Andy Warhol. Modern Madonna sehen berühren

Modern Madonna deutsch als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 720 KB)

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Körperloses Auge, blickloser Mund – Andy Warhols Zeichnungsserie Modern Madonna

in: Andy Warhol. Modern Madonna, Katalog Jablonka Galerie, Köln 1999, S. 5-39.
Warhols Bilder leben von der Kraft der Paradoxie. Sie ist das Prinzip einer Kunst, die einer Drehtür gleicht, die man leichtfüßig betritt, um sogleich wieder auf der anderen Seite hinausgeworfen zu werden. Da ist zum Beispiel das paradoxe Verhältnis von Inhalt und Form. Eine fast unübersehbare Themenfülle kennzeichnet das Werk, eine Fülle, die alle traditionellen Gattungen der Malerei umgreift, vom Historienbild über das Portrait, das Genre, das Interieur bis zur Landschaft und zum Stilleben. Das stellt im 20. Jahrhundert eine erstaunliche und einzigartige Leistung dar. Warhols Kunst wächst im Laufe der Jahre zu einem Archiv der wichtigsten Persönlichkeiten, Nahrungsmittel, Katastrophen, Kunstwerke und Mythen heran, die das allgemeine, insbesondere das amerikanische Bewußtsein in den letzten Jahrzehnten beschäftigten. Allein die Gruppe der Katastrophen-Bilder, der Disasters, umfaßt eine nahezu komplette Auflistung gewaltsamer Todesarten, ob durch Unfall oder Suizid, Vergiftung oder Mord, die Atombombe oder den elektrischen Stuhl. Nimmt man schließlich die Hunderten von Zeichnungen hinzu, die die Bilder seit ihren Anfängen begleiteten, dehnt sich die Reichweite seiner Kunst noch einmal erheblich aus. Kaum ein Motiv zwischen industrieller Produktion, religiöser Symbolik und verschiedenen Formen der Sexualität blieb ausgespart, so daß es nicht erstaunt, auch einer Serie von stillenden Müttern zu begegnen, die nun hier zu sehen ist.
Doch mit der thematischen Universalität des Œuvres kontrastiert seine formale Uniformität. Ein Warhol wird augenblicklich, und nicht nur von einem Spezialisten, als solcher erkannt. Warhols epochales Vermögen bestand darin, eine Schablone zu erfinden, die für jede Gelegenheit ‚paßt‘. Seine Imaginationskraft zielte nicht darauf, einem Sachverhalt oder einer Empfindung eine adäquate, d.h. individuelle Form zu verleihen (das Werk müßte dann ein ebenso enzyklopädisches Formenrepertoire aufweisen), sondern eine Matrix zu entwickeln, die, widersprüchlich genug, allen denkbaren Inhalten gleichermaßen angemessen ist. Warhol gelingt damit das Unerhörte, sowohl der unbeteiligte Chronist der späten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts zu sein, wie gleichzeitig allem, was er aufgreift, seinen unverkennbaren Stempel aufzudrücken. Dabei bleibt unentscheidbar, ob die ganze Welt wie Warhol aussieht oder ob sich vielmehr durch die Einverleibung von allem Sichtbaren die Konturen seiner Persönlichkeit aufgelöst haben.
Auch das einzelne Werk wird duch seine Widersprüchlichkeit bestimmt. Wiederkehrend begegnen wir der unaufhebbaren Spannung zwischen Sensation und Banalität, Einmaligkeit und Repetition, Emotionalität und desinteressierter Kälte, bloßer Reproduktion und unerschöpflicher Kreativität. Warhol vermag aus dem Motiv des elektrischen Stuhls eine dekorative Tapete zu fertigen und herausragende Erscheinungen wie Jackie Kennedy zur Massenware zu vervielfältigen, jedoch nicht, wie man meinen könnte, mit dem Effekt, die Indifferenz von allem und jedem vorzuführen, sondern mit dem gegenteiligen Ergebnis, die Prägnanz des Gezeigten so zu steigern, daß unser inneres Bild davon, z.B. die Vorstellung Marilyn Monroes, heute maßgeblich durch Warhols Bildreihen bestimmt wird.
Dabei handelt es sich um Phänomene, die für die Massenmedien, insbesondere für das Fernsehen, bezeichnend sind. Auch das Fernsehen präsentiert die Fülle der Welt in einem einzigen, immergleichen ‚Format‘, dem Bildschirm. Was hier erscheint, wirkt gespalten, ist zugleich unvermittelt und unendlich vermittelt, ‚realistisch‘ und eigengesetzlich, transparent und opak. Das Fernsehen verkehrt auch das blutigste Geschehen in ein bloßes Stimulans der Abendunterhaltung , das uns gleichwohl in Atem hält, da es uns direkt in die Mitte des geschützten Heims katapultiert wird.
Widersprüchen wiederum eigener Art begegnen wir in der Zeichnungsserie Modern Madonna. Da ist zunächst das uneingelöste Versprechen des Titels. Es sind nicht Maria und der Jesusknabe, die hier erscheinen, sondern gewöhnliche Mütter mit ihren gewöhnlichen Kindern. Doch die Ebenen durchdringen sich. Das christliche Thema bot stets auch die Gelegenheit, die irdisch-profane Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind zu zeigen. Das garantierte dem heilig entrückten Paar zugleich die Wärme und Nähe des Allgemeinmenschlichen, das die Brücke zu den Gläubigen schlug. Gleichzeitig führte das Exemplarische der Konstellation von Maria und Jesus dazu, in jeder Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind den Widerschein des Sakralen glänzen zu sehen. Wenn nun Warhol ‚wirkliche‘ Mutter-Kind-Paare in sein Studio holt, um sie zu fotografieren und diese Fotos zur Basis seiner Zeichnungen zu machen, dann profanisiert er das christliche Motiv nur, um das umgekehrte Ziel zu verfolgen, nämlich in jedem solchen Zusammensein von Mutter und Kind die mächtigen, unsere Vorstellung prägenden ‚Über-Bilder‘ aufscheinen zu lassen: jede Mutter eine Madonna, jedes Kind ein Jesuskind. Warhol vollzieht hier das, was ihn ein Lebenswerk lang beschäftigte. Er erkundet den schwebenden Ort, wo äußere Bilder und innere Vorstellungswelt, Projektion und Wirklichkeit, Klischee und Archetypus, Künstlichkeit und Natürlichkeit verschmelzen. Das heißt in unserem Fall, daß das weite kulturelle Feld ‚Mutter und Kind‘ mit seiner biologischen, historischen, theologischen, psychologischen und bildnerischen Tiefe auf die flache Zweidimensionalität eines volumen- und körperlosen Umrißstrichs auf weißem, nie verdeckten Grund zusammengeschoben wird. In dieser Komprimierung wird unentscheidbar, ob nun die Kultur eine Überhöhung der Natur oder vielmehr die Natur eine Projektion der Kultur sei. Warhol arbeitet im Intertext der Bilder, wo es den sicheren Grund einer ’natürlichen Natur‘ nicht gibt, sondern alles immer schon als ein geronnenes – inneres oder äußeres – Bild existiert, das wiederum auf andere Bilder verweist. Innerhalb der Serie sind so Bilder anzutreffen, die Nachzeichnungen von Reklamefotos sein könnten, in denen das Mutter-Kind-Glück eine reine Inszenierung für die Adressaten der Werbebotschaft darstellt – allerdings mit dem signifikanten Unterschied, daß Warhols Modelle zu diesem Gestus der Selbstinszenierung nicht aufgefordert wurden, sondern ihn von sich aus vollzogen. Sie haben diese Stereotypen gleichsam internalisiert. Sowohl die Protagonisten vor der Kamera wie Warhol hinter ihr sind sich bewußt, daß die Natürlichkeit der Szene dann besonders prägnant sein wird, wenn sie ein stimmiges und vertrautes Bild ergibt. Sein ist gleich Wahrgenommenwerden, und die Mimikry eingefahrener Bildmuster erhöht die eigene Erscheinungsqualität zweifellos. „Everything is sort of artificial, I don’t know where the artificial stops and the real starts“, so beschreibt Warhol selbst das Verschwimmen der Grenzen von Wirklichkeit und Bild.
Doch die Paradoxien von extremer Flächigkeit der Form und ‚Tiefe‘ und Vielschichtigkeit des Themas sowie von größter Natürlichkeit als perfektester Bildhaftigkeit erscheinen geradezu peripher im Vergleich mit dem wohl auffallendsten Merkmal dieser Zeichnungen. Betrachten wir sie als Serie, springt ins Auge, wie nach einer anfänglichen Variaton über spielerisches oder posierendes Zusammensein in ihrer zweiten Hälfte nur noch ein einziges Thema dominiert: das Streben des Kindes nach der Mutterbrust, sowie die Ankunft und das glückliche Verweilen an dortiger Stelle. Das verdient nicht nur Beachtung, weil Warhol damit die erotisch-sexuelle Dimension durchbrechen läßt, die in der Tradition der Madonnenbilder stets nur verdeckt anklingen durfte, er also den kulturellen Bildcode überschreitet, indem er ihn als Code im wörtlichen Sinne, als Verschlüsselung, enthüllt. Diese Fokussierung ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil es hier auf einmal um körperliche Urerfahrungen geht, die in der Perspektive der Kunst als der bildnerischen Umformung des Sehens brisanter nicht sein könnten. Warhols Kamera richtet sich, ganz Auge, ganz Visualität, auf eine Situation, in der das Sehen blind wird und sich die Begegnung der Körper ganz ins Feld des taktilen und oralen verlagert, wo also jegliche optische Distanz der körperlichen Unmittelbarkeit weicht. Diese Verlagerung manifestiert sich nicht zuletzt an der Konzentration des Bildausschnitts auf Kind und Brust, die in den meisten Fällen den Kopf der Mutter teilweise oder ganz aus dem Bild verdrängt. Das Kinderauge wird blicklos, das Mutterauge wandert in ihre Brust.
Angesichts dessen soll von einem letzten Paradox die Rede sein, das Warhols Bildwelt von Anbeginn an durchzieht. Es ist das Zugleich von maximaler Distanz und Distanzlosigkeit. Die Dinge und Menschen begegnen uns in seinem Werk nicht im meßbaren dreidimensionalen Raum, sondern als ortlos flottierende Phänomene, die sowohl bedrängend nah wie ungreifbar fern sind – ob das nun, wie in den Flowers, Hibiskusblüten sind, die riesengroß und wandartig vor uns aufragen, oder ein Elvis Presley, der aus einem bodenlosen Silbergrau heraus seine Pistole auf uns richtet, oder schließlich Warhol selbst, der in seinen letzten Selbstportraits zum schwebenden Kopf wird, der in nächtlichem Schwarz seinen erschrockenen Blick durch uns hindurch auf etwas Namenloses richtet. Der Betrachter sieht sich hier Untiefen gegenüber, die die Kehrseite von Warhols oft angemerkter ‚Oberflächlichkeit‘ bilden. Alles verharrt in „absoluter Distanz“, wie Sartre über Giacometti gesagt hat, also in einer Distanz, die sich beim Näherkommen nicht vermindert, sondern im Gegenteil sogar wächst. Warhols Kunst scheint aus der Obsession geboren, die herandrängende Welt in Distanz zu rücken, und gleichzeitig aus einem ursprünglichen Mangel, von dem seine Freunde berichten, nämlich der Unfähigkeit zur Nähe, zur körperlichen Begegnung mit seiner Umwelt.
Die künstlerische (nicht allein die motivische) Intimität dieser Zeichnungen liegt in der Art und Weise, wie hier ein Grundkonflikt im Weltzugang des Menschen Andy Warhol in eine bildmäßige, ja ikonographische Form gebracht wurde. Die unmittelbarste Begegnung, die primärste körperliche Befriedigung, die Geborgenheit des Kindermundes an der Mutterbrust, wird ins Bild gesetzt mit einem Verfahren und einer Ästhetik, die distanzierter und unkörperlicher nicht sein könnten: das starre Auge der Kamera zunächst, mit dem Warhol sein Sehen aus dem Körper in einen Apparat auslagert, der sich zwischen ihn und seine Modelle schiebt, dann das getreuliche, emotionslose Kopieren der Umrisse auf das Papier, wobei jegliche Fülle des Motivs flachgepreßt wird wie eine Blume im Herbarium. Das Nachfahren der Linien, Bild für Bild, Zeichnung für Zeichnung, erscheint wie ein immer neues Nachbuchstabieren des Unfaßbaren: der Möglichkeit eines blicklosen, rein körperlichen Erfassens des Gegenübers, das einen nährt, hält und schützt – ein Erfassen, das Warhol verschlossen blieb und das er gerade deshalb mit voyeuristischem Furor sein Leben lang umkreiste. In der insistierenden Fokussierung auf Mutterbrust und Kindermund zeigt sich die Triebkraft dieser Serie, in der der älter werdende Künstler an den kindlichen Tiefenschichten seiner Vita schürft. „I just know this series is going to be a problem. It’s too strange a thing, mothers and babies and breastfeeding.“

