Form Inhalt Betrachter Raffael Manet Still

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Zwei Aspekte der Formdynamisierung in der Kunst der Moderne

in: Form. Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis, hrg. v. Armen Avanessian, Franck Hofmann, Susanne Leeb und Hans Stauffacher, Zürich/Berlin 2009, S. 167-188.

Kapitel I: Form/Inhalt: Die Dynamisierung der Kunst als Kommunikat

Die Dynamisierung der Form/Inhalt-Relation lässt sich besonders anschaulich nachvollziehen, wenn wir das Verhältnis zwischen Bild und Betrachter in den Blick rücken. Die Art und Weise, wie sich dieses Verhältnis in der Moderne wandelt, offenbart die Veränderung der Kommunikationsstruktur der Kunst. Dies sei anhand dreier Bildanalysen genauer ausgeführt. Mit dem ersten Beispiel, einem Werk Raffaels, gehen wir zunächst hinter die Moderne zurück, um anschließend über den Frühmodernismus Edouard Manets zu einem ungegenständlichen Gemälde Clyfford Stills zu springen, das ein Höchstmaß kommunikativer Offenheit erreicht, indem dessen ‚Inhalt‘ geradezu konträr aufgefasst werden kann. Wenden wir uns also zunächst dem Gemälde Raffaels zu.

Verschiedene Künstler der Renaissance, sowohl in Italien als auch nördlich der Alpen, entwickelten Narrationsformen, die sich zwischen einem Fokus innerhalb des Bildes und einem Fokus außerhalb des Bildes entfalteten. Das Ergebnis waren ‚transitive Kunstwerke‘, deren Sujets sich erst diesseits des Bildes, im Raum des Betrachters, vervollständigten. Ein Beispiel dafür sind Darstellungen Christi unter den Schriftgelehrten, bei denen Christus weniger die Schriftgelehrten im Bild als vielmehr die Betrachter vor dem Bild zu lehren scheint. Der neuartige Betrachterbezug solcher Bilder hing unmittelbar mit anderen künstlerischen Neuerungen des Quattro- und Cinquecento zusammen, insbesondere der Zentralperspektive mit ihrem berechenbaren Verhältnis zwischen Betrachterstandpunkt und Bildraum.

Die Einbeziehung des Betrachters in die Kommunikationsstruktur des Bildes gelang dabei umso besser, je genauer die räumlichen und situativen Umstände, unter denen das Bild zu sehen sein würde, bekannt waren. Dafür stellt Raffaels Karton, nach dessen Vorlage ein Teppich für die Sixtinische Kapelle gewoben wurde, ein einschlägiges Beispiel dar. Raffaels Ananiastod handelt von der Macht, die Christus seinem Jünger und Stellvertreter Petrus verliehen hatte. Das Bildthema entstammt der Apostelgeschichte und erzählt von einem Mitglied der Jerusalemer Urgemeinde, der durch ein Strafwunder getötet wurde, als er sich der Gütergemeinschaft entziehen und einen Teil seines Besitzes zurückbehalten wollte. In der kurialen Deutung symbolisierte das Ereignis das päpstliche Instrument der Exkommunikation. Wer nun das Privileg besaß, in die Sixtinische Kapelle einzutreten, sah den Papst frontal vor sich thronen und erblickte Raffaels Teppich unmittelbar rechts neben diesem. Der Bezug zwischen dem in physischer Gegenwart thronenden Papst und dem Bild, auf dem Petrus als derjenige auftrat, dem Christus Macht und Autorität übertragen hatte, war evident. In Raffaels Komposition steht der in Blau und Gelb gekleidete Petrus frontal und von weiteren Aposteln gerahmt auf einem Podium. Der Bezug des Betrachters zu den Aposteln auf dem Podium wiederholt diejenige zwischen den Aposteln und den Figuren im Vordergrund. Sowohl den Figuren im Bild als auch dem Betrachter tritt Petrus mit derselben Strenge entgegen. Der verurteilte Ananias, der eben noch unter den Vordergrundsfiguren stand, fällt im Augenblick des Strafwunders aus deren Reihe heraus und dem Betrachter sozusagen vor die Füße. Die Warnung an diejenigen, die hier vor dem Papst und zugleich vor Raffaels Bild standen, war eindeutig. Das festgelegte Zeremoniell, für welches das Bild in Auftrag gegeben wurde, erlaubten Raffael die Entwicklung einer wohlkalkulierten bildnerischen Rhetorik, die der Form die Funktion zuwies, den propagandistischen Inhalt des Bildes möglichst überzeugend zu kommunizieren. Die Elemente dieser Bildform (die symmetrische Komposition, der amphitheatrale Handlungsraum, die Zentralität der Hauptfiguren, die sinnfällige Verkettung der Gesten und Blicke sowie der ideale Betrachterstandpunkt) wirkten auf je eigene Weise daran mit, das Geschehen ebenso übersichtlich wie sinnfällig darzustellen und den Betrachterbezug so zu organisieren, dass die Botschaft ihren Empfänger erreichte.

Kontrastieren wir Raffaels frühneuzeitlicher Bildform die exemplarisch moderne Edouard Manets. Im Balkon erscheint Raffaels klassische Bildform radikal ‚umgebaut‘. Ein erster Schritt besteht darin, die Figuren bis zur Bildgrenze nach vorne zu ziehen. Die Raumtiefe, die sich bei Raffael zwischen dem Betrachter und den Jüngern erstreckt, öffnet sich erst hinter den Figuren bzw. hinter der Balkontür, welche die Bildfläche innerbildlich zu wiederholen scheint. In das leer wirkende Zimmer dringt der Blick jedoch kaum vor, da das Licht, das frontal ins Bild fällt, es nicht zu erhellen vermag. Das Fenstermotiv verspricht einen Einblick und verwehrt ihn zugleich. In genau entgegengesetzter Richtung, aus dem Dunkel ins Licht, sind die Figuren getreten. Sie befinden sich jetzt im schmalen Bereich zwischen der Balkontür und der vorderen Bildgrenze, also genau auf der Schwelle zwischen Innen und Außen. Von hier aus blicken sie in den Raum, in dem der Betrachter steht und woher das Licht sie beleuchtet. Selbstvergessen schauen sie in unterschiedlicher Richtung auf etwas, was der Betrachter nicht sehen kann. Dafür müsste er um das Bild herumgehen und die Position der Figuren einnehmen. Könnte er dies, wäre die ‚Transitivität‘ von Raffaels Ananiastod wiederhergestellt: Dem Sehen entspräche eine gesehene Welt. Stattdessen aber verschränkt Manets Balkon Sehen und Unsichtbarkeit, indem der Betrachter lediglich sieht, dass er nicht sehen kann, was andere sehen.

