. In diesen unterschiedlichen Fundierungen wurde die Autonomie der Kunst jeweils anders ausgelegt. Im einen Fall verstand man sie als Freisetzung des Künstlers von unmittelbaren Vorgaben politischer, religiöser oder weltanschaulicher Art. Dieser stellte, so das neue Selbstverständnis, nicht (mehr) dar, was anderswo vorgegeben war oder wozu er veranlaßt wurde, sondern beanspruchte den Status als selbstbestimmtes Subjekt. Das Kunstwerk, als ‚Ausdruck‘ des Künstlers verstanden, nahm gewissermaßen dessen ‚Gestalt‘ an. Im anderen Fall gründete die Autonomie der Kunst auf der Eigengesetzlichkeit des Werks, dessen Sinnfälligkeit es nicht nur von den anderen wahrnehmbaren Dingen abhob, sondern auch von seinem Autor ablöste. Beide Fundierungen forderten ein je eigenes, neues Beurteilungsprinzip gegenüber den Erzeugnissen der Kunst. Die individuelle Sicht des Künstlers oder aber die Eigenlogik künstlerischer Form sollten nicht nur in ihrer jeweiligen Legitimität anerkannt, sondern zugleich als die eigentlichen Pointen künstlerischer Produktivität begriffen werden.
Die Hoffnungen, auf diese Weise eine solide (Neu-)Begründung der Kunst zu leisten, mußten zwangsläufig unerfüllt bleiben. Zwar beflügelte die Erwartung, der Rückgang auf die Eigenart und die Gesetze des künstlerischen Mediums entdecke der Kunst ein ‚objektives‘ Fundament, viele Künstler insbesondere der klassischen Moderne. Clement Greenbergs Theorie des Modernismus versuchte sogar zu zeigen, daß die Selbstbegründung der Kunst durch die ‚Essentialisierung‘ des jeweils verwendeten Mediums geleistet werden könne. Zugleich aber führte die Autonomisierung der Kunst nicht zuletzt dazu, daß die Künstler ihre Medien selbst wählen konnten, ja, wählen mußten, wodurch sich diese bereits subjektivierten. Viele Künstler der Moderne fanden ihre individuelle Handschrift gerade durch die Wahl eines Mediums, und sei es eines, das Handschriftlichkeit gerade negiert, wie beispielsweise das kubistische papier collé oder der Siebdruck, den Andy Warhol zu seiner ‚Signatur‘ zu machen wußte. Das Subjekt erwies sich als ebenso prekäre Basis der Kunst. Es kann sich nicht unmittelbar entäußern, so als stünde das Hervorgebrachte in unmittelbarer Verbindung mit dem Inneren des Künstlers, dessen Präsenz sich in ihm ausdrückt. Die künstlerische Expression ist vielmehr doppelt kodiert. Das Kunstwerk steht nicht direkt, sondern lediglich metaphorisch für das Selbst des Künstlers ein. Überdies muß es sich einer spezifischen Darstellungsform bedienen, die nie gänzlich subjektiv sein kann, da der Künstler sich nur durch Medien auszudrücken vermag, die ihm äußerlich bleiben: durch Farbe, Pinselstrich usw.
Am Grund der künstlerischen Tätigkeit stoßen wir folglich nicht auf Eines, auf ‚Substanz‘ oder ‚Sein‘, sondern auf einen Dual und den dazwischen sich abspielenden Prozeß: auf die dynamische Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Medium, die sich auf keine der beiden Seiten reduzieren läßt. Beides verbindet sich im künstlerischen Akt, der sich an der Nahtstelle von Medium und schreibendem bzw. sich schreibendem Subjekt bewegt. Das Medium wird subjektiviert und erscheint als anthropomorph besetztes anderes Selbst, das Subjekt hingegen erscheint als Medium, durch das hindurch etwas ‚spricht‘, das insbesondere in der Kunst nicht einfach mit dem (selbst-) bewußten Ich zu verrechnen ist. Subjekt und Medium erweisen sich als ambivalente Schauplätze, die in doppelter Funktion stehen. Sie sind der Ort des Aussagens, d.h. der Ort, an dem etwas ausgesagt wird, und zugleich die Sache der Aussage, mit anderen Worten der eigentliche Inhalt, den das Kunstwerk kommuniziert. Um es bewußt tautologisch zu formulieren: In der Moderne wird die künstlerische Praxis, als das Ineinandergreifen von Subjekt und Medium, zum Fundament künstlerischer Praxis.

punkt Abschnitt I
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Abschnitt III
Abschnitt IV
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Vom Raum in der Fläche des Modernismus

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Vom Raum in der Fläche des Modernismus

in: fRaktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde, hrsg. von Anke Hennig, Brigitte Obermayr und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 63), Wien/München 2006, S. 149-178.
Inhalt:

