Paul Delaroche Edgar Degas

Vom Raum in der Fläche des Modernismus als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.120 KB)

spacer

Vom Raum in der Fläche des Modernismus

in: fRaktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde, hrsg. von Anke Hennig, Brigitte Obermayr und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 63), Wien/München 2006, S. 149-178.

Kapitel II: Negation und Affirmation der Faktur: Delaroche und Degas

Gehen wir jedoch zunächst einen Schritt unmittelbar hinter den Modernismus zurück und betrachten ein Gemälde Paul Delaroches, das 1834 zum Sensationserfolg des Pariser Salons wurde (Abb.1). Es zeigt eine Szene aus der blutigen englischen Geschichte der frühen Neuzeit, nämlich die Vorbereitungen zur Hinrichtung der sechzehnjährigen Jane Grey. Der protestantische König Eduard VI. hatte sie als Erbin eingesetzt, um die katholische Maria Tudor vom Thron fernzuhalten. Dieser gelang es als rechtmäßiger Thronerbin jedoch, die jugendliche Usurpatorin Jane Grey nach wenigen Tagen gefangen zu setzen und 1554 enthaupten zu lassen. Was mich an hier an Delaroches Bild interessiert, ist allerdings nicht dessen Ikonographie, sondern die Faktur – oder vielmehr deren Fehlen. Bei diesem Gemälde ist es kaum sinnvoll, von der Bildoberfläche zu sprechen, da sie vollständig geleugnet wird, um die perfekte Durchsicht in den Raum zu ermöglichen, in dem sich die dargestellte Szene ereignet. Mit diesem Gemälde wurde bewusst ein Beispiel gewählt, an dem die Entmaterialisierung des Bildes qua Oberfläche, die für die französische Salonmalerei nach David und lngres kennzeichnend war, auf pointierte Weise gezeigt werden kann. Denn Delaroches Darstellungparadigma war gar nicht die Malerei, sondern das Theater. Was das Bild zeigt, soll nicht die Illusion wecken, Zeuge des Geschehens selbst zu werden. Es eröffnet dagegen den Blick auf eine Bühnensituation, das heißt auf eine theatrale Aufführung des längst vergangenen Geschehens. Das Bild verdeutlicht dies bis in die Einzelheiten, von der Ausrichtung der Personen auf den Bühnenrand bis zum Treppenaufgang, der die Spielstätte rückwärtig erschließt. Die Orientierung am Theater erklärt die Unglaubwürdigkeit dessen, was das Bild uns zeigt. Der Gefängnisraum im Londoner Tower wirkt zu sauber, die Möbel sind zu neu, die Posen zu sprechend und deren Ausrichtung auf den Betrachter zu ausdrücklich. Diese Überpointierung vollzog Delaroche allerdings sehr bewusst. Sie hat die Aufgabe, die theatrale Doppelnatur des Dargestellten – der Dargestellten als Schauspieler, des Handlungsortes als Bühne hervortreten zu lassen. Am rechten unteren Bildrand wird die wahre Natur des Sichtbaren denn auch buchstäblich aufgedeckt Das zurückgeschlagene Tuch legt die Bühnenbretter frei – und ausgerechnet hier, auf diesen Brettern, signierte der Maler sein Bild. Sein und Schein werden in diesem Gemälde folglich in sehr spezifischer, für die Bildkunst allerdings höchst problematischer Weise miteinander vermittelt. Denn Delaroche verlagert diese Vermittlung vom Medium des Bildes ins Medium des Theaters. Entscheidend ist nicht die Doppelnatur des Bildes als materielle Oberfläche und als immaterielle Durchsicht in einen virtuellen Raum, sondern die theatrale Doppelnatur all dessen, was wir in jenem virtuellen Bildraum