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Edgar Degas. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten

Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.978 KB)

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Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Edgar Degas’ Werkprozess

in: Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis. Gottfried Boehm zum 60. Geburtstag, hrsg. von Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt und Gundolf Winter, Berlin 2005, S. 35-51.
Inhalt:

Kapitel I: Einleitung

Kapitel II: „Le vague“

Kapitel III: Bild und Bewegung

Kapitel IV: Sehen und Berühren

Kapitel V: Die Metonymie des künstlerischen Aktes

Edgar Degas Wiederholung Serialität Picasso

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Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Edgar Degas’ Werkprozess

in: Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis. Gottfried Boehm zum 60. Geburtstag, hrsg. von Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt und Gundolf Winter, Berlin 2005, S. 35-51.

Kapitel V: Die Metonymie des künstlerischen Aktes

Einmal auf diese Korrespondenz zwischen gezeigter Tätigkeit und künstlerischem Tun aufmerksam geworden, lässt sie sich, in jeweils unterschiedlicher Ausprägung, auch bei den meisten anderen Sujets entdecken. Am Tanz fasziniert Degas nicht nur jene von Valéry beschriebene raumzeitliche Ornamentik, die ihm Anlass für die Versuche bietet, Linie und Bewegung zu vereinigen. Der Künstler der zehn-, ja hundertfachen Wiederholung derselben zeichnerischen Geste spiegelt sich zugleich in der rigorosen Disziplin der Tänzerinnen, deren repetitives Üben von Haltungen und Schrittfolgen und deren Bereitschaft, ihr Selbst in der Technik zum Verschwinden zu bringen, die scheinbare Mühelosigkeit und formale Abstraktheit des Tanzes erst ermöglichen. Es dürfte also kein Zufall sein, dass unter den Tanzbildern die Darstellungen trainierender Ballerinen die weitaus umfangreichste Gruppe bilden. Eine andere Variante jener Korrespondenz finden wir bei den Wäscherinnen, beispielsweise den Blanchisseuses portant du linge von 1878-1879. Das blendend weiße Leinen, das sie in ihren großen Körben tragen, sieht aus wie pure Farbe, die zugleich daraus herauszufließen scheint, um sich über eine Leinwand zu verteilen, die wie eine Mauer erscheint, die gerade mit breiten Pinselstrichen geweißt wird. In wiederum anderer Weise zeigt sie sich bei der Repasseuse von 1873, bei dem Degas das zu bügelnde Textil in heftigen Pinselstrichen aufträgt, deren Breite und Ausrichtung dem Bügeleisen und seiner Bewegung entsprechen. Degas hält nicht nur große Stücke auf die Sondersprache seines Metiers, sondern interessiert sich genauso für die speziellen Ausdrücke der Berufe, die er darstellt. So erinnert sich Edmond de Goncourt daran, wie Degas seine Wäscherinnen und Büglerinnenbilder vorführt und dabei in deren Tätigkeit eintaucht, indem er „ihre Sprache spricht und uns fachmännisch den pressenden Bügeleisenstoß, den kreisenden Bügeleisenstoß usw. erklärt“.
In den 1890er Jahren entwickelt Degas zwei Methoden, die ihm das Weiterarbeiten an seinen Motiven erleichtern und zu einer spezifischen Form seriellen Arbeitens führen. Er stellt Konterabdrucke seiner Kohlezeichnungen und Pastelle her, indem er sie auf angefeuchtetes schweres Papier drückt, oder paust die Umrisse durch dünnes Pauspapier durch. Danach arbeitet er an diesen Kopien weiter, verändert, ergänzt und kombiniert sie, um davon gegebenenfalls erneut Abklatsche oder Pausen herzustellen, usw. Auf diese Weise entstehen zahlreichen Gruppen beinahe identischer, seitenverkehrter oder ineinander montierter Blätter, deren einzelne Exemplare keine Entwürfe im Hinblick auf eine endgültige Formulierung sind, sondern Stationen einer offenen Bilderfolge, die sich qua Berührung fortpflanzt. Dasselbe Phänomen wird erneut beim späten Picasso anzutreffen sein, der bei seiner obsessiven Wiederholung gewisser Sujets teilweise ebenfalls mit Durchpausverfahren arbeitet. Picasso kommentiert sein Tun mit Worten, die wohl auch auf Degas zutreffen dürften. Was ihn interessiere, sei die Bewegung des Malens, das dramatische Vorstoßen von einem Anblick zum nächsten, auch wenn dieser Vorstoß nicht bis zum Ende geführt werde. Er habe den Punkt erreicht, so Picasso weiter, wo ihn die Bewegung seines Denkens mehr beschäftige als sein Denken selbst.
In den letzten beiden Jahrzehnten seiner künstlerischen Tätigkeit gewinnt Degas Bildproduktion den Zug einer sich selbst vollziehenden Reproduktion. Sie wird zu einem immanenten Prozess, von dem die Außenwelt und deren Wahrnehmung zunehmend ausgeschlossen bleiben. Von Darstellung in herkömmlichem Sinn – als einer auf dem Sehen gründenden Abbildbeziehung von Modell und Bild – kann hier kaum mehr gesprochen werden.Unter anderem daraus resultiert der entrückte, traumbildartige Charakter der späten Arbeiten, die etwas zeigen, das weniger von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen als vielmehr aus einer horizontlosen Untiefe aufzutauchen scheint. Gleichzeitig geht Degas immer stärker dazu über, nicht an neuen Werken zu arbeiten, sondern frühere Bilder oder Plastiken zu retouchieren (wörtlich: wieder zu berühren), womit die künstlerische Arbeit vollends zirkulär wird. Bei diesen Überarbeitungen gehen Schöpfung und Zerstörung Hand in Hand. Als das Atelier nach Degas‘ Tod inventarisiert wird, findet man nicht nur zahlreiche durch Übermalungen fast unkenntlich gewordene Bilder, sondern auch hunderte von Skulpturenteilen, die über die Etagen des Hauses verteilt sind. Die Darstellung jener eigengesetzlichen, von allen zeitlichen, räumlichen und situativen Bedingtheiten freigesetzten Bewegungsformen, die Degas‘ Spätwerk umkreist, wird von der immanenten und zirkulären Bewegung des künstlerischen Tuns bis zu dem Punkt überformt, wo es zu einer Implosion kommt, die das Werk vernichtet.
In Degas‘ Werkprozess tritt ein metonymischer Zug heraus, der mit dem in Beziehung zu stehen scheint, was die Psychoanalyse als Metonymie des Begehrens beschreibt. Der Künstler, der die tatsächliche Berührung mit einem anderen Körper offensichtlich kaum erträgt, überträgt sie in den künstlerischen Prozess. Dinge und Materialien kommunizieren miteinander und stehen füreinander ein. In Haaren erkennt er den schimmernden Glanz polierten Holzes, in Kleidungsstücken Körper, in Steinen ein Schulterblatt und in der Haut eine Landschaft. Dabei sei es besonders die Farbe, so Degas, die das Lebende, das Tote und das Vegetierende miteinander verbinde. Wenn es eine Zäsur in seinem Œuvre gibt, dann vielleicht jene tiefe psychische Krise in der Mitte der 1880er Jahre, wo er spürt, dass in ihm, wie er in einem Brief formuliert, eine Türe zugefallen sei. Er fühlt sich alt und sieht einem einsamen, dauerhaft zölibatären Leben entgegen. Angesichts von lauter Projekten, die er ins Nichts laufen sieht, glaubt er den Faden auch in künstlerischer Hinsicht verloren zu haben.
„Wo sind die Zeiten“, klagt er in einem anderen dieser niedergeschlagenen Briefe, „in denen ich mich für stark hielt? Als ich voller Logik und voller Pläne war? Ich werde immer stärker abrutschen und hinabrollen, ohne zu wissen, wohin, eingehüllt in viele schlechte Pastelle wie in Packpapier.“
Doch dann scheint es Degas zu gelingen, eben jenes Eingehülltsein in die eigene Kunst als die ihm gemäße Quelle künstlerischer Energie zu begreifen. In dem Augenblick, wo Kunst und Leben auseinander zu laufen beginnen, investiert er sein Begehren ausschließlich in die Kunst. Gleichzeitig zieht er sich mit einer Entschiedenheit von der Welt zurück, welche die Zeitgenossen irritiert. Sie erklären sie mit einer Misanthropie, die Degas zwar wie ein Schutzschild vor sich her trägt, die aber in seinen Bildern und Plastiken nicht wiederzufinden ist, selbst wenn dies gelegentlich behauptet wird. So steht die Klage des alternden Degas, in seinen „Packpapieren“ zu verschwinden, am Beginn der Zeit, in der seine eindringlichsten Arbeiten entstehen.