Kapitel I: Das Bild als Möbiusband zwischen Materialität und Immaterialität

Kapitel II: Negation und Affirmation der Faktur: Delaroche und Degas

Kapitel III: Der Raum im Inneren des Bildes 1: Picassos Collagen

Kapitel IV: Der Raum im Inneren des Bildes 2: Fontana

Kapitel V: Der Schritt vor die Leinwand – und wieder in diese zurück: Rauschenberg

Modern Madonna Drawings. Andy Warhol

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Bodyless Eye, Sightless Mouth – Andy Warhol’s Modern Madonna Drawings

in: Andy Warhol. Modern Madonna, exhibition catalogue Jablonka Galerie, Cologne 1999, p. 5-39. – Translation: Fiona Elliott
Warhol’s pictures thrive on the power of paradox. And paradox is the basis of his art; it is like a revolving door which one effortlessly steps into only to find oneself spun out on the other side. For instance there is the paradoxical relationship of content and form. His work is immensely rich, with a wealth of themes that takes in all the traditional genres of painting, from history paintings to portraits, genre paintings and interiors to landscapes and still lifes. In the context of the 20th century this is both an astonishing and a unique achievement. Over the years Warhol’s art grew into an archive of the most important personalities, food-stuffs, catastrophes, art-works and myths that have been of interest – particularly to the American consciousness – over recent decades. The catastrophe pictures alone, the Disasters, comprise a virtually complete list of violent forms of death, whether accidental or by suicide, poisoning or murder, the atomic bomb or the electric chair. If one also takes into account the hundreds of drawings which accompanied the paintings right from the very outset then the spectrum of Warhol’s work is extended even further. There is scarcely a stone left unturned from industrial production to religious symbolism to various forms of sexuality, so it is hardly surprising to encounter the suckling mothers on show here.
However, while Warhol’s œuvre is universal in its themes, this is in marked contrast to the uniformity of its forms. A Warhol is always instantly recognisable as such – and not just by specialists in the field. Warhol’s epoch-making achievement was the fact that he found a template that ’suited‘ every occasion. His imaginative powers were not directed towards finding a fitting, that is to say, individual form for a situation or a feeling – his output would then have had to be as encyclopaedic in its repertoire of forms as in its contents. Instead his aim was to develop a matrix which – however contradictory this might seem – was equally appropriate for any theme he might choose to portray. Thus Warhol achieved the unthinkable, becoming the impartial chronicler of the closing decades of our century at the same time as putting his own indelible stamp on everything he touched. Although the result of this is that it then becomes impossible to say whether the whole world looks like a Warhol image or whether – which seems more likely – by assimilating everything visible around him the contours of his own personality simply dissolved and ebbed away.
Individual works are equally contradictory. Again and again we encounter the tension that arises from the irreconcilable juxtaposition of sensation and banality, uniqueness and repetition, emotionalism and cold detachment, mere reproduction and inexhaustible creativity. Warhol manages to make a decorative wallpaper pattern using an electric chair as his motif and to turn the image of a public figure like Jackie Kennedy into a mass-product – although not, as one might expect, making anything and everything simply seem equally meaningless but creating quite the opposite effect, namely heightening the essence of a subject in such a way that subsequently our own internal image of certain subjects – Marilyn Monroe, for instance – is today largely determined by Warhol’s pictures.
This process has much in common with the mass media, particularly with television which also presents the riches of this world in one unchanging ‚format‘, the television screen. What appears on the screen seems intrinsically contradictory, unmediated and yet endlessly mediated, ‚realistic‘ yet idiosyncratic, transparent yet opaque. Television also has the capacity to turn the bloodiest events into no more than part of the evening’s entertainment, which nevertheless keeps us on the edge of our seats because they are catapulted right into the comfort of our own homes.
Contradictions of a quite particular kind emerge in the Modern Madonna drawings. For a start there is the unfulfilled promise of the title. These are not images of Mary and the Child Jesus; these are just perfectly ordinary mothers with perfectly ordinary babies. Yet the two levels mingle here. The Christian theme has always also provided a framework for the earthly, profane relationship of a mother to her child. By definition this imbued the ethereal sacred pair with the warmth and proximity of everyday human-ness, which in turn offered a way in for believers. At the same time the exemplary configuration of Mary and Jesus illuminated every relationship of mother and child with a reflection of the sacred. By inviting ‚real‘ mother and child pairs into his studio to be photographed and by using these photos as the basis of his drawings Warhol is only profaning the Christian motif in pursuit of quite the opposite goal, namely using the togetherness of mother and child to evoke in us those mighty ‚archetypal‘ images that colour all our thinking: every mother a Madonna, every child a Christ child. In these drawings Warhol does the very thing that occupied him throughout his life’s work. He explores that floating world where external images and our internal imagination, projection and reality, cliché and archetype, the artificial and the natural merge into one. In this case, that means that the broad cultural theme of ‚mother and child‘ with all its