sehen. Die ästhetische Grenze, als Übergang vom Faktum zur Fiktion, verschiebt sich, metaphorisch gesprochen, von der Bildoberfläche an den Bühnenrand. Insofern ist es konsequent, dass Delaroche seine Signatur nicht auf die Bildoberfläche, sondern auf die Bühnenbretter setzte, und ebenso konsequent, dass ihn beispielsweise die Gebrüder Goncourt nicht als Maler, sondern als „unnachahmlichen metteur en scène“ priesen. Angesichts dessen wundert es nicht, dass das Gemälde keinerlei Faktur aufweist, sondern Delaroches Ehrgeiz darin bestand, nicht einen einzigen seiner Pinselstriche sichtbar werden zu lassen. Da er das Bild auf die Funktion eines transparenten Durchblicks reduzierte, könnte man sein Verfahren jedoch als ikonoklastisch bezeichnen. Denn was sich vollzieht, ist die Auslöschung des Bildes.
Im Rahmen der Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts stellt die Druckgrafik von Edgar Degas ein ebenso extremes, allerdings gegenteiliges Beispiel dar (Abb. 2 und 3). Degas‘ Drucke entstanden 1892 im Rahmen einer Serie von 21 Landschaftsdrucken, die er, wie er später erzählte, in Erinnerung an eine dreiwöchige Fahrt im offenen Tilbury durch das herbstliche Burgund anfertigte. Er habe während dieser Fahrten unbestimmt hinausgeschaut („je regardais vaguement“). Dies habe ihn auf den Gedanken gebracht, Landschaften zu machen. Was sie zeigten, so Degas weiter, sei weniger ein Seelenzustand als vielmehr ein Augenzustand. Aus Degas‘ Worten erschließt sich die Zwischenposition, die das Bild hier einnimmt, und die es von zwei Seiten her lesbar werden lässt. Wir können es von außen her verstehen, als Bild einer Landschaft, und zugleich von innen her, als bildliches Äquivalent eben jenes Augenzustandes, der Degas zu diesen Drucken bewegte. Das Bild befindet sich gewissermaßen genau dazwischen: an der Stelle, wo beides sich berührt. Dieser doppelten Lesbarkeit des Bildes – Degas selbst bezeichnete die Blätter als „imaginäre Landschaften“ – entsprechen die Ambivalenzen der Bildfaktur. Sie verdanken sich einem sowohl additiven wie subtraktiven Verfahren. Degas trägt deckende Farbe auf, um sie teilweise wieder wegzukratzen, und schafft Formen, um sie mit Lösungsmitteln wieder verfließen zu lassen. Dabei lässt er die Grenze verschwimmen, an der die gestalterischen Eingriffe aufhören und die Eigendynamik der verwendeten Medien beginnt. Wie in Paysage de Bourgogne (Abb. 2) sichtbar wird, verwendet Degas manchmal denselben Farbton in unterschiedlicher Farbkonsistenz. Die Pointe dieses Verfahrens liegt darin, einen Bildkontrast allein als Kontrast in der Faktur zu erzielen. Diesen Fakturkontrast sehen wir jedoch zugleich als Kontrast auf der Ebene des Dargestellten, in diesem Beispiel etwa als das Anstoßen von Ackerfurchen an einen schlammgenässten Abhang. Indem Farbfurchen und Ackerfurchen, Terpentinverflüssigung und Schlammfluss ineinander aufgehen, vollzieht sich ein metonymischer Transfer zwischen zwei Zeichensystemen: zwischen dem fakturalen, indexikalischen, das auf den Malprozess zurückverweist, und dem ikonischen, das auf das Dargestellte hinweist. Diese beiden Bildebenen rückt Degas gleichzeitig und gleichgewichtig in den Blick. Wenn ‚Sehen‘ normalerweise bedeutet, ‚etwas als etwas‘ zu sehen, dann dehnen Degas‘ Landschaften dieses ‚als‘ bis zu dem Punkt, wo es als Vorgang sichtbar wird. Sobald dieser Vorgang bewusst inszeniert wird, beginnen sich – und das zeigen diese Landschaften beispielhaft – optische und taktile Empfindungen zu überlagern.