Kapitel I: Einleitung
Kapitel II: „Le vague“
Kapitel III: Bild und Bewegung
Kapitel IV: Sehen und Berühren
punkt Kapitel V: Die Metonymie des künstlerischen Aktes
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Edgar Degas Moderne Berührung Technik

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Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Edgar Degas’ Werkprozess

in: Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis. Gottfried Boehm zum 60. Geburtstag, hrsg. von Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt und Gundolf Winter, Berlin 2005, S. 35-51.

Kapitel IV: Sehen und Berühren

Aus bildgeschichtlicher Perspektive ist Degas eine schwierige und widersprüchliche Figur. Er lässt sich kaum in jene klassische Verlaufsgeschichte der Modeme integrieren, die, mit reicher Vorgeschichte in Klassizismus, Romantik und Realismus, vom Impressionismus ausgehend über Cézanne und den Kubismus die ungegenständliche Kunst des 20. Jahrhunderts entstehen sieht. Degas ordnet sich keiner dieser Strömungen zu, allerdings weniger, weil er ein gänzlicher Außenseiter wäre, sondern weil er sie sämtlich durchquert, ohne sich veranlasst zu sehen, zwischen ihnen zu wählen. Wenn man jene Entwicklung überdies mit Clement Greenberg als zunehmende Eliminierung der dritten Dimension zugunsten der „reinen Sichtbarkeit“ des Bildes zu begreifen versucht, fügt sich Degas dieser Entwicklung allein schon wegen seiner um den Körper kreisenden Kunst nicht ein. Degas erweist sich viel eher als zentrale Figur einer anderen Geschichte der Moderne: der Geschichte einer Kunst, die nicht allein auf der visuellen Ähnlichkeit zwischen Welt und Bild beruht, sondern zumindest ebenso sehr auf einem Darstellungsprozess als materielle Berührung. In dieser Geschichte entfernt sich der dargestellte Gegenstand nicht aus dem immer abstrakter und unkörperlicher werdenden Bild, sondern Bild und Gegenstand bewegen sich umgekehrt aufeinander zu, bis es zum Zusammenstoß und zur Verschmelzung kommt. Der Maler seinerseits tritt immer näher an die Leinwand heran, so als verspürte er den Drang, ins Bild hineinzusteigen. Die Bildfläche wird zur Membran, wo beide Bewegungen aufeinander treffen und sich berühren. Körperlichkeit wird verschoben, übertragen und ausgetauscht. Dabei kreuzen sich Exkorporation und Inkorporation. Reale Körper werden ins Bild entkörperlicht, im Gegenzug verkörpert sich das Bild.
Bei Degas manifestiert sich die Darstellung als Berührung und Verkörperung auf ganz unterschiedlichen Ebenen, die hier jeweils nur angetippt werden können. Auf eine der offensichtlichsten kann hier sogar lediglich hingewiesen werden: auf den produktiven Wettstreit zwischen Bild und Plastik, die sich gegenseitig inspirieren und wechselseitig auseinander hervorgehen. Bleiben wir bei den Bildern, so sei zunächst das Motiv der Selbstberührung der Figuren angesprochen (Farbabb. 6). Auffällig oft werden die Tänzerinnen beim Zurechtzupfen ihres Kostüms, dem Befestigen einer Haarspange oder beim Binden ihrer Schuhe gezeigt, so dass Sehen und Berühren, Blickrichtung und Geste sich treffen. Stellt man sich überdies den Künstler vor, wie er genau diesen innerbildlichen Berührungspunkt zeichnet, also seinerseits Blick und Hand an jene Stelle lenkt, dann sehen wir eine Konstellation entstehen, in der nicht nur die Hände des Künstlers und der Ballerina sich wechselseitig wiederholen, sondern das Zeichnen mit dem Gezeichneten zusammenfällt.
Im Unterschied zu den Tänzerinnen liegt die Selbstberührung bei den Badenden sozusagen in der Natur der Sache. Gleichwohl ist bemerkenswert, wie häufig Degas Frauen zeigt, die sich trocknen (Abb. 3). Sie tun das mit Tüchern, die in Materialität und Textur den Wand- und Vorhangstoffen stark angenähert sind. Damit beginnt zwischen der Grundfläche des Bildes und den Wand- und Vorhangstoffen einerseits, zwischen den Wand- und Vorhangstoffen und den Badetüchern andererseits ein metonymisches Spiel. Degas scheint den Bildraum nur zu vertiefen, um ihn wieder an die Oberfläche des Bildes zurückkehren zu lassen und dabei Bild und Körper miteinander zu verflechten. Überspitzt könnte man sagen, die Figur trockne sich mit dem Bild selbst ab.
Die Überschneidung von Visualität und Taktilität zeigt sich weiterhin auf der Ebene der malerischen oder zeichnerischen Ausführung der Bilder. Der Darstellungsprozess hinterlässt eigensinnige Flecken und Kratzer, durch die jenes bereits früher beschriebene Formlose auftaucht, das die Form angreift und die Transparenz des Bildes trübt. Die heftigen Schraffuren auf dem Rücken der Frau (Abb. 3) sind teilweise Glanzlichter, die dem Körper Plastizität verleihen und dem Rücken gleichsam einen „Blick“ einpflanzen. Teilweise handelt es sich aber auch, etwa beim linken Schulterblatt, um Strichspuren, die eher die Bildoberfläche als den Körper markieren. Solche Stellen – zu denen der orangefarbene, gegenständlich nicht zu fassende Fleck unter dem rechten Oberarm hinzuzählen wäre – sind paradoxe Phänomene, da sie dem Dargestellten äußerlich bleiben, ja dessen Kohärenz in Frage stellen, als indexikalische Spuren des Künstlers jedoch die unmittelbarsten, sozusagen innerlichsten Stellen der Bilder sind. Sie haben einen ähnlich paradoxen Effekt wie bei der Femme au tub (Farbabb. 5) die plötzlich auftretende Unförmigkeit eines Beins, das sich aus dem anatomischen Zusammenhang löst und zu verfließen beginnt, dadurch aber umso fleischiger wirkt. Somit schillern die Markierungen, Schraffuren und Tupfen zwischen zwei bei Degas stets miteinander konkurrierenden Sinnen. Als Träger des Lichts verweisen sie auf den Sehsinn, als Fleck im Bild hingegen auf den Tastsinn.
Degas pflegt einen höchst eigensinnigen Umgang mit den bildnerischen Techniken. So setzt er bei den Pastellen die einzelnen Farbstriche roh nebeneinander, ohne sie mit einem Tuch oder einem Lederlappen zur homogenen Oberfläche zu glätten, die traditionell als besonderer Reiz dieser Technik gilt. Er schätzt die Direktheit des Mediums: die Möglichkeit, die Farbe in Gestalt der Pastellkreide in Händen zu halten, sowie Farbe und Linie mit einem einzigen Strich setzen zu können. Der Auftrag fast reinen Pigments lässt zudem eine Oberfläche entstehen, die derjenigen von Haut und Textilien, die Degas bevorzugt darstellt, besonders nahe kommt. Die roh schraffierende Pastelltechnik führt auf der einen Seite dazu, das Malen als „Darstellung“ und das Malen als „Bedecken der Bildfläche“ auseinandertreten, ja in Konflikt miteinander geraten zu lassen. Indem Degas‘ Pastelltechnik jedoch den Charakter des Färbens und Einreibens annimmt, so wie man Textilien färbt oder die Haut pudert, beginnen andererseits Farbmaterie und dargestellte Stofflichkeit, gezeigte Tätigkeit und zeichnerisches Handwerk ineinander zu fließen. Letzteres befördert Degas durch seine halb amateurwissenschaftlichen, halb alchemistischen Experimente mit den bildnerischen Verfahren, die auch der Pastelltechnik gelten. Er modifiziert diese, als wolle er sein Atelier in jene Badestube verwandeln, die er darstellt. Um weichere und mattere, aber unvermindert leuchtkräftige Töne zu erreichen, wäscht er die Pastellkreiden mehrmals in Wasser und legt sie anschließend zum Trocknen in die Sonne. Oder er mischt die wasserlöslichen Pastelle mit Glyzerin und Soda, um auf diese Weise eine „Pastell-Seife“, wie er es nennt, zu erhalten. Schließlich entwickelt er ein Verfahren, Wasserdampf über die Bilder zu blasen, wobei eine geringere Bedampfung die Farbpartikel zu einem aquarellartigen, lasurähnlichen Film auflöst, eine stärkere Bedampfung die Farbe hingegen zu einer Creme verdickt, die er mit den Fingern verreiben kann. Indem er auf diese letztere Weise vor allem die Hautpartien behandelt, scheinen Malerei und Körperpflege tatsächlich ineinander aufgehen zu wollen.

Kapitel I: Einleitung
Kapitel II: „Le vague“
Kapitel III: Bild und Bewegung
punkt Kapitel IV: Sehen und Berühren
Edgar Degas - Pfeil Kapitel V: Die Metonymie des künstlerischen Aktes
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Edgar Degas Körper Bewegung Ornament

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Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Edgar Degas’ Werkprozess

in: Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis. Gottfried Boehm zum 60. Geburtstag, hrsg. von Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt und Gundolf Winter, Berlin 2005, S. 35-51.