Im Balkon, in dem die Zeit stillzustehen scheint, werden die Blicke aus dem bzw. ins Bild zum einzigen ‚Geschehen‘. Kreuzen sich bei Raffael die Blicke der Jünger und des Betrachters im Bereich des Bühnenraums, also innerhalb des Bildes, so bei Manet auf der Bildfläche selbst. Nicht zufällig wird diese durch das Balkongitter prominent markiert. Dass das Gitter zum Bildraum gehört, zeigt der aufgestützte Arm der sitzenden Frau; zugleich aber scheint es in eigentümlicher Weise vor dem Bild zu liegen. Auf diese Weise markiert es genau diejenige Stelle, an der sich die ontologisch unvereinbaren Räume des Bildes und des Betrachters ‚berühren‘.

Sowohl Raffaels als auch Manets Bild rechnen mit dem Betrachter, auf den sie ausgerichtet sind. Dabei etabliert Raffaels ‚transitiver‘ Modus eine kommunikative Kette, deren Glieder (Betrachter, Bildfiguren, Sehen, Handeln) ineinandergreifen. Demgegenüber entwickelt Manet einen ‚intransitiven‘ Modus, der das Sehen vom Gesehenen und vom Handeln ablöst. Die ‚Begegnung‘ zwischen Bildfiguren und Betrachter bleibt defizitär, da die abwesend wirkenden Figuren am Betrachter vorbei- oder durch ihn hindurchsehen. Während bei Raffael die beiden Bedeutungen von ‚cela me regarde‘ (‚es schaut mich an‘ und ‚es geht mich an‘) ineinandergreifen und der hergestellte Blickkontakt dazu dient, den biblischen bzw. kurialen Bildinhalt zu transportieren, bleibt bei Manet der ‚Inhalt‘ der Blicke unbestimmt, da die Figuren weder untereinander, noch, wie der Betrachter erkennen muss, mit ihm kommunizieren.

Manets ‚Intransitivität‘ bedeutet, dass sich der ‚Inhalt‘ von der ‚Form‘ nicht trennen lässt, sondern die Bildform zum eigentlichen ‚Inhalt‘ wird. Darin manifestiert sich jene ‚Autonomisierung‘ der Malerei im 19. Jahrhundert, in der Manets Œuvre einen zentralen Platz einnimmt. Sie zielte darauf, alles ‚Literarische‘ abzuwehren und durch die Selbstreflexion genuin bildlicher Kommunikationsformen zu ersetzen. Während Raffaels Bild ein ‚heteronomer‘ Text (eine Passage aus der Apostelgeschichte) zugrundeliegt, ist der Bildinhalt des Balkon insofern ‚autonom‘, als er nicht nur der Textgrundlage entbehrt, sondern vor allem aus einer rein visuellen Szene besteht, die zugleich die Differenz zwischen Bild und Wirklichkeit sowie das Verhältnis von Bild und Betrachter reflektiert. Manet inszeniert ein perspektivisch eingeschränktes, ‚subjektiviertes‘ Sehen, das in der gegenläufigen Blickbewegung der Bildfiguren und des Betrachters die ontologische Grenze des Bildes ebenso überspielt wie betont. Erfahrbar wird die ‚Unbeobachtbarkeit der Welt‘, die unserer standpunkt- und medienabhängigen Sicht auf die Welt geschuldet ist. ‚Sehen‘ erweist sich als „raumzeitlich situierte Operation“, als temporalisierte, instabile und ausschnitthafte Begegnung mit der Welt.

In der Kunst nach Manet schwand der ‚Bühnenraum‘ des Bildes weiter – bis zum Punkt, an dem, nach einer Formulierung Clement Greenbergs, „die Kulisse mit dem Vorhang zusammenfiel“ und kein innerbildlicher Raum mehr greifbar war. Solches geschah beispielsweise in der US-amerikanischen Farbfeldmalerei, aus der ich ein Gemälde Clyfford Stills aus dem Jahre 1951 herausgreife. Die Form/Inhalt-Relation dynamisiert sich hier weiter, was erneut anhand des Bild-Betrachter-Verhältnisses analysiert sei.

Den Anspruch, den Clyfford Still an seine Malerei stellte, war hoch:

„Wenn ich ein Gemälde ausstelle, möchte ich es sagen lassen: ‚Hier bin ich; das ist meine Präsenz, mein Empfinden, mein Selbst. Hier stehe ich, unerbittlich, stolz, lebendig, nackt, furchtlos. Derjenige, dem das missfällt, sollte sich abwenden, weil ich ihn ansehe. Ich verlange nichts. Ich mache nur geltend, dass ich es vermag, in der Totalität meines So-Seins […] dazustehen. ‚“

Stills Absicht gemäß hat das Bild ein eigenes ‚Ich‘, das den Betrachter ‚anblickt‘; die Bildform ist intendiert als ein zwar nicht figuraler, wohl aber ‚psychischer‘ Anthropomorphismus. Künstlerisch umgesetzt wurde dies durch eine riesige Leinwand von 297 x 266 cm, auf der ein expandierendes Monochrom lediglich an den Randzonen von schmalen, energetisch verlaufenden Farbzonen kontrastiert wird. Die aufragende, durch keinen Horizont geteilte Flächigkeit sprengt die Dimensionen und die kompositorischen Gesetze des traditionellen Staffeleibildes. Es zielt auf ein ‚Ganzes‘, das sich nicht aus ‚Teilen‘ aufbaut, sondern als eine einzige Setzung erscheint, die sich aufgrund ihrer Größe dem Überblick entzieht. Stills Praxis partizipierte an jener Paarung von Erhabenheitsästhetik und Existentialismus, die, befördert durch entsprechende Äußerungen Barnett Newmans, schon den Zeitgenossen als Charakteristikum des Abstrakten Expressionismus galt. Das Streben nach malerischer Autonomie, von der bereits in Bezug auf Manets antiliterarische Kunst die Rede war, steigerte Still ins Extrem, indem er die eigene Malerei von allen Bindungen abgelöst sehen wollte. Der Weg dorthin war ein willentlicher Archaismus. Zusammen mit Mark Rothko, Adolph Gottlieb, Jackson Pollock und Barnett Newman gehörte Still, der seinen noch gegenständlichen Bildern Titel wie Totemic Fantasy (1938) gab, zu den sogenannten ‚myth-makers‘, die in ihren frühen Bildern nach malerischen Symbolen ‚primitiven‘ Ausdrucks suchten. Den ‚Mythos‘ begriffen sie nicht als Erzählung, sondern als einen kulturellen und psychischen Prozess, der für ein integratives Naturverhältnis wie zugleich für die Arbeitsvorgänge des Unbewussten stand. Im Rückgang ins ‚Mythische‘ suchten sie den Kontakt mit den Anfängen der Menschheitsgeschichte. Denn benötigt wurde, wie Still es formulierte, „ein neuer Beginn“ auf einem „gänzlich freien Feld“. Die Entwicklung der Kunst sollte von ihrem Beginn her noch einmal durchlaufen, in der Ontogenese des Werkes die Phylogenese der Kunst ‚wiederholt‘ werden – allerdings unter Auslassung der „zusammengestückelten und sterilen Schlussfolgerungen der westlichen europäischen Dekadenz“ und des „ganzen literarischen Mythos, den man Kunstgeschichte nennt“.