Degas‘ Vorgehen zerstört jene Durchsichtigkeit des Bildes, die Delaroche zu erreichen suchte. Was seine Landschaften offenbar werden lassen, ist der Doppelcharakter eines Bildes, den Maurice Denis 1890, also zeitgleich zur Entstehung dieser Landschaften, in einer berühmt gewordenen Weise formulierte. Man solle nicht vergessen, so Denis, dass ein Bild, bevor es ein Schlachtpferd, eine nackte Frau oder irgendeine Anekdote darstelle, zunächst einmal eine Oberfläche sei, die von Farben in einer bestimmten Anordnung bedeckt werde. Während Delaroche diese Dialektik des Bildes zwischen Sein und Schein von der Malerei auf die Ebene des Dargestellten verlegt, sind bei Degas Sein und Schein Aspekte ein und derselben Oberfläche, wobei es gerade die Brüche in der Bildfaktur sind, an denen das eine ins andere umschlägt. Äußerste Flachheit und ungreifbare Tiefe gehen unmittelbar auseinander hervor – wobei beim Stichwort „Tiefe“ stets auch an die ungreifbare Tiefe jenes vagen Bewusstseinszustandes zu denken ist, den Degas an sich selbst beschrieb. Ob hier die Kunst materialisiert wird oder sich vielmehr Materialität zum ästhetischen Effekt entmaterialisiert – beispielsweise die rohe Natur sich zur Stimmung verklärt -, bleibt unentscheidbar. Der Bildraum erhält eine zeitliche Dimension, die ihn pulsieren – entstehen und wieder schwinden – lässt.
Das Zusammenfallen von Innen und Außen, Fläche und Tiefe setzt das Bild gleichsam unter Druck. Durch das angewandte technische Verfahren wird dieser Druck zugleich zu einem buchstäblichen. Es handelt sich jeweils um Monotypien, also um Einmaldrucke, und somit um ein paradoxes Druckverfahren, das eine entscheidende Motivation der Druckgrafik, mehrere Abzüge herstellen zu können, gerade nicht kennt: Die Monotypie bleibt ebenso ein Original wie ein Leinwandgemälde. Dass Degas diese Bildtechnik wählte, hat also allein ästhetische Gründe. Zum einen nutzte Degas die sich hier eröffnende Möglichkeit, den Gestaltungsprozess im wörtlichen und übertragenen Sinne flüssig, d.h. flexibel und über lange Zeit veränderbar zu halten. Denn bis er ein Papier auf die Kupferplatte drückte, konnte er die Farbe, die sich mit der Platte nicht verband, immer wieder neu verteilen, bearbeiten oder wegputzen. So sind beispielsweise die weißen Stellen in Paysage (Abb. 3) durch Wegwischen entstandene Auslassungen. Zugleich ermöglichte ihm das Monotypie-Verfahren die Entfaltung jenes metonymischen Spiels zwischen Bild und Naturprozessen, das die Bilder so aussehen lässt, als verdankten sie sich weniger der Tätigkeit des Künstlers als vielmehr einer sich selbst vollziehenden Reproduktion, so als habe sich die Natur in ihnen selbst abgedrückt. Von Darstellung in herkömmlichem Sinn, als einer auf dem distanzierten Sehen gründenden Relationierung von Auge, Motiv und Bild, kann hier kaum mehr gesprochen werden. Unter anderem daraus resultiert der entrückte Charakter dieser späten Arbeiten, die etwas zeigen, das weniger von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen als vielmehr aus einer horizontlosen Untiefe aufzutauchen scheint.