Kapitel III: Bild und Bewegung

Indem Degas so nahe ans Modell herantritt, unterschreitet er jenen Abstand zwischen Augpunkt und Objekt, den der junge Künstler noch für unabdingbar hielt, um einen Körper zeichnerisch erfassen zu können. Aus dieser Annäherung folgt, dass der Raum den Figuren nicht mehr vorgängig ist, so wie es im frühen Bild der Classe de danse (Abb. 1) der Fall ist. Die gravitätischen Körper dominieren jetzt das gesamte Bildfeld, dessen Mitte sie besetzen und dessen vektorielle Kräfte sie bestimmen, womit es Degas gelingt, Körperbewegung und Bildkomposition wechselseitig auseinander hervorgehen zu lassen. Der umgebende Raum hingegen bleibt eigentümlich amorph, nicht zuletzt deshalb, weil die Körper, zusammen mit den Tüchern, mit denen sie hantieren, die für die Raumorientierung wichtigen Stellen wie Zimmerecken oder Raumkanten verdecken.
Die Annäherung hat weiterhin zur Konsequenz, dass die Bilder meistens etwas zeigen, das von einem einzigen Blickpunkt aus gar nicht zu erfassen ist, sondern vielmehr verschiedene Blickrichtungen eines dynamisierten Sehens ineinander blendet. Im Pastell einer Frau in der Badeschüssel (Farbabb. 5), das Degas auf der achten Impressionisten-Ausstellung 1886 ausstellt, scheint der Augpunkt des Betrachters sowohl einer vertikalen wie einer horizontalen Drift unterworfen. Die Badeschüssel ist eindeutig von oben, der Rücken hingegen frontal gesehen, während das aufgestellte Bein von einer Position weiter rechts aus festgehalten scheint. Die Bewegung des Blicks um die Figur herum erfährt ihre Entsprechung in der kompositorischen Anlage des Blattes, die vom Rund der Schüssel dominiert wird. Damit überlagern sich drei Bewegungen: erstens diejenige eines ungebundenen Blicks, zweitens diejenige der Figur, deren Hand zudem ein Moment von Bewegungsunschärfe einführt, sowie schließlich der Akt des Zeichens, was insbesondere am rechten Bein der Frau sichtbar wird, das Degas in zwei Zuständen festhält. Auf diese Weise wird unentscheidbar, ob jene unterschiedlichen Beinhaltungen eher auf zwei voneinander abweichende Perspektiven oder aber auf ein Variieren der kompositorischen Bild-Organisation zurückzuführen sind. In den Notizheften formuliert Degas ein Arbeitsprogramm, das sich genau dieser Bewegungsüberlagerung widmet und sie an verschiedenen Sujets durchspielt:
„Eine Serie von Bewegungen der Arme beim Tanz machen“, notiert er, „sich selbst darum herumdrehend. Schließlich aus jeder Perspektive eine Gestalt oder ein Objekt, egal was, studieren. […] Um einen Raum herum ansteigende Stufen aufstellen, um das Zeichnen der Dinge von unten und von oben zu üben […]. Für ein Porträt im Erdgeschoss posieren lassen und in der ersten Etage arbeiten, um sich daran zu gewöhnen, sich die Formen und den Ausdruck zu merken und niemals unmittelbar zu zeichnen oder zu malen.“
Dasselbe nimmt er sich auch für Architekturstudien vor:
„Man hat noch niemals Monumente oder Häuser von unten nach oben und von nahem gezeichnet, so wie man sie sieht, wenn man in den Straßen an ihnen vorbeigeht.“
Parallel zu diesen Notizbucheinträgen entstehen einige von Degas‘ bekanntesten Werken, die das entworfene Arbeitsprogramm bildnerisch umsetzen. Zwei Beispiele seien herausgegriffen. 1879-81 arbeitet er an der Wachsplastik der Petite danseuse de quatorze ans. Er bereitet sie durch zahlreiche Zeichnungen vor, die das Mädchen von allen Seiten festhalten, um die unterschiedlichen Aspekte schließlich zu einer plastischen Figur zu verschmelzen, die keine privilegierte Ansicht kennt, sondern für jeden Betrachtungswinkel formal perfekt ausbalanciert wird. Die unterschiedlichen Perspektiven auf die Figur werden von Degas in eine einzige Form eingefaltet, die sich in der Rezeption des Betrachters, wenn er um die Figur herumgeht, wieder in eine Fülle unterschiedlicher Aspekte ausfaltet. Ebenfalls 1879 entsteht das Gemälde Miss Lala au cirque Fernando (Abb. 4), das aufgrund des differenten Mediums auch anders verfährt. Degas‘ Blick richtet sich in die Zirkuskuppel hinauf, womit er der Artistin folgt, die soeben dabei ist, sich an einem Seilzug in die Höhe ziehen zu lassen. Die sich überlagernden Aufwärtsbewegungen von Blick und Figur werden durch suggerierte Drehbewegungen um eine vertikale Achse ergänzt. Die unterschiedlich abgewinkelten Obergadensegmente erzeugen einen Dreheffekt, der entweder einer Betrachterperspektive zugeschlagen werden kann, die sich um die Figur herumbewegt, oder aber der Akrobatin selbst, die, lediglich an einem Punkt aufgehängt, sich um ihre Körperachse dreht. Ja, man könnte sogar davon sprechen, das Bild selbst drehe sich – eine Suggestion, die durch die eingelassenen Fenster, welche das Bild innerbildlich zu wiederholen scheinen, verstärkt wird.
Degas steht jeweils nicht jenseits, sondern vielmehr inmitten des Raums, den er zeigt, und sein Sehen richtet sich nicht nur auf Körper in Bewegung, sondern bewohnt selbst einen Körper, der sich bewegt. Eines der Probleme, das Degas sein ganzes Œuvre hindurch umkreist, ist folglich die Frage, wie diese unterschiedlichen Kräfte bildnerisch zu synthetisieren sind: wie die Momentanität und Kontingenz der Körperstellungen einerseits, der Perspektiven auf diesen Körper andererseits so verschränkt werden können, dass daraus eine Komposition entsteht, die in sich ausbalanciert erscheint, zugleich aber weder das Bewegungspotenzial des gezeigten Körpers noch die Mobilität des Sehens negiert. Man kann sich dieses bildplastische Problem kaum schwierig genug vorstellen, auch deshalb, weil das Bild auf diese Weise von vornherein auf seine Überschreitung hin angelegt ist. Viele von Degas‘ Äußerungen betreffen diese Problematik, zum Beispiel sein berühmter Ausspruch, die Zeichnung sei „nicht die Form, sondern die Art und Weise, die Form zu sehen“, oder die in einem Brief formulierte Maxime, man müsse dasselbe Sujet zehn Mal, ja hundert Mal wiederholen, da nichts in der Kunst dem Zufall gleichen dürfe, nicht einmal die Bewegung.
Die Synthetisierung von Körperbewegung, Sehbewegung und flächenbezogener Bildordnung vollzieht sich in Kompositionen, die bald mehr der Geometrisierung, bald mehr der Ornamentalisierung zustreben. Lineamente bilden sich heraus, die zugleich körper- und dingbezogene Kontur und Verlaufsformen des Blicks sind. Sie verbinden unterschiedliche Gegenstände und Raumebenen miteinander, sei es durch die Fortführung derselben Linie, sei es durch ein Spiel von Formwiederholungen. Miss Lala au cirque Fernando (Abb. 4) ist dafür ein gutes Beispiel. Die Arme, Beine und die Rumpflinie der Akrobatin sind so im Strebewerk der Architektur verankert, dass die Zufälligkeit und Wandelbarkeit des Aspekts, unter dem sich die Szene darbietet, in einer sinnfälligen und doch höchst dynamischen Bildordnung aufgehoben wird. Eine andere Variante zeigt das Pastell einer sich trocknenden Frau (Abb. 3). Degas verbindet die Kontur der Arme und der Schulterpartie zu einer rechtwinkligen, den Raum im Zickzack durchmessenden abstrakten Form. Sie verknüpft sich mit den übrigen Linien des Bildes, der Raumkante und dem Pantoffel links, der Sessellehne und der Badewanne rechts, zu einem Diagonalennetz, das zwar fest gefügt wirkt, zugleich aber frei und beweglich in den Bildraum „gehängt“ erscheint.
Wiederum anders verfahren die mehrfigurigen Tänzerinnen-Bilder (Farbabb. 6). Die häufig nur ausschnitthaft gezeigten Körper werden so dicht zueinander geschoben, dass sich die einzelnen Körperglieder verflechten. Dadurch entsteht jenes raumzeitliche Ornament, das Valéry am Tanz beobachtete, dessen Beschreibung aber umstandslos auf Degas Bilder übertragbar ist:
„Indem dieselben Glieder“, so Valery, „sich verschränken, entfalten und wieder verschränken oder Bewegungen in gleichen oder harmonischen Zeitabständen einander antworten, entsteht ein Ornament im Bereich der Dauer, wie durch die Wiederholung von Figuren im Raum oder von ihren Symmetrien das Ornament im Bereich der Ausdehnung entsteht.“
Die annähernd spiegelbildliche Entsprechung zweier Figuren, so wie wir sie in diesem Pastell (Farbabb. 6) bei den beiden zentralen Figuren antreffen, finden wir bei Degas häufig. Fast immer handelt es sich um contraposto-Haltungen, bei denen der Kopf in die Gegenrichtung zum Körper gewendet ist. Spiegeln sich zwei contraposto-Figuren ineinander, entfalten sie ein komplexes Spiel zwischen Abstoßung und Anziehung, Übereinstimmung und Differenz. Zugleich begegnen wir einem weiteren Fall jener innerbildlichen Reflexion, die auf anderer Ebene bereits bei Miss Lala au cirque Fernando zu beobachten war. Denn die wechselseitige Spiegelung der Tänzerinnen führt zu einer mise en abîme des Bildes. An der Nahtstelle zwischen den beiden Figuren, die wie eine quer durch den Raum führende Spiegelachse wirkt, scheint sich das Bild zu verdoppeln. Es enthält sich gewissermaßen selbst, was zur Folge hat, dass die Grenze zwischen Wirklichkeit und Bild verwischt wird. Gleichzeitig führt uns dieses Phänomen zum Arbeitsprogramm zurück, das Degas in seinem Notizbuch festhält. Denn im Zuge der Überlegungen, wie er die bewegte Körperlichkeit von Maler und Modell in die fixierte Einansichtigkeit des Bildes übertragen könnte, nimmt er sich die Verwendung von Spiegeln vor, und zwar nicht nur aus praktischen Erwägungen, sondern ebenfalls, um den Illusionismus des Bildes zu brechen. Dem Vorsatz, eine Figur aus jeder Perspektive zu studieren, fügt er hinzu, man könne sich dafür eines Spiegels bedienen, da man sich dann nicht vom Platz zu bewegen habe. Man müsse sich dann lediglich am Platz selbst niederbeugen oder sich zur Seite neigen, dadurch bewege man sich schon um sie herum. Einige Seiten später ergänzt er, man solle die Dinge nur als im Spiegel Gesehene zeichnen, um sich daran zu gewöhnen, „das Trompe-l’œil zu hassen“.

Kapitel I: Einleitung
Kapitel II: „Le vague“
punkt Kapitel III: Bild und Bewegung
Edgar Degas - Pfeil Kapitel IV: Sehen und Berühren
Kapitel V: Die Metonymie des künstlerischen Aktes
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Edgar Degas Tanz Landschaften Spätwerk

Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Edgar Degas’ Werkprozess

in: Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis. Gottfried Boehm zum 60. Geburtstag, hrsg. von Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt und Gundolf Winter, Berlin 2005, S. 35-51.