Stills Durchbruch zur Abstraktion ist vor diesem ‚primitivistischen‘ Hintergrund zu sehen. Zeigte das Frühwerk wüste, leere Landschaften, in denen einsame, wie trockenes Holz splitternde Figuren aufragten, verzahnten sich Figur und Raum im Laufe der 1940er Jahre immer mehr, bis sie „zu einer totalen psychischen Einheit“ verschmolzen. Diese ‚Einheit‘ führte zu jenem ‚Hier bin ich‘ des Bildes, das Still zugleich als Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit verstand: „In gewissem Sinne sind all die Bilder Selbstporträts; die Figur steht hinter allem, bis sie sich schließlich explosionsartig über die Leinwand hin ausbreitet.“

Die meisten Kritiker und Interpreten begriffen Stills wandartige Gemälde allerdings weniger als Selbstporträts denn als Evokation der ‚erhabenen‘ Natur des amerikanischen Westens, seiner weiten Ebenen und schroffen Felsformationen. Das expandierende ‚all-over‘ seiner Leinwände erschien als Weiterentwicklung von Claude Monets breitgestreckten Seerosen und folglich als zeitgenössische Variante der Landschaftsmalerei. Damit aber standen sich zwei genau gegenläufige Bildauffassungen gegenüber. Entweder erschien das Bild als Expression des künstlerischen Ichs, oder aber als Impression der Natur. Über den ‚Inhalt‘ des Bildes entschied die Perspektive, aus welcher der Betrachter es auffasste. Begriff er es als Ausdruck künstlerischer Subjektivität, erfuhr er die Präsenz des Bildes wie einen ‚Blick‘, der sich auf ihn richtet – als ‚Blick‘ des Malers in der ‚Totalität seines So-Seins‘. Stills Gemälde wurden dann zu Exponenten jener Moderne, in der sich der ‚Blick‘, nach einer Bemerkung Jacques Lacans, nicht länger auf ein Element im Bild, sondern auf das Bild als Ganzes bezieht. Denn in der modernen Malerei werde, so Lacan, das „Ungetüm ohnegleichen“ eines Malerblicks vorherrschend, „der sich als einer aufzwingen möchte, der, er alleine, Blick ist“.

Man konnte die Perspektive indes auch genau umkehren und im Bild einen unbegrenzten imaginären Raum erkennen, der sich dem Betrachter eröffnete. Genau diese Perspektive nahm Clement Greenberg ein, der Stills Malerei raumillusionistisch auffasste. Dass diese Malerei die plane Oberfläche, den Umriss des Bildträgers und die Eigenschaften der Farbstoffe in den Vordergrund rücke, zerstöre, so Greenberg, nicht den malerischen Illusionismus überhaupt, sondern lediglich den klassischen, auf messbare Räumlichkeit und greifbare Gegenstände zielenden Illusionismus, wie ihn das Trompe-l’oeil in Reinform verkörpere. Wenn dieser klassische Illusionismus nun abgebaut werde, geschehe dies „im Namen einer rein und ausschließlich optischen Erfahrung“, deren Gewinn in einer bislang unbekannten Bildpräsenz liege. Denn hier sei das Auge in der Lage, sich im Trugbild eines Raumes zu bewegen, der kein Partialraum mehr sei wie in der traditionellen Kunst, sondern Raum schlechthin: „Die Bildfläche als totales Objekt repräsentiert Raum als totales Objekt.“

Totalität des Subjekts versus Totalität des Objekts: Die beiden Bildinhalte, die gegensätzlicher nicht sein könnten, schlagen ineinander um, je nach der Perspektive, aus der die Bildform aufgefasst wird. Die Kapazität der ‚Form‘, ins jeweils andere umzuschlagen, liegt zum einen an Stills Antinaturalismus, der offen lässt, was genau das Bild zeigt. Zum anderen liegt sie am Wegfall messbarer Räumlichkeit, die anzeigen könnte, von welchem Standort aus der Betrachter blickt, so wie es exemplarisch in zentralperspektivischen Bildern geschieht, die zusammen mit dem empirischen Raum auch den Blickpunkt des Betrachters konstruieren. Indem hier der Fluchtpunkt als innerer Bildfokus verschwindet, fällt zwangsläufig auch der Betrachterstandpunkt als äußerer Bildfokus weg. Dadurch aber wird die Beziehung zwischen Bild und Betrachter ebenso unbestimmt wie das, was das Bild zu sehen gibt.

Diese Unterdetermination der ‚Form‘ provoziert die Überdetermination des ‚Inhalts‘, welche die kommunikative Leistung des Bildes vervielfacht. Diese Vervielfachung lässt sich folgendermaßen formalisieren: Aus der Perspektive des Künstlers gesehen, ist das Kunstwerk entweder eine Darstellung der Welt, beispielsweise die Darstellung ‚totalen Raums‘, so wie es Greenberg begriff, oder aber die Expression des Selbst, so wie es Clyfford Still intendierte. Aus der Perspektive des Betrachters hingegen ist das Kunstwerk entweder der Ort eines Erscheinens der Welt, beispielsweise der erhabenen Natur, oder aber das Zeugnis eines Hervorbringungsaktes, in welchem die Handschrift, ja, die ‚Gestalt‘ des Künstlers erkennbar wird, hier beispielsweise als Manifestation eines ungestümen malerischen und existenziellen Dranges nach Autonomie. Indem sich diese vier unterschiedlichen Perspektiven nicht ausschließen, sondern das Kunstwerk gleichsam nur anders ‚wenden‘, bezeugen sie eine Dynamisierung der Form/Inhalt-Relation, die in der ungegenständlichen Kunst einen Höhepunkt erreicht. Dies hat zur Folge, dass in der Moderne jene Zentralmetaphern verschwinden, die, wie beispielsweise Leon Battista Albertis Metapher vom Bild als einem ‚geöffneten Fenster‘, durch das hindurch der Betrachter eine imaginäre Szene erblickt, die gesamte frühneuzeitliche Epoche der Malerei abdeckten. Auf die Frage, was ein Bild sei, werden nun ganz unterschiedliche Antworten gegeben, indem es wechselnd als ‚Index‘, ‚Schirm‘, ‚Deixis‘ oder ‚Erscheinen‘ aufgefasst wird und entsprechende Ästhetiken der Kunst (Ausdrucksästhetik, Rezeptionsästhetik oder Darstellungsästhetik) auf diesen unterschiedlichen Auffassungen aufbauen. Dabei aber handelt es sich, wie anhand von Clyfford Stills Gemälde deutlich werden sollte, nicht um verschiedene Bildtypen, sondern um Aspekte desselben Bildes.