Kapitel I: Das Bild als Möbiusband zwischen Materialität und Immaterialität
punkt Kapitel II: Negation und Affirmation der Faktur: Delaroche und Degas
Pfeil Kapitel III: Der Raum im Inneren des Bildes 1: Picassos Collagen
Kapitel IV: Der Raum im Inneren des Bildes 2: Fontana
Kapitel V: Der Schritt vor die Leinwand – und wieder in diese zurück: Rauschenberg
spacer
Vom Raum in der Fläche des Modernismus als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.120 KB)

Lucio Fontana concetto spaziale Zeichnen Schnitt

Vom Raum in der Fläche des Modernismus als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.120 KB)

spacer

Vom Raum in der Fläche des Modernismus

in: fRaktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde, hrsg. von Anke Hennig, Brigitte Obermayr und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 63), Wien/München 2006, S. 149-178.

Kapitel IV: Der Raum im Inneren des Bildes 2: Fontana

In der Collage wurde zu recht einer der Gründungsakte der Kunst des 20. Jahrhunderts erkannt. Man begriff sie als die bis dahin deutlichste Affirmation jener Einsicht von Maurice Denis, dass das Bild zunächst eine materielle Fläche sei, bevor es eine Darstellung von etwas sein könne. Betont wurde somit hauptsächlich der materielle, die Bildfläche verdinglichende Aspekt: das Moment des Draufklebens, der Schichtung und der Assemblage heterogener Materialien. Seltener gesehen wurde das Moment der Brechung und des Schnittes, welches das Bild der Verdinglichung entzieht, indem es einen schillernden Raum erzeugt, in dem stets etwas fehlt, nicht an seinem Platz ist oder unsichtbar bleibt. An diese Dimension des kubistischen Verfahrens knüpfte ein Künstler an, der in einer Diskussion der modernistischen Dialektik zwischen Materialität und Immaterialität nicht fehlen darf, hier allerdings aus argumentationsökonomischen Gründen bloß genannt werden kann: Marcel Duchamp, der über den Kubismus zu seinen Versuchen einer ‚vierdimensionalen‘ Kunst fand. Stattdessen möchte ich erneut einen Zeitsprung machen und auf zwei ungefähr gleichzeitig, aber völlig unabhängig voneinander arbeitende Künstler der 1950er und l960er Jahre eingehen: auf Lucio Fontana und Robert Rauschenberg.
Fontanas Bilder kommen hier ins Spiel als Radikalisierungen einer Kunst des Schnittes: Während Picassos Schneiden allein den aufgeklebten Zeitungen galt, trifft es nun den Bildträger selbst (Abb. 6 und 7). Die geschlitzten Bilder, die ab 1958 als Fontanas umfangreichste Werkserie entstanden, haben meistens nur zwei Komponenten: die monochrome Fläche des Bildträgers sowie einen oder mehrere Schlitze. Vor der Schlitzung war die Bildfläche ein leerer, unmarkierter Raum, dessen Reinheit die Dreistigkeit des Schnittes noch verstärkt. Dieser bringt die Doppelnatur der Bildfläche zum Vorschein, zugleich materieller Träger und immaterieller Erscheinungsort eines Abwesenden zu sein. Er erreicht dies allerdings dadurch, dass er beides im selben Zuge zerstört: sowohl den Illusionismus der traditionellen Malerei als auch den flachen Bildträger als das Kennzeichen der Moderne.