Kapitel II: „Le vague“

Der Tanz, schreibt Alain Badiou in seinem kleinen Buch zur Ästhetik der verschiedenen Künste, ist wie ein Kreis im Raum, ein Kreis jedoch, der sein eigenes Prinzip ist, indem er nicht von außen gezeichnet wird, sondern sich selbst zeichnet. Der Tanz, so Badiou weiter, ist eine erste Bewegung: Jede Geste, jeder Bewegungsverlauf erscheint nicht als Folgewirkung von etwas, sondern als Ursprung der Beweglichkeit selbst. Der tanzende Körper drückt dabei keinerlei Innerlichkeit aus, vielmehr ist er selbst die Innerlichkeit, die, ganz an der Oberfläche, als Intensität erscheint. Ein derartiger Körper ist notwendigerweise nackt. Es ist nicht wichtig, präzisiert Badiou, ob er es in empirischer Hinsicht ist. Unter Nacktheit ist zu verstehen, dass der Tanz sich auf nichts anderes bezieht als auf sich selbst, in der Nacktheit seines Auftauchens.
Badious Ausführungen sind ein erster Hinweis darauf, was hier an einigen von Degas‘ Bildern gezeigt werden soll, um auf die einleitend gestellten Fragen eine Antwort zu suchen. Obschon diese Ausführungen, die an Mallarmés und Valérys Gedanken über den Tanz anschließen, den Künstler an keiner Stelle erwähnen, charakterisieren sie nicht nur die Tanzkunst, sondern zugleich Degas‘ zeichnerische und malerische Praxis, diese ins Bild zu setzen. Indem sich Badiou überdies weniger für die konkrete theatralische Praxis des Balletts interessiert als vielmehr für den Tanz als eine Bewegungs- und Denkform, lassen seine Formulierungen nicht nur an Degas‘ Tänzerinnen-Bilder denken, sondern zugleich auch an andere Motive, insbesondere an die sich waschenden und kämmenden Frauen. Denn das Verbindende unter Degas‘ Sujets ist tatsächlich das Moment einer selbstbezüglichen, in sich zurücklaufenden Bewegung. Ruhende Posen gibt es, mit Ausnahme der Porträts, in seinem Œuvre kaum. So führt auch die Landschaft, die bei den Impressionisten eine entscheidende Rolle spielt, nur ein Nebendasein – allerdings mit bemerkenswerten Ergebnissen. Selbst da aber interessiert ihn in erster Linie deren Lebendigkeit:
„Wenn die Blätter der Bäume sich nicht bewegten“, schreibt er in einem Brief an Henri Rouart, „wie traurig wären die Bäume, und auch wir! […] Es ist die Bewegung der Dinge und der Menschen, die zerstreut und sogar tröstet, wenn ein so Unglücklicher überhaupt getröstet werden kann.“
Bewegung und ästhetische Lust gehen für Degas Hand in Hand. Das Beispiel der flirrenden Blätter, die ihm tröstende Zerstreuung bringen, verweist zudem auf den Zusammenhang zwischen Anmut, Unbestimmtheit und Versunkenheit, wie er im italienischen vago zum Ausdruck kommt. Bezeichnend hierfür ist ein von Daniel Halévy in seinem Tagebuch aufgezeichneter Wortwechsel über die Serie von Landschaftsmonotypien, die in den 1890er Jahren in Erinnerung an eine Fahrt durch das herbstliche Burgund entstehen:
„Ich saß bei der Wagentür“, so Degas in Halévys Aufzeichnung, „und schaute unbestimmt [vaguement]. Das hat mich auf den Gedanken gebracht, Landschaften zu machen. Es sind einundzwanzig.‘ – ‚Was? Sehr unbestimmte Sachen [des choses très vagues]?‘ – ‚Vielleicht.‘ – ‚Seelenzustände?‘ fragte mein Vater. […] – ‚Augenzustände‘, antwortete Degas.“
Nach gängiger Auffassung setzt Degas‘ Spätwerk nach der letzten Impressionisten- Ausstellung 1886 ein, auf der Degas noch einmal mit zahlreichen Arbeiten vertreten ist, um fortan auf die Zurschaustellung seiner Werke fast durchwegs zu verzichten. Zu Recht wird das Spätwerk als Radikalisierung des bisherigen Œuvres beschrieben, insbesondere weil es sich auf ganz wenige Themen und Motive konzentriert, diese allerdings dutzend-, ja hundertfach wiederholt und variiert. Worin aber besteht die Radikalisierung innerhalb der Bearbeitung des Motivs, also innerhalb des einzelnen Bildes? Um eine noch perfektere Wiedergabe im Sinne naturalistischer Korrektheit geht es offensichtlich nicht. Diesbezüglich wären sogar nur Rückschritte zu vermelden, da eine der Eigentümlichkeiten des Spätwerks eben jenes angesprochene Vage ist. Was die Bilder zeigen, der Ort und selbst die Protagonistinnen, verschwimmen in einer irritierenden Unschärfe der Darstellung. Trotz der gesteigerten, ja betörenden Leuchtkraft, die Degas‘ Bilder jetzt erreichen, gibt es ein Negatives, welches das Sichtbare affiziert und die Lesbarkeit irritiert. Vergleichen wir dafür zwei Gemälde (Abb. 1 und 2), die sich vom Sujet her nahe stehen, aber im Abstand von fast dreißig Jahren entstanden sind. Das erste Bild, das zu Degas‘ frühesten Tanzbildern gehört, ist exemplarisch für das, was schon den Zeitgenossen an Degas‘ damaligen Arbeiten auffällt: die asymmetrischen Kompositionen, die diskontinuierlichen Räume, die ungewohnten Blickpunkte und seltsamen Posen der Dargestellten sowie das neuartige Verhältnis von Betrachter und Bild. Der Raum ist zugleich breit und tief, nach Vorder-, Mittel- und Hintergrund klar strukturiert, und alles, was er enthält, wird präzise geschildert, die hohen Türen und schlanken Spiegel, die Weite des Tanzbodens und die Nacktheit der Wände. Die Ballerinen werden nach Kostüm, Haarfarbe und Pose sorgfältig unterschieden, und die Bilderzählung durch Details wie die Gießkanne bereichert, die zum regelmäßigen Befeuchten des Bodens diente. Als Interieur-Bild ist die kleine Tafel, die ganze 19,7 x 27 cm misst, auf größtmögliche Information hin angelegt, als Genre-Bild einer Tanzstunde zielt sie auf eine möglichst variantenreiche Narration. Das späte, gegen 1900 entstandene Gemälde zeigt im Mittelpunkt eine Tänzerin, die in ihrer Pose von der zentral gesetzten Ballerina des früheren Bildes abzustammen scheint, und auch die asymmetrische Komposition, der abgewinkelte Raum und die seitliche Positionierung einer Tänzerinnen-Gruppe sind vergleichbar. Doch in ihrer Erscheinungsweise unterscheiden sich die beiden Bilder grundlegend. Degas schließt näher zu den Figuren auf, welche jetzt die ganze Bildhöhe einnehmen. Der Raum verknappt sich, in der Breite, vor allem aber in der Tiefe. Das Pfefferminzgrün, das im früheren Bild als lokale Schattenfarbe eingesetzt wird, wandelt sich zum Träger eines irisierenden Lichts, das sich über ganzen Raum verteilt und zugleich dessen Tiefe aufsaugt, da es sich keiner bestimmbaren Beleuchtungsquelle verdankt, sondern mit der Materialität der Farbe verschmilzt. Ob hier trainiert, ausgeruht oder wirklich getanzt wird, lässt sich ebenso wenig bestimmen wie die Gesichtszüge der Tänzerinnen, deren silberweiß schimmernde Körper ineinander fließen. Das Weglassen der Möbel und aller weiterer Details, an denen das frühere Bild so reich ist, verstärkt die Ambiguität von Raum und Situation. Sie führt unter anderem dazu, dass die leicht gespenstische Öffnung auf der linken Seite erst im Vergleich mit dem früheren Bild als Spiegel und der weiße Farbfleck darin als gespiegeltes Tutu erkennbar wird. Gemessen an der Erzählfreudigkeit des früheren Bildes stellt sich eine gewisse Enttäuschung ein: Das Bild vermittelt den Eindmck, dass es, zumindest auf der Gegenstandsebene, nicht viel zu sehen gibt. Drei Unschärfen verbinden sich: die zeichnerisch-malerische, durch die ein Formloses die Form streift und ein Opakes die Transparenz angreift, sodann die situative, die Raum, Zeit und Handlung verschwimmen lässt, und schließlich die physiognomische, die jede Innerlichkeit ausschließt und die Figuren ins Unpersönliche gleiten lässt. Der im früheren Bild überraschend und augenblickshaft inszenierte Raum verwandelt sich in einen Gedächtnisort, der gesättigt wirkt von den überreichen, sich überlagernden Erinnerungen, die Degas in jahrzehntelanger Arbeit am Motiv aufhäufte. Das Vage dürfte folglich als Chiffre für ein Schweben aufzufassen sein – für ein Schweben zwischen innen und außen, Erinnerung und Sehen, das auf keine Seite hin aufgelöst werden kann, sondern an den Betrachter weitergegeben wird.
Dieselbe Unbestimmtheit kennzeichnet auch die Bilder sich waschender und trocknender Frauen (Farbabb. 5 und Abb. 3). Auch hier steht sie mit der Materialität des Mediums in unmittelbarem Bezug, sei es mit der peinture à l’essence, einer mit Terpentin stark verflüssigten Ölmalerei, sei es mit der porösen, ebenso weichen wie zerfurchenden Qualität der Pastellkreide. Erneut treffen wir auf anonymisierte Figuren, die auch dann gesichtslos bleiben, wenn sie sich nicht vom Betrachter abwenden, wie es die Regel ist. Gewiss sind Handlungen des Waschens, Trocknens und Kämmens erkennbar, doch sie werden kaum als Momente einer Erzählung kenntlich, sondern erscheinen losgelöst von Absicht und Ziel. Die Bewegung verdichtet sich zum „Ursprung der Beweglichkeit“, zur „Bewegung in der Nacktheit ihres Auftauchens“, wie sie Badiou in der Tanzkunst erkennt. Da das Bild sehr nahe zum Modell aufschließt, verknappt sich der Bildraum aufs Äußerste. Die malerische, situative und physiognomische Unbestimmtheit gewinnt hier den Zug, als müsse sie die radikale Intimität der Bilder ausgleichen: sie dadurch erträglich machen, dass sie uns das Dargestellte nicht nur zeigt, sondern im selben Zuge entzieht.