Einleitung
Punkt Kapitel I: Form/Inhalt: Die Dynamisierung der Kunst als Kommunikat
Pfeil Kapitel II: Materie/Form: Die Dynamisierung des Kunstwerks als Artefakt
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Stoff Form Materie Inhalt Dualismus

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Zwei Aspekte der Formdynamisierung in der Kunst der Moderne

in: Form. Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis, hrg. v. Armen Avanessian, Franck Hofmann, Susanne Leeb und Hans Stauffacher, Zürich/Berlin 2009, S. 167-188.

„Die moderne Kunst beginnt in genau dem Augenblick, in dem dieselben Ursachen aufhören, dieselben Wirkungen hervorzubringen. Sie vereitelt die Reproduktion des Gleichen, die Zeugung desselben durch dasselbe.“ (Denis Hollier)

Einleitung

Seit Aristoteles‘ Metaphysik ist der Formbegriff in den Dualismus von Stoff und Form eingespannt. Im Bereich der bildenden Kunst entfaltet sich dieser auf zweierlei Weise: als Dualismus von Form und Inhalt sowie als Dualismus von Materie und Form. Die Stellung des Formbegriffs in diesen beiden Begriffskoppelungen ist allerdings konträr. Wird (wie in der älteren Kunsttheorie) das Kunstwerk als Repräsentation aufgefasst, erscheint der Inhalt als dessen eigentlicher Gehalt. So verfuhr auch die lange Zeit maßgebliche kunstwissenschaftliche Methode der Ikonologie, die den Inhalt als das ‚Wesen‘ des Kunstwerks, die Form (bzw. den ‚Stil‘) hingegen lediglich als dessen Gefäß begriff. Zur Kunst der Moderne passten das ikonologische Kunstverständnis und das ihm zugrunde liegende Repräsentationsmodell immer weniger. Die normativen Inhalte, die insbesondere die hohen Bildgattungen der religiösen und profanen Historienmalerei mit darstellungswürdigen Stoffen versorgt hatten, fielen im 19. Jahrhundert allmählich aus oder liefen leer, mit der Folge, dass die ikonologisch bestimmbare Inhaltsseite zunehmend schwerer als der Gehalt der Kunst betrachtet werden konnte. Das Ende dieses Modells war mit der ungegenständlichen Kunst erreicht, welche die Unterscheidung von außerkünstlerisch vorgegebenem Inhalt und künstlerisch realisierter Form undurchführbar werden ließ. Hier nun setzten Formästhetiken an, für welche die Formgebung das Entscheidende am Kunstwerk war. Im Übergang von der Inhalts- zur Gestaltästhetik vollzog sich zugleich der Wechsel vom Begriffspaar Form/Inhalt zum Begriffspaar Materie/Form, und in diesem letzteren dominierte eindeutig der Pol der Form. Das Vermögen der Kunst bestand nun nicht mehr in der Veranschaulichung signifikanter Inhalte, den die Form lediglich ‚transportierte‘, sondern in der Leistung, Materie (Leinwand, Farbe, Holz oder Stein) in sinnhafte Form zu verwandeln, wofür das Bildsujet häufig nur noch den äußerlichen Anlass bildete.

Was meint nun angesichts dieser beiden Begriffsdualismen ‚Dynamik der Form‘? Meine These lautet: Was sich in der Kunst der Moderne dynamisiert, ist nicht allein die Form (als unvollendete, offene, seriell wiederholte oder ephemere Form), sondern vielmehr die Relation der jeweils verkoppelten Begriffe. Die Relation von Form und Inhalt dynamisiert sich, indem die jeweilige Auffassung der künstlerischen Form darüber entscheidet, was dem Kunstwerk als Inhalt zugeschrieben wird, und die jeweilige Bestimmung des Inhalts darüber entscheidet, wie die künstlerische Form uns erscheint. Fraglich wird hier das Kunstwerk als Kommunikat. Die Relation von Materie und Form dynamisiert sich, indem das Kunstwerk die Formgebung als einen Prozess offenlegt. Der Streit zwischen Materie und Form wird auf Dauer gestellt, das Unvollendbare oder die Umkehrbarkeit des Formprozesses als Kunstwerk ausgestellt. Fraglich wird hier das Kunstwerk als Artefakt.

Beide Dynamisierungsprozesse sind, wie im Folgenden deutlich werden wird, eng miteinander verflochten. Aus analytischen Gründen sollen sie gleichwohl getrennt und nacheinander analysiert werden. Dies geschieht jeweils anhand von exemplarischen Werkbeispielen, womit dem Umstand Rechnung getragen wird, dass die Formdynamisierung in jedem Kunstwerk spezifisch ist.

Punkt Einleitung
Pfeil Performance Kapitel I: Form/Inhalt: Die Dynamisierung der Kunst als Kommunikat
Kapitel II: Materie/Form: Die Dynamisierung des Kunstwerks als Artefakt
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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst

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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst

in: Grenzen der Karthasis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin/New York 2009, S. 199-230.
Inhalt:

Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit

Kapitel II: Performance als künstlerische Form

Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater

Kapitel IIb: Der Betrachterbezug von Performances

Kapitel IIc: Performer versus Schauspieler

Kapitel IId: Das Ende einer Performance

Kapitel III: Katharsis und Kritik

Kapitel IV: Resümee

Performance Kunst Leben Subjekt Medium

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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst

in: Grenzen der Karthasis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin/New York 2009, S. 199-230.

Kapitel IV: Resümee

Die Performance-Kunst agierte auf zwei Seiten zugleich, auf der Seite des Lebens und auf der Seite der Kunst, und sie tat es so, daß sie nicht das eine ins andere überführte, sondern beides so übereinanderlegte, daß das eine nur durch das andere hindurch sichtbar wurde. Performances legten es auf Augenblicke der Berührung an, die zugleich eine Einheits- und eine Zweiheitserfahrung eröffneten. Dies galt für die Kunst/Leben-Dialektik ebenso wie für die Inszenierung des Performers, der zugleich als aktives Subjekt, vermittelndes Medium und als passives Objekt der Handlung erschien. Indem die Pointen der Arbeiten sich vor allem denjenigen Betrachtern erschlossen, die deren Grenzgang zwischen Kunst und Leben erkannten und zu schätzen wußten, stellte sie hohe Anforderungen an die Rezipienten. Was ihnen als Kunstwerk geboten wurde, hatte den Status eines „unsicheren Objektes“, wie es der Kunstkritiker Harold Rosenberg nannte, das entweder ein Meisterwerk oder Schund – oder beides zugleich – sein konnte. Die kritische Befragung der Kunst und der Bedingungen menschlicher Subjektivität erreichte damit vornehmlich jene, denen die angesprochene Problematik ohnehin nahe stand. Dem breiteren, mit den Regeln der ‚Kunstwelt‘ nicht vertrauten Publikum hingegen mißlang die ‚willing suspension of belief‘, welche die Performance-Handlungen als Kunsthandlungen etablierten und dadurch erst erträglich und sinnhaft werden ließen, in den meisten Fällen. Sofern es Zeuge von Performances wurde oder – was häufiger geschah – durch die Presse davon erfuhr, reagierte es aufgebracht und ablehnend. So bleibt das Vermächtnis der Performance-Kunst ein gebrochenes: Die Erprobung neuartiger, zeit- und prozeßbasierter künstlerischer Produktions- und Rezeptionsformen sowie die Unerbittlichkeit künstlerischer Selbstbefragung setzte Maßstäbe, die bis heute nachwirken. Als Arbeit an den Begriffen der Kunst und des Künstlers war sie ebenso radikal wie folgenreich. Ihre Wirkungsmöglichkeiten über die Kunst hinaus, sei es im gesellschaftspolitischen Sinne als Veränderung realer Verhältnisse oder im psychologischen Sinne als Stabilisierung des individuellen Gefühlshaushaltes, waren, sofern sie überhaupt danach strebte, äußerst begrenzt. Das mußten nicht zuletzt die Künstler selbst feststellen. Zumindest für Acconci war dies der Grund, seine Performance-Tätigkeit zu beenden und sich einem anderen Feld, in seinem Fall dem Grenzgebiet von Architektur, Skulptur und Raumplanung, zuzuwenden, um eine greifbarere gesellschaftliche Wirkung zu entfalten.