Fontanas Schlitzen ist dem Ziehen einer Linie vergleichbar, wie die Gegenüberstellung von Fontanas Schlitzaktion und Picassos initialer Liniensetzung auf leerer Leinwand verdeutlichen kann (Abb. 8 und 9). Raum eröffnend sind beide. Bereits die erste Linie, die auf einer Leinwand gezogen wird, zerstört deren Oberfläche und erzeugt die Illusion der dritten Dimension. Denn sie erzeugt Unterscheidungen, beispielsweise zwischen diesseits und jenseits, innen und außen, drunter und drüber. Im Unterschied zu Picasso trägt Fontana jedoch keinerlei Material auf. Vor allem aber bringt sein ‚Zeichnen‘, indem es die Bildfläche durchdringt, genau jene Unterscheidungen zum Einsturz. Innen und außen, vorne und hinten, realer Raum und imaginärer Raum fallen hier in eins.
Oft wurde gesagt, es handle sich bei diesen Bildern um Darstellungen des Unendlichen. Doch streng genommen zeigen Fontanas Bilder nichts – auch nicht die Unendlichkeit, die sich der Darstellung ohnehin entzieht. Der Schlitz hat seine Pointe vielmehr gerade darin, die Darstellungsleistung des Bildes zu liquidieren. Es gibt kein ‚Dahinter‘ das im Bild dargestellt wäre, kein ‚Darunter‘ das sich in der Oberfläche abzeichnete. Sowohl auf wie hinter dem Bild ist buchstäblich nichts. Fontanas Kunstpraxis schlitzt nicht nur die Leinwand, sondern sprengt zugleich die Repräsentation. „Wenn ich ein Bild mit einem Schnitt mache“, sagte er, „will ich kein Bild machen: ich öffne einen Raum, eine neue Dimension […]“. Während die Räumlichkeit eines repräsentierenden Bildes darin besteht, einen virtuellen Raum entstehen zu lassen, der sich jenseits der Bildfläche eröffnet, überführt Fontana die Darstellung von Räumlichkeit in deren performatives Erzeugen. Doch obschon Fontana mit den Schnittbildern von der repräsentierenden Gegenständlichkeit des Frühwerks zu einer performativen Kunstform übergeht, zieht er jene Konsequenz nicht, die vielen Künstlern dieser Zeit geboten scheint, nämlich ganz aus dem Bild auszusteigen und im tatsächlichen Raum installativ oder im Rahmen von Happenings oder Performances tätig zu werden. Fontanas Schnitt bleibt bildimmanent und erzeugt ein Klaffen als Bild. Seine Bildschöpfung als Bildzerstörung bringt ein paradoxes Bild hervor, das etwas zu sehen gibt und doch nichts zeigt. Dessen Pointe besteht darin, Sein und Schein gleichermaßen zu sein. Es handelt sich nicht einfach um ‚Raum‘, sondern um ein Raumkonzept. Die ‚Unendlichkeit‘ wird im Schnitt konkret erschaffen und zugleich als Effekt inszeniert – insbesondere dadurch, dass Fontana hinter die Leinwand eine mattschwarze Gaze spannt, die das Licht schluckt und verhindert, dass die Wand sichtbar wird. Denn dadurch offenbarte sich, dass die Tiefe dieser Unendlichkeit lediglich wenige Millimeter beträgt. Die im Schnitt eröffnete Enttäuschung, dass ‚nichts dahinter’ ist, schirmt Fontana mit einem schwarzen Tuch ab, das erneut ein unsichtbares ‚Dahinter‘ erzeugt. Die Effektivität des Schnitts besteht demzufolge nicht etwa darin, den Schein zu durchbrechen und zum Sein vorzudringen, sondern beides sich gegenseitig negieren zu lassen. Der Schnitt liquidiert den Scheincharakter des Bildes und erneuert ihn im selben Zuge. Die Unendlichkeit ist weder ‚da’ noch dargestellt. Sie entspringt der sowohl realen als auch semantischen ‚Lücke‘ des Schnitts, d.h. sie entsteht qua Ambivalenz, Unbestimmbarkeit und Unsichtbarkeit: als blinder Fleck, der buchstäblich inmitten der Bildoberfläche sitzt, gerahmt von den sich jeweils leicht wölbenden Schnittkanten der zerteilten Leinwand.