Kapitel I: Einleitung
punkt Kapitel II: „Le vague“
Edgar Degas - Pfeil Kapitel III: Bild und Bewegung
Kapitel IV: Sehen und Berühren
Kapitel V: Die Metonymie des künstlerischen Aktes
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Edgar Degas Motive sehen Gesamtwerk

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Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Edgar Degas’ Werkprozess

in: Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis. Gottfried Boehm zum 60. Geburtstag, hrsg. von Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt und Gundolf Winter, Berlin 2005, S. 35-51.

„Wie viele neue Dinge ich gesehen habe, welche Pläne das in meinen Kopf gesetzt hat! Und doch gebe sie schon wieder auf, ich will nichts weiter als meinen Winkel, in dem ich liebevoll graben kann. Die Kunst weitet sich nicht aus, sie wiederholt und verdichtet sich. Und wenn Sie um jeden Preis Vergleiche mögen, so werde ich Ihnen sagen, dass man, um gute Früchte hervorzubringen, sich am Spalier aufbinden muss. Da bleibt man sein ganzes Leben, die Arme ausgebreitet, den Mund offen, um mit dem zu verschmelzen, was vorüberkommt, was einen umgibt, um davon zu leben.“ (Degas an Lorenz Frölich, 27. November 1872)
„Nicht im Salon enden, das Leben anderswo verbringen – in der Küche.“ (Degas an Paul Bartholomé, 9. September 1882)

Kapitel I: Einleitung

Was heißt es, sich in Degas‘ Œuvre zu orientieren, das mit über 1500 Gemälden und Pastellen, mehreren tausend Zeichnungen, einem reichen druckgrafischen Werk und hunderten von Skulpturen schon in seinem Umfang kolossal ist? Was heißt es, sich in seinem Denken zu orientieren, das bestimmten Ideen und Absichten jahrzehntelang treu blieb, selbst über die verschiedenen Perioden hinweg, in die man das Werk rückblickend einzuteilen versucht? Welche Motive werden erkennbar, wenn man unter Motiv nicht nur den gegenständlichen Vorwurf der Bilder versteht, sondern zugleich die Motivation, dieselben Sujets immer wieder aufzugreifen? Mit dem schlichten Wunsch, sich künstlerisch mitzuteilen, ist Degas’ Œuvre kaum zu erklären. Über ein halbes Jahrhundert künstlerisch produktiv, erscheint die Zeitspanne von 1865 bis 1886, in der er seine Werke öffentlich präsentiert, beinahe wie eine Anomalie, nach der er sich, ebenso menschenscheu wie unbekümmert um öffentliche Anerkennung, wieder in die Privatheit seines Ateliers zurückzieht. Besonders das Spätwerk verdeutlicht, dass der Rahmen des Visuellen überschritten wird. Denn an beiden Enden der Kommunikationskette steht eine Form von Unsichtbarkeit: auf der einen Seite die Verborgenheit der Werke, auf der anderen Seite die zunehmende Erblindung des Künstlers. Letztere beendet seine Arbeit indessen keineswegs, sondern akzentuiert sie lediglich um. Sie hält ihn nicht einmal davon ab, Ausstellungen zu besuchen, wie der bewegende Bericht über den fast 80jährigen Degas belegt, der täglich die Retrospektive des verehrten Ingres besucht, um die Bilder abzutasten, die er kaum mehr sehen kann. Degas’ Werk handelt von mehr als dem Sehen, so wie jene „Folge von Operationen“, als die er das Kunstwerk definiert, auf etwas zielt, was die Form übersteigt. Um sich diesem Mehr und Anderem zu nähern, müssen die Prozesse der Bildentstehung ins Auge gefasst, das Gemachte aus dem Blickwinkel des Machens betrachtet werden, bis zu dem Punkt, insbesondere das Spätwerk als ein einziges work in progress zu begreifen.

punkt Kapitel I: Einleitung
Edgar Degas - Pfeil Kapitel II: „Le vague“
Kapitel III: Bild und Bewegung
Kapitel IV: Sehen und Berühren
Kapitel V: Die Metonymie des künstlerischen Aktes
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Relationale Ästhetik: Über den ‚Fleck' bei Cezanne und Lacan

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Relationale Ästhetik: Über den ‚Fleck‘ bei Cézanne und Lacan

in: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265-288.
Inhalt:

Kapitel I: Zwei Formen des Relationalen

Kapitel II: ‚Blick‘ und ‚Fleck‘

Kapitel III: ‚Fleck‘ und Farbe

Kapitel IV: Die Geste des Malens

Kapitel V: Die Funktion des Gemäldes

Relationale Ästhetik Cezanne Lacan Kunst Funktion

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Relationale Ästhetik. Über den ‚Fleck‘ bei Cézanne und Lacan

in: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265-288.