„Meine ‚Performances'“, schrieb Acconci rückblickend,

„versprachen mehr als sie (oder ich) realisieren konnten (oder wollten). Der Performer blieb am Ende ein Performer, das Publikum blieb am Ende ein Publikum […] Am Ende kannten wir alle unseren Platz und behielten ihn; diese Welt war nicht real, sondern nur ein Modell, das auf die Dauer zu fragil war, um von Menschen betreten zu werden – der Raum, der erlebnisbezogen hätte sein sollen, erwies sich schließlich als lediglich visuell, die Aktion hätte ebenso gut ein Bild sein können (was sowieso die Art und Weise war, wie sie historisch bewahrt wurde).“

Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit
Kapitel II: Performance als künstlerische Form
Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater
Kapitel IIb: Der Betrachterbezug von Performances
Kapitel IIc: Performer versus Schauspieler
Kapitel IId: Das Ende einer Performance
Kapitel III: Katharsis und Kritik
Punkt Performance Kapitel IV: Resümee
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Performance Psychoanalyse Kritik Abramovic Acconci

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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst

in: Grenzen der Karthasis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin/New York 2009, S. 199-230.

Kapitel III: Katharsis und Kritik

Performances können insbesondere dann kathartische Wirkungen zugeschrieben werden, wenn einzelne Elemente wie die vollzogene Handlung oder die hervorgerufenen Schmerzen aus dem konzeptuellen Gesamtgefüge herausgelöst werden. Ihnen wird die Kraft zugeschrieben, Emotionen abzuführen oder aber innere Erstarrungen aufzubrechen. Ob und inwiefern sie das zu leisten vermögen, liegt als Frage jenseits meines Argumentes. Mein Punkt ist vielmehr derjenige, daß ein solches Herauslösen die spezifisch künstlerischen Strukturen von Performances verkennt. Die Berücksichtigung dieser Strukturen stellt jedoch den ersten und unumgänglichen Schritt für jeden Versuch dar, die Eigenart und die Wirkung von Performances zu verstehen. Dann aber zeigt sich, daß das Katharsis-Konzept, das Aristoteles im Blick auf die theatrale Form der Tragödie entwickelte, auf Performances nicht angewandt werden kann. Dafür sind die strukturellen Differenzen zwischen Theater und Performance, beispielsweise was den Status der jeweiligen Akteure, die jeweilige künstlerische Rahmung des Geschehens oder die (Nicht-)Narrativität der Handlung betrifft, zu markant.

Doch läge es nicht ohnehin näher, auf ein anderes Katharsis-Konzept zurückzugreifen: auf das psychoanalytische? Sollten wir Performances nicht eher als ‚kathartische Kuren‘ auffassen, die dem Performer und/oder dem Zuschauer ermöglichten, das in ihrem Unbewußten Aufgestaute oder Verdrängte hervorzuholen und abzuführen?

Bei der Einschätzung, ob dieses Konzept den Absichten und Wirkungen von Performances angemessener ist, kehren wir in gewisser Weise noch einmal an den Ausgangspunkt dieses Textes zurück. Die Performance-Kunst traf auf ein Zeitklima, in welchem das bewußte Ich als Wurzel allen Unglücks begriffen wurde, als erstes Glied in einer semantischen Kette, die als weitere Glieder ‚Rationalität‘, ‚männliches Subjekt‘, ‚repressive Gesellschaft‘, ‚kapitalistische (Kriegs-)Wirtschaft‘, ‚Patriarchat‘ oder ‚autoritäre Erziehung‘ umfaßte. Jeder Versuch, dem Unterdrückten aufzuhelfen, wurde begrüßt: als Beitrag, der individuellen und gesellschaftlichen Entfremdung entgegenzuarbeiten und – wie es der US-amerikanische Performance-Künstler Vito Acconci durchaus selbstkritisch formulierte – „sich selbst zu finden, das Selbst als ein kostbares Juwel, das irgendwo verloren war“. Wenn wir das psychoanalytische Konzept so weit fassen, daß es nicht nur jene unkorrekt durchgeführten Analysen umfaßt, die Freud als „wilde“ bezeichnete, sondern auch die von Laien aufgrund von psychoanalytischen Wissensbrocken vollzogenen (Selbst-)‚Therapien‘, dann konnte die verstörende Drastik gewisser Performances tatsächlich als therapeutische Kur aufgefaßt werden.

Sobald wir uns aber fragen, wie man sich eine solche Psychohygiene durch Performance-Kunst genauer vorzustellen hat, ergeben sich erneut Schwierigkeiten, und zwar wiederum aufgrund struktureller Unterschiede. Eine erste Differenz ist medialer Art: Die psychoanalytische Kur vollzieht sich durch das Sprechen des Analysanden, während Performances selbst dann, wenn sie auch Sprache einsetzten, ihr Medium im Körper bzw. in körperbasierten Handlungen fanden. Der zweite grundlegende Unterschied besteht in den Rollen und Interaktionsformen der beteiligten Akteure. Das psychoanalytische Szenario erzeugt eine enge Beziehung zwischen Arzt und Patient, und zwar in erster Linie durch das, was Freud als „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ bestimmte: Der Analysand aktualisiert seine unbewußten Wünsche, indem er sie auf den Arzt überträgt, während der Analytiker wiederum unbewußt auf die Übertragungsaktivität seines Patienten reagiert. Dieses Szenario ist mit demjenigen bei einer Performance in keinerlei Hinsicht vergleichbar, weder bezüglich der Rollen (sind der Performer bzw. das Publikum eher Arzt oder Patient, oder gar beides zugleich?) noch bezüglich der Interaktion (wer überträgt in Performances was auf wen?). Umgekehrt gibt in der psychoanalytischen Therapie weder die Position des Performers, der mit und an sich eine frei bestimmte Aktivität entfaltet, noch die des Zuschauers, der sich dem Geschehen gegenüber aufmerksam abwartend verhält, indem er jenes ‚stille Einverständnis‘ und jene ‚willing suspension of belief‘ praktizierte, von denen die Rede war. Während das aristotelische Konzept nicht greift, weil es sich auf eine andere Kunst bezieht, läßt sich das psychoanalytische Konzept nicht anwenden, weil es einer Therapiemethode außerhalb der Kunst entspringt. Die Übertragung auf Performances führt nicht nur zu deren misreading, sondern auch dazu, daß solche Konzepte ihre Bestimmungskraft verlieren.