Kapitel I: Das Bild als Möbiusband zwischen Materialität und Immaterialität
Kapitel II: Negation und Affirmation der Faktur: Delaroche und Degas
Kapitel III: Der Raum im Inneren des Bildes 1: Picassos Collagen
punkt Kapitel IV: Der Raum im Inneren des Bildes 2: Fontana
Pfeil Kapitel V: Der Schritt vor die Leinwand – und wieder in diese zurück: Rauschenberg
spacer
Vom Raum in der Fläche des Modernismus als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.120 KB)

Pablo Picasso Collagen Kubismus

Vom Raum in der Fläche des Modernismus als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.120 KB)

spacer

Vom Raum in der Fläche des Modernismus

in: fRaktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde, hrsg. von Anke Hennig, Brigitte Obermayr und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 63), Wien/München 2006, S. 149-178.

Kapitel III: Der Raum im Inneren des Bildes 1: Picassos Collagen

Blicken wir von den nachfolgenden Entwicklungen des 20. Jahrhunderts auf die modernistischen Avantgarden des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück, dann stellt sich die immer stärkere Verflächigung des Bildraumes weniger als Endpunkt einer unumkehrbaren Entwicklung dar, so wie es Greenbergs Modernismus-Deutung nahe legt, sondern vielmehr als ein Durchgangsstadium: als jener ‚rite de passage‘, in der Maurice Denis‘ letztlich triviale Einsicht, ein Bild sei zunächst einmal ein Bild, bevor es irgendetwas anderes sein könne, sich schockartig durchsetzt. Diese Einsicht hatte zur Folge, dass die Dialektik des Bildes zwischen Fläche und Tiefe, Faktum und Effekt, Materialität und Sinn gänzlich neu konzipiert und inszeniert werden musste, was zu jener unerhörten Fülle bald spielerischer, bald geradezu wissenschaftlich vorgehender künstlerischer Verfahren führte, die uns in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts begegnet.
Bereits in Degas‘ Monotypien konkurriert die Auffassung des Bildes als Fläche, die den Einblick in einen virtuellen Raum eröffnet, mit der Auffassung als Oberfläche, auf der gewisse künstlerische Operationen vollzogen werden können. Hinsichtlich dessen geht die kubistische Collage einen entscheidenden Schritt weiter (Abb. 4 und 5). Sie bestimmt das Bild nicht nur als Erscheinungsort von Dingen im Raum, sondern zugleich als eine materielle Grundfläche, auf die man etwas kleben kann. Mit ihrem Montageverfahren, das Schnitt und Aneinanderfügung verbindet, lässt die Collage auf ihre Weise Faktur und Fraktur ineinander aufgehen. An den beiden reproduzierten Arbeiten von Picasso, die 1912 und 1913 entstanden, interessieren mich diesbezüglich vor allem die jeweils aufgeklebten Zeitungen. In Gitarre (Abb. 4) schnitt Picasso die Titelseite eines Anzeigenblattes aus Barcelona, El Diluvio, entzwei und klebte die beiden Teile versetzt zueinander auf. Dem Auseinanderziehen der zusammengehörigen Teile entspringt ein klaffender Zwischenraum, der sozusagen aus dem Nichts heraus entsteht. Diesem ungreifbaren Zwischenraum verlieh Picasso überdies Tiefe, indem er zwischen die beiden Zeitungsteile zwei stark kontrastierende Stücke bedruckten Tapetenpapiers klebte, die einmal über, einmal unter das linke Zeitungsstück geschoben wurden. Beide Räume, sowohl das seitliche Aufklaffen als auch die Vertiefung, sind nicht-illusionistisch, d.h. sie lassen sich nicht als zweidimensionale Darstellung einer außerbildlich vorstellbaren räumlichen Situation begreifen. Beim Übereinanderkleben der Papierausschnitte kehrte Picasso an einer Stelle des Bildes das Verhältnis von buchstäblichem