Kapitel V: Die Funktion des Gemäldes

Aufgrund der veränderten Kommunikationsstruktur des modernen Kunstwerks wandelt sich zwangläufig der Charakter des ‚Augentäuschungsspiels‘, in welchem für Lacan das blickzähmende, den Blick befriedende Moment der Malerei liegt. Solange die Malerei als Mimesis und das Bild als durchsichtiges Fenster begriffen wurde, konnte die Dialektik von Täuschung und Enttäuschung, Sichtbarmachen und Verdecken nach dem Modell des Wettstreits von Zeuxis und Parrhasios, auf den Lacan rekurriert, begriffen werden. An diesem Mythos scheint Lacan entscheidend, dass Zeuxis durch einen Vorhang getäuscht wird, also durch etwas, was das Begehren weckt, dahinter blicken zu können. Entsprechend wird die Illusion in dem Augenblick zerstört, als Zeuxis seinen Konkurrenten darum bittet, ihm doch zu zeigen, was hinter dem Vorhang sei. Die enttäuschte Illusion besteht folglich weniger im Vorhang selbst, sondern vielmehr in der Illusion, dass etwas dahinter sei. In diesem Augenblick aber, so Lacan, materialisiert sich das Bild und wird als bloße Wand oder Leinwand erkennbar. Es ist nicht länger Schein, sondern zeigt sich als Ursprung des Scheins. Als materielle Oberfläche bringt es nicht länger etwas zum Vorschein, das es selbst nicht ist, vielmehr wird es selbst zu dem, was den Schein hervorbringt. Das Durchkreuzen der Augentäuschung legt das Bild als Quell dessen frei, was zu sehen ist. Das blickzähmende Moment, das den Betrachter die Augen öffnen lässt, liegt folglich in dessen reiner Evidenz, die ihn frohlocken lässt, dass für einmal nichts dahinter ist.
In einer Malerei wie derjenigen Cézannes, welche die illusionistische Täuschung von Anbeginn an ausschließt, artikuliert sich die Dialektik des Bildes notwendig auf andere Weise. Auch wenn Cézannes Fleckenstruktur textile Assoziationen hervorruft und die Stillleben zuweilen mit einem metonymischen Gleiten zwischen Leinwandträger, gemalten Tüchern oder Tapeten und dem Fleckenteppich der taches spielen, käme doch niemand auf den Gedanken, diese ‚Tücher‘ beiseite zu ziehen und dahinter blicken zu wollen. Die Bilddialektik von Zeigen und Verbergen, Täuschen und Enttäuschen manifestiert sich nicht auf der Ebene des Dargestellten, sondern auf derjenigen des Darstellens, und zwar in jedem einzelnen Partikel des Bildes. Denn jede der taches ist nicht-identisch mit sich selbst: stellt etwas dar und streicht das Darstellen durch, ist lichthaftes Scheinen und opake Materialität zugleich. Dies führt zum beschriebenen Pulsieren der Oberfläche, deren Elemente sich zum Bild schließen und dieses gleichzeitig an jeder Stelle wieder aufbrechen lassen, so dass Faktur und Fraktur ineinander aufgehen.
In welchem Verhältnis stehen also bei Cézanne Bild und ‚Blick‘, und konkreter: Farbfleck und ‚Blick‘? Lacans Ausführungen sind in dieser Hinsicht uneindeutig, da er einerseits davon spricht, dass sich in jedem Bild etwas Blickhaftes abzeichne, zugleich aber seine Funktionsanalyse des Bildes auf die These gründet, im Bild sei der Blick elidiert. So gilt es hier sorgfältig abzuwägen. Es sollte deutlich geworden sein, dass die taches nicht umstandslos mit dem zusammengebracht werden können, was Lacan als Blick bezeichnet. Dem widerspricht nicht nur die strikte Negativität des Blicks, der kein positivierbares Detail eines Bildes sein kann. Die Analogisierung verbietet sich aber auch aus der Perspektive Cézannes, da die Farbflecken ja kein nicht-integrierbarer Rest einer Signifiantenkette sind, sondern das Bild aus nichts anderem besteht als aus solchen Flecken. Wären sie ‚Blick‘, dann nichteten sie das Bild insgesamt: Wir könnten es nicht sehen. Bei der Relationierung von Farbfleck und Blick darf also die Tatsache nicht aus den Augen verloren werden, dass Cézannes taches – in all ihrer semantischen Dichte, die zu zeigen war – eine Gabe des Tausches sind, die anstelle des Blicks offeriert werden. Doch auch an den Nahtstellen der Flecken, wo die Oberfläche bricht und bloße Stellen sichtbar werden, blitzt kein ‚Nichts‘ auf, sondern lediglich die Leinwand oder das Aquarellpapier, deren Helle in Cézannes malerischem Kalkül eine wichtige Rolle spielt. Bilder sind dichte Zeichen, deren Zwischenräume niemals leer sind wie bei der Sprache, zwischen deren Buchstaben buchstäblich nichts ist und deren Diskurs tatsächlich abbrechen kann.
Auch die irreduzible Offenheit der Fleckenstruktur, die für das ästhetische Funktionieren von Cézannes Malerei konstitutiv ist, wäre als Manifestation des ‚Blickhaften‘ missverstanden. Zu allen Zeiten war es ein Merkmal der Kunst, bewusst unvollständige, in unvorhersehbarer Weise unterbrochene Erfahrungen zu provozieren, um über solcherart enttäuschte Erwartungen eine natürliche Neigung zur Vervollständigung anzusprechen. Doch gegenüber der Kontingenz der Wirklichkeit stellt jedes Bild eine reduzierte Offenheit dar. Es überführt sie in ein Gefüge, dessen Schließung nicht unmöglich scheint, wodurch die Offenheit gerade nicht bedrohlich wirkt, sondern ästhetische Lust erzeugt. Zeigte man hingegen, wie Stanley Cavell einmal bemerkte, einem Menschen den Film eines gewöhnlichen ganzen Tages seines Lebens, er würde verrückt werden. In dieser Signifikanten Differenz zwischen Kunst und Realität, welche die Kontingenz bannt, liegt ein entscheidender Aspekt dessen, was Lacan die „pazifizierende, apollinische Wirkung“ der Kunst nennt. Die Differenz zwischen dem antinomischen Verhältnis von Signifikant und Blick und der bildlichen Dialektik von Sein und Schein lässt sich vielleicht folgendermaßen pointieren: Im einen Fall geht es um ein drohendes ‚Nichts‘ dahinter, im anderen Fall um ein entlastendes ’nichts dahinter‘. Die Wahrheit in der Malerei, die Cézanne seinem Malerfreund Bernard zu geben versprach, ist die Transformation der Welt in Malerei – in ein Bild, welches zeigt, indem es sich zeigt, und welches dasjenige, was es zeigt (einen Berg, einen Waldweg, die Tiefe des Raums), durch sein eigenes Sichtbarsein verdeckt, d.h. image und écran fortlaufend ineinander umkippen lässt.
Nach lacanscher Lesart bündeln sich in Cézannes Malgestus folglich drei Motive, die alle auf die Aussperrung des Blicks gerichtet sind. Erstens geht es darum, die Realität in eine signifikante Struktur zu überführen, die, im Sinne einer Gabe, ‚zu sehen gibt‘. Zweitens konstruiert er eine Balance zwischen Ordnung und Offenheit, die den Betrachter involviert und zugleich die Kontingenz bannt. Drittens vereinigt er die Bildfunktionen von image und écran zu einem tableau, welches das ‚Nichts‘ dahinter in ein ’nichts dahinter‘ zu verwandeln vermag. Wenn die Malerei auf diese Weise den Blick elidiert, besteht allerdings gleichwohl kein Grund, in die Präsenzästhetik der Kunst zurückzufallen, die Lacan an Merleau-Ponty kritisiert. Denn die Malerei garantiert weder Anwesenheit noch die wechselseitige Spiegelung von Betrachter und Betrachtetem. Sie wendet lediglich jenes Moment des Verfehlens ins Positive, das Lacan in der Wendung zusammenfasst, „daß Du mich nie da erblickst, wo ich Dich sehe“, und „umgekehrt […] das, was ich erblicke, nie das [ist], was ich sehen will“. Das Kunstwerk wird nur insoweit zur Ganzheit, als es dem Subjekt einen ‚gerahmten‘ Umgang mit der irreduziblen Ambivalenz des Sehens erlaubt. Es garantiert eine symbolische Ordnung, welche die ‚feindliche‘ Antinomie von Auge und Blick in ein ‚friedliches Augentäuschungsspiel‘ transformiert.
Der Liste von Cézannes Motiven, ein Gemälde zu verfertigen, wäre schließlich ein letzter Beweggrund hinzuzufügen. Er bestand darin, das eigene Subjekt ins Feld des großen Anderen einzuschreiben – ins „Schauspiel, das der Pater omnipotens, aeterne Deus vor unseren Augen ausbreitet“, wie Cézanne in einem Brief an Bernard schrieb. Diese Einschreibung gelang Cézanne aufgrund eines weiteren, erneuten Umschlags zwischen Produktion und Rezeption. Denn er begriff das Machen des Bildes als Finden – als Finden der Ordnungen von Natur und Sehen. Damit aber galt auch das Umgekehrte: das Finden war an das Machen zurückgebunden. Die réalisation, die innen und außen, Objekt und Empfindung, Ordnung der Malerei und Ordnung Gottes ineinander aufgehen lassen sollte, vollzog sich allein in jenem flüchtigen Augenblick, in dem der Pinsel die Leinwand berührte. Sie verwirklichte sich in einem Artikulationsprozess, der nicht in die Gewissheit und Dauerhaftigkeit einer Aussage zu überführen war. Entsprechend ambivalent mutet es an, wenn der alternde Cézanne immer häufiger über sein mangelndes Realisierenkönnen klagt. Darin zeigt sich der ‚double bind‘, das Ziel endlich erreichen zu wollen, dies aber gleichermaßen auch zu fürchten. Denn es hätte ihn nicht nur der weiteren Arbeit enthoben, die ihn, wie er sehr wohl erkannte, als einziges noch am Leben hielt. Zugleich hätte ein Bild, das mit dem Anspruch aufgetreten wäre, ‚es‘ tatsächlich realisiert zu haben, seine Unzulänglichkeit notwendig ans Licht gebracht. So blieb Unvollendung das Ziel, die Unruhe im Uhrwerk seines Tuns.
Wenn sich in Cézannes Gemälden nun aber trotz allem das Gefühl der Gegenwart eines Blicks einstellt – ein Gefühl, das nach Lacan jedes Gemälde erzeugt -, dann dürfte dies mit der so eben beschriebenen Ambivalenz im ‚Realisieren‘ unmittelbar zusammenhängen. Es manifestiert sich im unruhigen Pulsieren der Oberfläche, das der Stabilität des Bildes sowie des visuellen Raums entgegenwirkt und ein irritirendes Moment von Unkontrollierbarkeit einführt. Doch das ‚Blickhafte‘ entspringt nicht allein jenem Pulsieren selbst. Es verdankt sich ebenso sehr einer Möglichkeit, die nicht eine des Bildes ist, sondern vielmehr dessen Grenze anzeigt. Denn in jenem Pulsieren der Oberfläche schwingt zugleich die Gefahr mit, außer Kontrolle zu geraten und das fragile Gewebe des Bildes zu zerreißen. Im Prozess der réalisation des Bildes zeigte sich diese Gefahr in der jederzeit bestehenden Möglichkeit eines ‚falschen Flecks‘: „Wenn ich zu hoch oder zu tief greife“, so Cézanne, „ist alles verpfuscht. Es darf keine einzige lockere Masche geben, kein Loch, durch das die Erregung, das Licht, die Wahrheit entschlüpft.“
Der ‚falsche Fleck‘ hätte nicht nur ein künstlerisches Misslingen angezeigt. Er wäre zugleich ein Mangel im Anderen, ein Loch im Schauspiel Gottes gewesen, durch das dessen Sinn entwichen wäre. Diese Angst, den „Schleier der Interpretation“ aufreißen, die Bildbalance kippen und die Farbe ins ’schmutzige Häufchen‘ zurückfallen zu sehen, kurz, den ‚Blick‘ wiederkehren zu sehen: das war die Kehrseite der ‚Harmonie parallel zur Natur‘, die Cézanne sich erschuf.

Kapitel I: Zwei Formen des Relationalen
Kapitel II: ‚Blick‘ und ‚Fleck‘
Kapitel III: ‚Fleck‘ und Farbe
Kapitel IV: Die Geste des Malens
punkt Kapitel V: Die Funktion des Gemäldes
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Relationale Ästhetik Cezanne Lacan Merleau-Ponty Malerei

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Relationale Ästhetik. Über den ‚Fleck‘ bei Cézanne und Lacan

in: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265-288.