Meiner Ansicht nach sollten Performances weder als kathartisch wirkende theatralische Aufführungen noch als kathartische Kuren gedeutet werden, sondern vielmehr als präzise konzipierte Herausforderungen künstlerischer Normen, die in kritischer Absicht vollzogen werden. Als voraussetzungsreiche Kunstform appellierten sie ebensosehr an das emotionale ‚Mitgehen‘ wie an die kognitive Verarbeitung seitens der Zuschauer, ja, die Untrennbarkeit der beiden Verläufe gehörte zu den Grundüberzeugungen der Performance-Kunst. Zwei Stoßrichtungen der Kritik lassen sich unterscheiden; sie entsprechen dem doppelten Wortsinn von ‚Kritik‘ als unterscheidendes, erkennendes Sehen sowie als Infragestellung und Negation.

Das unterscheidende, erkennende Sehen richtete sich auf unterschiedliche Erkenntnisinhalte, die sich jedoch darin berührten, daß es jeweils um den Bezug zwischen Bereichen, Zuständen und Eigenschaften ging, die ein herkömmliches Verständnis als gegensätzlich ansah. Es richtete sich beispielsweise auf den Status des Subjekts, indem Performances dessen Spaltung in Subjekt-, Medium- und Objektaspekte sowie in Bewußtes und Unbewußtes hervortrieben, so wie dies zur gleichen Zeit – ohne daß ein direkter Einfluß nachzuweisen wäre – Jacques Lacans strukturalistische Psychoanalyse herausarbeitete. Oder es erforschte Subjektivität als jene Kontaktgrenze von Körper und Raum, die Bruce Nauman, angeregt durch gestalttherapeutische Ansätze, in seinen frühen Arbeiten inszenierte. Dabei ging die Performance-Kunst davon aus, daß die entsprechenden Erkenntnisse nur durch konkretes körperliches Agieren zu erlangen waren. Ein Bewußtsein seiner selbst, so formulierte es Nauman, gewinne man nur durch ein gewisses Maß an Aktivität und nicht, indem man nur über sich nachdenke. Man mache Übungen, trainiere, werde sich des eigenen Körpers bewußt. Das geschehe nicht, wenn man Bücher lese.

Das Konzept der Bewußtsteinssteigerung durch körperliches Training verfolgten auch Abramovic/Ulay. In jeder Zelle seines Körpers verfüge der Mensch über eine Energie, die er nie nutze, so Abramovic. Performances aktivierten diese Energie und tauschten sie unter den Akteuren aus. Dabei kreuzte sich die Energie, die zwischen den beiden Performern floß, mit derjenigen, die sich zwischen ihnen und dem Publikum aufbaute. Diese Eigenart, die unmittelbar mit dem Umstand zu tun hatte, daß sie als Performerpaar agierten, war bereits an Talking about Similarity ablesbar. In einer anderen Performance, die den Titel Imponderabilia trug, wurde diese Überkreuzung zur eigentlichen Pointe der Arbeit. Im Juni 1977 stellten sich die beiden Performer nackt in den engen Eingangskorridor der Galleria Communale d’Arte Moderna in Bologna, mit der Folge, daß alle, die das Museum betraten, sich zwischen den beiden Körpern hindurchzwängen mußten. Dabei hatten sie das Kraftfeld zu durchqueren, das sich zwischen den beiden Performern, die sich unverwandt anblickten, aufbaute. Zugleich mußten sie sich entscheiden, ob sie sich der Frau oder dem Mann zuwenden wollten – eine Unwägbarkeit, die der Arbeit ihren Titel Imponderabilia gab. Wie die photographischen Dokumente der Aktion zeigen, neigten die Männer dazu, sich der Frau zuzuwenden und damit die Körperstellung Ulays zu verdoppeln, und umgekehrt. Wer im Innern des Museums ankam, lief auf eine Wand zu, auf der die Künstler das Ziel der Performance als Untersuchung der Beweggründe menschlichen Verhaltens bestimmten. Wenn die Besucher dort ankamen, war für sie die Performance bereits vorbei. Deren Anfang und Ende fiel mit dem Hindurchgehen durch die Eingangspforte zusammen, während der Museumsraum, in dem sie nun standen, zum Ort wurde, an dem sie ihr Verhalten nachträglich reflektieren sollten.

Die bei solchen Performances geweckten Emotionen waren, das sei noch einmal betont, jeweils nicht das Ziel – weder bei den Performern noch bei den Zuschauern -, sondern lediglich ein Mittel, der Untersuchung die nötige Schärfe zu verleihen. Abramovic betonte zudem, daß der Schmerz, der im Rahmen gewisser Performance durchlitten werde, für die Bedeutung ihrer Performances irrelevant sei. Die Untersuchungen waren vielmehr auf etwas gerichtet, was man verallgemeinernd als conditio humana bezeichnen könnte. Davon kann es gesteigerte Erfahrungen geben, jedoch keine kathartische Reinigung. Die Unerbittlichkeit der meisten Performances, im Zusammenspiel mit der Offenheit, in die sie die Zuschauer entließen, deuten sogar eher darauf hin, daß sie es darauf anlegen, Katharsis im Sinne einer kontrollierten Emotionsabfuhr zu verweigern.

Das kritische Moment der Performance-Kunst umfaßte jedoch auch die Bedeutungsdimension von ‚Kritik‘ als Infragestellung und Negation. Diese konnten sich auf künstlerische Konventionen ebenso beziehen wie auf gesellschaftspolitische Themen. Letzteres müßte mit Blick auf viele einzelne Arbeiten diskutiert werden und sprengte, da es sich nicht zu Strukturmerkmalen verallgemeinern ließe, den Rahmen dieses Textes. Deshalb beschränke ich mich auf ersteres: auf die in der Performance-Kunst artikulierte Kritik an überkommenen künstlerischen Normen. Ich greife diesen Aspekt auch deshalb heraus, da hier tatsächlich eine ‚reinigende‘ Wirkungsabsicht greifbar wird, nämlich der Versuch, durch die eigene künstlerische Praxis einen als reduktiv und entfremdet begriffenen Zustand aufzubrechen. Mit dieser Wirkungsabsicht befinden wir uns jedoch jenseits dessen, was mit dem aristotelischen oder auch mit dem psychoanalytischen Katharsis-Konzept in Zusammenhang gebracht werden kann. Es ging auch nicht um die Entfremdung des Menschen, wie sie von der Psychoanalyse oder, in anderer Akzentuierung, von der marxistischen Theorie analysiert wurde, sondern um eine Entfremdung, welche die Kunst erfaßt zu haben schien.