biological, historical, theological, psychological and pictorial depth is condensed into the flat two-dimensionality of an outline without volume or mass on a white, wholly exposed background. In this concentration it becomes impossible to distinguish whether cultural praxis is a heightening of Nature or whether Nature is rather a projection of cultural praxis. Warhol works in the intertext of images where there is no terra firma of ’natural Nature‘ but where everything always already exists as a solidified image – either internal or external – pointing in turn to other images. Thus there are pictures in the series which could be based on advertising photos, where the contentment of mother and child is simply staged for the benefit of the intended target of the advertisement – although with the significant difference that Warhol’s models were not asked to present themselves in this manner but did it completely of their own accord. It is as though they had internalised the relevant stereotypes. Both the protagonists in front of the camera and Warhol behind it are well aware that the naturalness of the scene will be particularly telling if it takes the form of a harmonious, entirely familiar image. To be is to be perceived, and mimicking tried and tested pictorial patterns no doubt heightens the quality of one’s own impact. Warhol himself referred to this blurring of the boundaries between reality and his images: „Everything is sort of artificial, I don’t know where the artificial stops and the real starts.“
But the paradox of the extreme flatness of the forms combined with the ‚depth‘ and multiplicity of the themes and the paradox of complete naturalness combined with perfect pictoriality seem positively peripheral compared to what must be the most striking feature of these drawings. If we look at them as a series it becomes all too evident that following the initial variations on playful and posed togetherness the second half of the series is dominated by one single theme: the child straining towards the mother’s breast, achieving this goal and resting happily in this position. This is not only worthy of mention because Warhol is hereby allowing an erotic, sexual dimension to obtrude which is never more than a muted overtone in traditional pictures of the Madonna: in effect Warhol is transgressing the cultural pictorial code by literally revealing it as a code, as a cipher. The focus on the child at the mother’s breast is above all worthy of attention because here Warhol is dealing with archetypal bodily experiences in a manner that, from the perspective of art as the pictorial embodiment of seeing, could not be more explosive. Warhol’s camera – pure eye, pure vision – is focused on a situation in which seeing becomes blind and the meeting of two bodies shifts into the realm of the wholly tactile and oral, where optical distance gives way to bodily immediacy. This shift is evident not least in the concentrated framing of the child and the breast, which generally partially or entirely forces the mother’s head out of the picture. The child’s eye becomes sightless, the mother’s eye moves to her breast.
In view of this, one last paradox should be taken into account which permeates Warhol’s pictorial world from the outset. It is the simultaneity of maximum distance and non-distance. We do not encounter the things and people in his work in a measurable three-dimensional space but as locationless, floating phenomena, which are both oppressively close and unattainably distant – whether these be the hibiscus blossoms in the Flowers towering up gigantically like walls before us, or an Elvis Presley pointing his pistol at us from out of fathomless silver grey, oder whether it be Warhol himself in his last self-portraits – a head hovering in nocturnal blackness, gazing through us at something nameless. The viewer is confronted with the limitless depths which are the other side of what has so often been referred to as Warhol’s superficiality. Things are poised at an „absolute distance“ as Sartre said of Giacometti’s work, that is to say, at a distance which does not diminish as one approaches but which grows instead. Warhol’s art seems to be born of an obsession with holding the ever-advancing world at bay plus an inherent inability – which his friends talked of – to come close to the world around him, to experience it bodily.
The artistic (not just the motivic) intimacy of these drawings derives from the manner in which a basic rift in the relationship of the person Andy Warhol to the world around him is transposed into a pictorial, in fact iconographic, form. The most immediate encounter, the most basic bodily fulfilment, the security of the child’s mouth at the mother’s breast, becomes an image by means of a process and governed by an aesthetic that could not be more distanced and non-corporeal. First there is the rigid eye of the camera which Warhol uses to relocate the act of seeing from his own body into a piece of technical equipment and which interposes itself between him and his model, then there is the faithful, emotionless copying of the outlines onto the paper, flattening out any three-dimensionality like a pressed flower in a herbarium. In copying the lines, picture for picture, drawing for drawing, it seems as though the artist is spelling out the ungraspable: the possibility of a sightless, purely bodily experience of another human being who nourishes, holds and protects one – an experience that remained inaccessible to Warhol and which he therefore returned to again and again throughout his life with voyeuristic fervour. The insistent focusing on the mother’s breast and the child’s mouth reveals the drive behind this series in which the artist, growing older, draws on the very deepest levels of his own child- hood and life.
„I just know this series is going to be a problem. It’s too strange a thing, mothers and babies and breastfeeding.“

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