Kapitel IV: Die Geste des Malens

Als Cézanne auf einem Fragebogen angab, worin für ihn das „Ideal irdischen Glücks“ bestehe, notierte er: „Eine schöne Formel haben.“ Das Geheimnis von Cézannes Malerei liegt nicht in einer verborgenen Bedeutung, sondern an der Oberfläche: in der Struktur. Mit Lacans Signifikantenstruktur teilt sie die Eigenschaft, Bedeutung nicht aufgrund der Relation von Zeichen und Bezeichnetem zu erzeugen, sondern aufgrund der differenziellen Logik des Kontrastes. Ob ein Fleck eher eine Mauer oder aber ein blühendes Feld meint, kann erst im Zusammenhang mit den anderen Flecken vermutet werden, und auch dann noch unterliegt diese Zuschreibung beständiger Modifikation, die durch jede Identifizierung eines weiteren Flecks angestoßen werden kann. Wenn ‚Sehen‘ normalerweise bedeutet, ‚etwas als etwas‘ zu sehen, dann dehnt Cézanne dieses ‚als‘ bis zu dem Punkt, wo es als Vorgang sichtbar wird. Worauf das Wiedererkennen des Motivs basiert, d.h. wo sich die Ähnlichkeit zum Dargestellten einstellt, darauf kann man im Bild nicht zeigen. Das Signifkat lässt sich von der signifikanten Struktur nicht ablösen, die ‚Realisierung‘ bleibt unabschließbar. Was im Bild erscheint, ist weder festgestellt noch feststellbar, sondern erzeugt einen paradoxen Raum, in dem stets etwas aus den Fugen gerät, fehlt oder unsichtbar bleibt: eine signifikante Abwesenheit des Signifikats. Auf diese Weise wird der Betrachter in die Bedeutungsstiftung des Bildes hineingezogen. Aus dem Fleckenteppich bildet sich nur dann etwas heraus, wenn der Betrachter dessen einzelne Elemente für ‚bedeutend‘ hält. Lacans Definition des Signifikanten, dieser repräsentiere das Subjekt, aber für einen anderen Signifikanten, trifft die Bilderfahrung eines Cézanneschen Bildes ziemlich genau.
Gleichwohl stößt der Vergleich zwischen tache und Signifikant an eine Grenze, die nicht nur auf deren unterschiedliche Medialität verweist, sondern zugleich auf die Darstellungsfunktion der taches. Den Signifikanten versteht Lacan als maximal arbiträres, d.h. unmotiviertes und keine natürliche Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten aufweisendes Zeichen, dessen Bedeutung sich allein aus der Bedeutung für ein Subjekt erschließt. Als ikonisches Zeichen hingegen weist Cézannes tache eine durch Konvention und Ähnlichkeit reduzierte Arbitrarität auf. Einen Baum durch Farbe darzustellen, beruht auf der Konvention Malerei, die ein kulturelles Wissen voraussetzt, damit jemand in der Farbe überhaupt etwas zu sehen vermag. Für einen Baum sodann grüne Farbe zu verwenden, motiviert sich durch die Ähnlichkeit zwischen dem Farbton auf der Palette und dem gesehenen Objekt, wobei das arbiträre Moment darin liegt, dass genau dasselbe Grün auch für einen anderen farbähnlichen Gegenstand eingesetzt werden könnte. Aus dieser Kombination aus Ähnlichkeit, Konvention und Arbitrarität schöpft die Malerei ihre medienspezifische Fähigkeit zur Artikulation. Sie eröffnet unter anderem die Möglichkeit, dass auch ein ungegenständliches Bild gegenständliche Assoziationen hervorruft, beispielsweise ein grüner und ein blauer Streifen eine Landschaft evozieren kann.
Eine Gleichsetzung der Signifikantenstruktur mit Cézannes Fleckengebilde ignorierte aber auch die Materialität der taches und damit die indexikalische Ebene ihrer Zeichenfunktion. Genau auf den indexikalischen Rückverweis auf den Maler richtet sich nun aber Lacans Interesse, wohingegen ihn die ikonische Seite der taches kaum interessiert.
Auf Cézannes ‚kleines Blau‘ und ‚kleines Braun‘ wurde er durch dieVermittlung Merleau-Pontys aufmerksam. Dieser hatte in der Phänomenologie der Wahrnehmung und bereits zuvor im Essay über den „Zweifel Cézannes“ eine von Gasquet vermittelte Äußerung aufgegriffen, in welcher Cézanne über die Möglichkeit spricht, den Blick und das Lächeln eines Porträtmodells aus einzelnen zueinander gesetzten Farbflecken wiedererstehen zu lassen: „Wenn ich“, so lässt Gasquet Cézanne sagen, „um deinen Blick das ganze, unendliche Netz der kleinen blauen und kleinen braunen Flecken webe, die dort sind, die sich miteinander verbinden, dann werde ich dich auf meinem Bilde blicken machen, wie du blickst. […] Zum Teufel, wenn sie ahnten, wie man einen Mund traurig macht oder eine Wange lächeln, indem man zu einem Rot ein abgestuftes Grün setzt.“ Anhand von Cézannes aus Farbe geschaffenem Porträt demonstriert Merleau-Ponty, wie sich die Gegenwärtigkeit und der Sinn des Sichtbaren, seien es ein Mensch oder auch Gegenstände wie beispielsweise ein Tisch, als ‚inkarnierte‘ zeigen, die sich vom ‚Leib‘ des Gesehenen nicht ablösen lassen. „Das Problem der Welt, und zu allem Anfang das des eigenen Leibes“, so fasst Merleau-Ponty den Gedanken zusammen, „ist eben dies, dass alles darin bleibt.
Lacans Perspektive auf Cézannes Äußerung ist eine andere. Ihm geht es nicht um die Relation zwischen Bild und abgebildetem Gegenstand, sondern umgekehrt um die Beziehung zwischen dem Maler und dem Bild, genauer um die „Geste als Bewegung, die man sehen lässt“. Während es Merleau-Ponty um einen Ursprung geht (den Ursprung des Sichtbaren im ‚Fleisch der Welt‘), geht es Lacan um einen Abschluss: um das terminierende Moment einer Bewegung, die im Pinselstrich ausläuft. Darin verbinden sich für Lacan ein Akt des Niederlegens mit einem Akt der Absonderung. Der Maler male, wie ein Vogel seine Federn herabflattern lasse, eine Schlange ihre Haut abstreife oder ein Baum sich seiner Blätter entledige. Doch da der Mensch, so führt er den Gedanken weiter, nur über eine Farbe verfüge, nämlich sein Exkrement, seien die Flecken seiner Bilder nicht mehr als eine Reihe aneinandergesetzter schmutziger Häufchen. Im Malakt scheint ein ‚Abjektes‘ auf, das die Farbe zu einem Ausgestoßenen macht, das gleichwohl Teil unserer selbst ist, zu einem intimen und zugleich verworfenen Material. Die Nähe zu Merleau-Ponty ist folglich so aufschlussreich wie die Differenz. Auf den ersten Blick scheint es, als rücke Lacan Farbe und Körper in eine ebenso unmittelbare Beziehung zueinander wie Merleau-Ponty. Doch während dieser Farbe und ‚Fleisch‘ (chair) gleichermaßen als ontologische Primärmaterialien versteht, deren Präsenzerfahrung die Oppositionen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Innen und Außen, Körper und Ding aufbebt, beharrt Lacan auf deren Repräsentationsverhältnis. Der Farbfleck ist ein Zeichen, das aufgrund der Geste, die es setzt, zwar in einer unmittelbaren Beziehung zum Maler steht, ihn jedoch lediglich vertritt. Als Zeichen vermittelt es zwischen der Bewegung des Malers und dem Sehen des Betrachters, weist auf das eine zurück und auf das andere voraus. Der Fleck entsteht, wo die Geste des Malers „stockt“ und ein ‚Bild‘ gerinnen lässt, das dem Betrachter hingehalten wird.
Wie die Ausführungen zur Geste des Malens verdeutlichen, begreift Lacan die Malerei als kommunikativen Tausch zwischen zwei gegenläufig ausgerichteten Begehren. Auf den Blick, von dem der Maler sich erfasst sieht – und Lacan betont, dass das Erblicktsein jedem Sehen vorausgehe -, reagiert der Maler nicht mit einer Erwiderung des Blicks, sondern mit dessen ‚Niederlegung‘. Diese vollzieht sich als Gabe, die der Maler dem Blick anbietet: Er zeigt einen Teil seiner selbst und doch nicht sich selbst, indem er, einem Schild oder einer Maske gleich, ein tableau verfertigt, das ihn zugleich verbirgt. „Der Maler“, so Lacan, „gibt dem, der sich vor sein Bild stellt, etwas, das […] in der Formel zusammenzufassen wäre – Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das!“ Der Schautrieb des Betrachters soll durch diese Gabe so weit zufrieden gestellt werden, dass er seinen „gefräßigen“ Blick darin deponiert, „wie man Waffen deponiert“. Ober den ‚Fleck‘ kommunizieren Maler und Betrachter in einem „Augentäuschungsspiel“, dessen Pointe darin besteht, gerade nicht das ‚Eigentliche‘ einzusetzen, sondern vielmehr etwas, das dem Maler erlaubt, dem Blick zu entgehen, sowie dem Betrachter, die Augen darauf weiden zu lassen. Die Dimension des „Trugs“ liegt dabei weniger in einem illusionistischen Vortäuschen des Dargestellten, sondern darin, dass jenes, „was ich erblicke, nie das [ist], was ich sehen will.“
Indem Lacan die Bildfunktion im Rahmen eines Tausches sieht, verschränkt er die Produktionsseite mit der Rezeptionsseite der Kunst. Darin liegt, kunsttheoretisch gesehen, eine der Pointen seines Modells. Das Bild fungiert als Instanz einer Kommunikation, in deren Zentrum der Blick steht – aber als einer, den es auszusperren gilt. In der älteren Kunst kommuniziert der Künstler einen Blick, der, so Lacan, „von weiter herkommt“ und in dessen Auftrag er arbeitet: in der religiösen Malerei den Blick Gottes, in der frühneuzeitlichen höfischen Kunst den Blick des Herrschers. In der Epoche der Moderne hingegen, in der diese souveränen Instanzen ausfallen, verkürzt sich die vierstellige Kommunikationskette (Blick des Anderen – Maler – Bild – Betrachter) zu einer dreistelligen Struktur. Der Maler rückt selbst an die Stelle dieses absoluten Blicks, wodurch er zu jenem ‚Ungetüm‘ wird, von dem Lacan mit Malraux spricht: Immer habe es, so Lacan, beim Bild einen „Blick dahinter“ gegeben, doch in der Moderne sei dieser Blick der Maler selbst.
Ihre Bestätigung findet Lacans Bemerkung in der Rezeptionsperspektive, die erst in der Moderne davon ausgeht, dass es beim Kunstwerk weniger um das Dargestellte gehe, sondern vielmehr um das ebenso fetischisierte wie beargwöhnte Künstlersubjekt, welches das Bild hervorgebracht hat. An der Art und Weise, wie das Werk erscheint, will man erschließen, wie es gemacht worden ist und welchen psychischen, sozialen oder kontextuellen Kräften der Künstler ausgesetzt war. Das Werk wird zur Maske des Künstlers, dessen Physiognomie man darin zu erkennen sucht, und dessen Hervorbringungsakt das stärkere Interesse gilt als der gezeigten Sache selbst.
Aufgrund der strukturellen Reduktion auf die dreigliedrige Kette Künstler-Bild-Betrachter entspricht Lacans Beschreibung der Kommunikationsstruktur moderner Kunst genau dem bereits erwähnten Schema, das die Dreiecke der geometralen Subjektperspektive und der entgegengesetzten Perspektive des ‚Blicks‘ ineinander blendet (vgl. Abb. 3): Obschon dieses Schema weitere Bedeutungsebenen enthält, beschreibt es auch die wechselseitige Durchdringung von Produktion und Rezeption der Kunst. An der Schnittfläche der beiden Dreiecke steht das Bild, dem Lacan zwei gegenläufige Funktionen zuweist. Als image eröffnet es einen imaginären Ausblick auf die jeweils andere Seite, als écran trennt es die beiden Seiten voneinander. Der ‚hinter‘ der Leinwand stehende Maler prägt der Leinwand den Fleck auf, der ihn vertritt, zum Fleck entstellt und vor dem Blick verbirgt. Auf der anderen Seite steht der Betrachter, der im Bild zweierlei (nicht) sieht: das vom Bild Dargestellte (beispielsweise Äpfel oder eine provenzalische Landschaft), sowie in jener spezifisch modernen Überblendung von Subjekt und Sujet auch den Maler. Diese beiden sehr unterschiedlichen Bilder (Bild der Landschaft und Bild des Malers), welche das Bild zu sehen gibt und die sich gegenseitig eigentlich verdrängen müssten, verschmelzen bei Cézanne im Fleck, dessen Pointe im Umschlag zwischen Indexikalität und Ikonizität liegt. Während sich die Landschaft in subjektivierte ‚Berührungen‘ auflöst, entstellt sich der Maler zur fleckigen Bilderhaut.
Werfen wir noch einmal einen Blick auf Lacans Schema, dann fällt daran auf, dass es den Begriff des tableau nicht enthält. Doch der begleitende Text erläutert, dass die Linie rechts, auf welcher der Ort des Subjekts liege, zugleich der Ort des tableau sei. Dies entspricht den Ausführungen der vorhergehenden Seminarsitzung, in der das Schema noch zwei voneinander getrennte Dreiecke aufwies und Lacan am Beispiel der Begegnung mit der in der Sonne glänzenden Sardinenbüchse erläuterte, wie das Subjekt durch den Blick zum tableau werden könne. Dass der Begriff des tableau im kombinierten Schema fehlt, hat allerdings einen heuristischen Sinn. Denn Lacans Ausführungen zufolge befindet sich die Funktion des Gemäldes genau im Übergang zwischen dem Ort des Subjekts und der Schnittfläche der beiden Dreiecke: Um die Gefahr abzuwehren, unter dem Blick zum tableau zu werden, lässt das Subjekt jenes tableau entstehen, das sich je nach Funktion bald als image, bald als écran zeigt.

Kapitel I: Zwei Formen des Relationalen
Kapitel II: ‚Blick‘ und ‚Fleck‘
Kapitel III: ‚Fleck‘ und Farbe
punkt Kapitel IV: Die Geste des Malens
Andy Warhol - Pfeil Kapitel V: Die Funktion des Gemäldes
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Relationale Ästhetik als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 8.8 MB)