Performances richteten sich gegen die Ästhetik des sogenannten ‚White Cube‘, die sich insbesondere in der europäischen und US-amerikanischen Nachkriegskunst durchsetzte, sowie die Gleichsetzung der Kunst mit dem Verhandeln rein optischer Phänomene, so wie es insbesondere in der ungegenständlichen Kunst der Fall zu sein schien. Von beidem versuchte die Performance-Kunst zu reinigen, indem sie der ‚falschen‘ Reinheit der modernistischen Kunstpraxis eine ‚authentischere‘ ‚Unreinheit‘ entgegenstellte. Sie war Teil der in den 1960er Jahren sich vollziehenden Entkunstung der Kunst, in der die Kunst sich in offensiver Weise der Schönheit, der Exklusivität und der Kunstfertigkeit entledigte, die bislang als wesentliche Teile ihres Begriffs angesehen worden waren.

Als ‚White Cube‘ bezeichnete der Künstler und Kunsttheoretiker Brian O’Doherty in einer einflussreichen Artikelserie der 1970er Jahre den neutralen, gleichmäßig ausgeleuchteten Galerieraum, der zum kanonischen Gefäß für die Präsentation und Rezeption moderner Kunst geworden war. Nach O’Doherty war dieses Gefäß, noch vor allen Errungenschaften in der Kunst selbst, die „größte Erfindung der Moderne“:

„Der Galerie-Raum wurde zu einem bewußt wahrgenommenen Raum: Seine Wände wurden zum Grund, sein Boden zum Sockel, seine Ecken zu Wirbeln, seine Decke zu einem gefrorenen Himmel. Die weiße Zelle wurde Kunst in Potenz, der umschlossene Raum ein alchemistisches Medium. Kunst war das, was in diesem Raum abgelagert, wieder entfernt und regelmäßig ersetzt wurde.“

In den frühen 1960er Jahren war die Bedeutung des ‚White Cube‘ auf dem Höhepunkt angelangt, indem er von einem Präsentationsmedium zu einem Hervorbringer von Kunst avanciert war, wie das Beispiel der ohne ihn nicht denkbaren Minimal Art belegte, also jener meist stereometrischen und häufig seriell gefertigten Objekte, die den Blick auf die Analogien und Differenzen zwischen dem Skulpturkörper und der Raumhülle lenkten. Genau zu diesem Zeitpunkt begannen Performances an der Destruktion dieser als ästhetizistisch kritisierten Wahrnehmungsweise zu arbeiten, um die Realitäten sichtbar werden zu lassen, die der vermeintlich neutrale, nur der Kunst dienende ‚White Cube‘ ausschloß. Sie versuchten der Kunst ein ‚anderes‘ Publikum und einen ‚anderen‘ Kontext zurückzugewinnen, indem sie dem selbstbezüglichen Kunstobjekt eine Fülle von ephemeren, ortsspezifischen, dematerialisierten, nicht verkäuflichen und häufig an ein überrumpeltes Publikum adressierten Kunst-Ereignisse entgegenstellten. Sie bestritten das autonomieästhetische Verständnis der Kunst, das sich vom großen Versprechen zu Beginn der Moderne zu einer Last entwickelt hatte, da es nur noch die Funktion zu haben schien, die Wahrnehmung von Kunst von derjenigen der Realität abzusondern und die menschliche Wahrnehmung auf den Sehsinn zu begrenzen. Eine Möglichkeit, dagegen zu arbeiten, bestand in der Beschmutzung des ‚White Cube‘ durch ‚unreine‘ Praktiken, eine andere, ganz aus ihm hinauszutreten und in ‚unreinen‘ Räumen wie Kellern, Hinterhöfen oder Straßen zu agieren. Auch die Kunsterfahrung wurde verunreinigt, indem die gattungsüberschreitenden Performances jene ‚reine Optikalität‘ sprengten, die das formalistische, die Ungegenständlichkeit als höchste Stufe der Kunstentwicklung feiernde Moderne-Verständnis zum Credo erhoben hatte. Hatte Nietzsche die Kunst als Reinigung des Lebens, als Entladung des dionysischen Drängens mit dem Ziel der apollinischen Klarheit der Form begriffen, praktizierten Performances das Gegenteil, nämlich die Katharsis von dieser kathartischen Auffassung der Kunst. Sie bedienten sich dafür ‚dionysischer‘ Verfahren des Schmerzes, der Verausgabung, der Gefährdung oder der Selbstbeschmutzung.

Exemplarisch dafür standen die Arbeiten Vito Acconcis, einer weiteren Schlüsselfigur der US-amerikanischen Performance-Kunst jener Jahre, die unter dieser Perspektive als letztes künstlerisches Beispiel herangezogen werden soll. Acconcis Performances arbeiteten mit Körperprozessen wie Schweißabsonderung, Speichel- und Spermaproduktion oder mit bestimmten Eigenarten der männlichen Physis, etwa der Körperbehaarung. Der Körper brach aus den Regimen der Schönheit und Hygiene aus, der Künstler stellte sich als Produzent von ‚Unreinheit‘ aus, und dem Betrachter wurde die Möglichkeit genommen, die Kunst als einen von Unlust bereitenden Körpererfahrungen gesonderten Bereich zu erfahren. Eines von Acconcis Zielen bestand darin, das künstlerische Feld seiner Gegenwart, das er als Spielfeld „gesteigerter formalistischer Kritik“ empfand, als Position zu verstehen und zugleich zu unterlaufen. Seine Performances thematisierten dabei gezielt drei zentrale Potenzen des Feldes: den künstlerischen Produktionsakt, das Sehen sowie den Erfahrungsraum der Galerie.

Acconcis vielleicht berühmteste, ebenso vulgäre wie schlagend präzise Performance Seedbed vom Januar 1972 veranschaulicht dies beispielhaft. In der New Yorker Sonnabend Gallery ließ er eine unscheinbare Rampe installieren, die in der hinteren Raumhälfte den Boden über die gesamte Raumbreite hin bis zu einer Höhe von ca. 75 cm leicht ansteigen ließ. Unter dieser Rampe lag er während der Galerieöffnungszeiten an insgesamt neun Tagen der dreiwöchigen Ausstellungsdauer. Selbst unsichtbar, kommunizierte er über zwei auf der Rampe aufgestellte Lautsprecher mit den Besuchern. Er masturbierte (oder gab vor, es zu tun) und phantasierte über die Besucher, die über ihm auf der Rampe umhergingen.