und illusioniertem Raum sogar um. Dem gekurvten Ausschnitt des ornamentierten Tapetenpapiers, das die linke Seite der Gitarre vertreten dürfte, fügte er einen Schatten hinzu. Dieser gezeichnete Schatten bezieht sich jedoch nicht auf das Dargestellte: Es handelt sich gerade nicht um den Schattenwurf der dargestellten Gitarre. Vielmehr bezieht er sich auf den buchstäblichen, aber infinitesimalen Raum zwischen den übereinander geklebten Papierstücken, den er auf diese Weise illusionistisch vertieft, so als stünde das obere der beiden Papiere ein wenig von der Bildfläche ab und würfe das Bild einen Schatten auf sich selbst.
Eine andere Variante, realen und fiktiven Raum gegeneinander auszuspielen, realisierte Picasso in einer Arbeit, die den Titel Violine trägt (Abb. 5). Hier schnitt Picasso die Zeitungsseite nicht nur entzwei, um sie anschließend versetzt aufzukleben, sondern drehte überdies deren eine Hälfte um, mit dem Ergebnis, dass wir nun einmal die Vorder- und einmal die Rückseite desselben Zeitungsblattes sehen. Diese Umwendung einer Hälfte zaubert aus der ehedem homogenen Fläche der Zeitungsseite einen dimensionslosen Raum. Darüber hinaus erzeugt sie visuelle Ambiguitäten, die in unserem Zusammenhang signifikant sind. Der linke Zeitungsausschnitt ist als Figur bestimmt: als Violinenkörper mit seiner charakteristischen seitlichen Einbuchtung. Der rechte Zeitungsausschnitt hingegen erscheint als Grund, vor dem sich die andere Hälfte der Violine, die erneut an der seitlichen Einbuchtung kenntlich wird, abzeichnet. Somit wechselt im Übergang von der linken zur rechten Zeitungshälfte deren jeweiliger Referent. Meint deren bräunlicher Ton auf der linken Seite ‚Holz‘ so auf der rechten Seite ‚Verschattung‘. Die Deutung der rechten Zeitungshälfte als Schattenzone entspricht dabei dem von Picasso suggerierten Lichteinfall. Denn dieser erfolgt, wie mehrere gezeichnete Schatten es anzeigen, eindeutig von links. Während nun aber das Figur-Grund-Verhältnis auf der linken Seite der tatsächlichen Schichtung der Collage entspricht, indem die Zeitung, die den Violinenkörper bedeutet, auf den weißen Blattgrund geklebt wurde, kehrt sich rechts das Verhältnis um. Der vor dunklem Hintergrund sich abzeichnende helle Violinenkörper ist nichts anderes als der Bildgrund selbst. Picassos simple, mit Schere und Leimtopf konkret vollzogene Umwendung eines Zeitungsstückes hat folglich weit reichende Konsequenzen. Zum einen schafft sie einen gänzlich immateriellen, nach den Gesetzen der klassischen Geometrie nicht zu beschreibenden Raum. Zum anderen erschüttert sie die Grunddifferenz bildlicher Darstellung, ja sogar der Wahrnehmung selbst: die Differenz von Figur und Grund. Da es sich bei diesen Collagen um Papier-auf-Papier-Arbeiten handelt, d.h. um Arbeiten, bei denen sowohl der Bildgrund als auch die Darstellung aus demselben Material bestehen, liegt es nahe, in Picassos Umgang mit dem Zeitungspapier eine Reflexion auf den Status der Bildfläche zu sehen, die durch die aufgeklebten Schnipsel ebensosehr materialisiert wie zugleich immaterialisiert wird.

Kapitel I: Das Bild als Möbiusband zwischen Materialität und Immaterialität
Kapitel II: Negation und Affirmation der Faktur: Delaroche und Degas
punkt Kapitel III: Der Raum im Inneren des Bildes 1: Picassos Collagen
Pfeil Kapitel IV: Der Raum im Inneren des Bildes 2: Fontana
Kapitel V: Der Schritt vor die Leinwand – und wieder in diese zurück: Rauschenberg
spacer
Vom Raum in der Fläche des Modernismus als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.120 KB)