Seedbed prägten Konfrontationen, die in den meisten von Acconcis frühen Performances wiederkehrten. Zum einen wurde ein privater Raum einem öffentlichen gegenübergestellt, indem Acconci einen nicht einsehbaren Partialraum aus der allgemein zugänglichen Galerie ausschied. Zum anderen interessierte sich Acconci für den Körper als – wie er es selbst formulierte – „Zeitmessinstrument“. So setzte die Aktion die individuelle Körperzeit, in diesem Falle die Rhythmen der Masturbationsakte, der Erschöpfung und der Neuaktivierung der Kräfte der empirischen und gleichförmigen Raumzeit des Galerieraums mit seinen regulierten Öffnungszeiten gegenüber.

Während der Ausstellungsbesucher kein Kunstwerk im herkömmlichen Sinne zu Gesicht bekam, sondern einen nur geringfügig modifizierten leeren ‚White Cube‘, füllte sich der Raum mit den Geräuschen eines sexuellen Genießens, das masturbatorischer Selbstgenuß war und die Besucher zugleich zu stimulierenden Objekten dieses Genusses machte. Denn diese waren, wie Acconci in einem an die Galeriewand angeschlagenen Text verkündete, die „Hilfen“ des Künstlers, um seine Tätigkeit aufrecht zu erhalten. Das ‚Werk‘ wiederum – seinen „in den Galerieboden ‚gepflanzten‘ Samen“, welcher der Arbeit den Titel Seedbed gab -, bestimmte er als das „gemeinsame Resultat meiner und ihrer Performance“.

In aggressiver Weise verkehrte Seedbed, was Acconci in einem Interview als das gängige und ebenso aggressive Betrachterverhalten gegenüber Kunstwerken beschrieb. Diese beträten den Ausstellungsraum, um zielstrebig auf das Kunstwerk loszugehen, d. h. sie behandelten das Kunstwerk, als sei es eine Zielscheibe. Seedbed hingegen ließ den Blick des Betrachters ins Leere gehen. Statt dessen wurde er mit einem Sprechen konfrontiert, dessen Quelle nicht festzumachen war. Das ‚Werk‘ befand sich nicht auf Augenhöhe an der Wand oder im Raum, sondern wurde unter den Füßen des Galeriebesuchers fortlaufend neu hergestellt. Zudem wurde dieser selbst zur ‚Zielscheibe‘ des Künstlers, der seine Phantasien auf ihn projizierte. Die schiefe Ebene von Acconcis Rampe wurde zum Sinnbild der destabilisierten und zugleich ins Register des Sexuellen rutschenden Beziehungen zwischen Betrachter, Künstler und Werk.

Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit
Kapitel II: Performance als künstlerische Form
Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater
Kapitel IIb: Der Betrachterbezug von Performances
Kapitel IIc: Performer versus Schauspieler
Kapitel IId: Das Ende einer Performance
Punkt Performance Kapitel III: Katharsis und Kritik
Pfeil Performance Kapitel IV: Resümee
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Performance Fiktion Ende Burden Abramovic Nauman

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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst

in: Grenzen der Karthasis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin/New York 2009, S. 199-230.

Kapitel IId: Das Ende einer Performance

Ein letztes Merkmal, das bezüglich der Unterschiede zwischen Theateraufführungen und Performances betrachtet werden soll, betrifft die Frage ihres jeweiligen Endes. Für theatrale Aufführungen gilt, daß das Ende zunächst im Rahmen der Fiktion erfolgt, indem die Geschichte zu einem Ende kommt, bevor die fiktionale Welt selbst aufgehoben und der Zuschauer wieder der Realität überantwortet wird, beispielsweise indem der Vorhang fällt und die Schauspieler den Applaus für ihre Leistung entgegennehmen. Im aristotelischen Katharsis-Konzept fällt dem innerfiktionalen Ende des Dramas die Rolle zu, den Zuschauer von den im Laufe der Handlung erzeugten Emotionen zu befreien, beispielsweise dadurch, daß die Katastrophe schließlich doch noch ausbleibt.

In der Performance Doomed, die Burden am 11. April 1975 begann, lag er regungslos auf dem Rücken ausgestreckt hinter einer großen Glasplatte, die im 45-Grad-Winkel an eine Wand des Museum of Contemporary Art in Chicago gelehnt war. An der Wand hing eine Uhr, die er zu Beginn der Performance in Gang gesetzt hatte. Die Dauer der Performance war an Bedingungen geknüpft, die nur Burden sowie die Mitarbeiter des Museums kannten. Sie sollte enden, wenn jemand auf irgendeine Weise das Arrangement aus Körper und Glasplatte verändern würde. Als ihm nach – auch für ihn unerwartet langen – 45 Stunden und 10 Minuten ein Museumsbesucher ein Glas Wasser hinstellte, schnellte er hoch, stoppte die Uhr und ging. Das Ende der Performance erfolgte nicht aufgrund einer inneren Handlungslogik, sondern aufgrund des plötzlichen Kontaktes zwischen dem künstlerischen Partialraum, in dem der Performer sich situierte, und dessen Umgebung, in dem sich die Museumsbesucher aufhielten, wobei die in der Art eines Vordaches über Burden an die Wand gelehnte Glasplatte zugleich die Kontinuität und die Geschiedenheit der beiden Räume anzeigte. Auf diesen Kontakt war die Performance angelegt, zugleich entzog es sich Burdens Kontrolle, wann er erfolgen würde. Die Museumsmitarbeiter, welche die Konditionen der Performance kannten, hätten sie jederzeit beenden können. Doch sie entschieden sich, wie einer der Mitarbeiter erzählte, dagegen. Denn sie hatten den Eindruck, mit Burden einen Kontrakt zu haben, den sie nur hätten brechen dürfen, wenn sein Leben gefährdet gewesen wäre. Die ‚Berührung‘ zwischen der raumzeitlichen Sphäre des Kunstwerks und der Umwelt, der viel später als von Burden erwartet schließlich doch erfolgte, beendete nicht nur die performative Handlung, sondern auch die künstlerische Aktion selbst, also in demselben Augenblick das innerfiktionale Geschehen und die künstlerische Fiktion als jene beiden Ebenen, die in einem herkömmlichen Theaterstück deutlich unterschieden sind. Das Weggehen beendete beides, und es wäre unvorstellbar gewesen, daß Burden zurückgekehrt wäre, um den Applaus der Besucher entgegenzunehmen.

Einmal mehr zeichnet sich ab, daß der eigentliche Inhalt einer solchen Performance nicht in der vollzogenen Handlung – in diesem Falle im Liegen an einer Museumswand – bestand, sondern in einem Spiel, dessen Einsätze ‚Fiktion‘ und ‚Realität‘, ‚Persona des Performers‘ und ‚Künstlerselbst‘ waren. Dasselbe Spiel ließ sich, mit jeweils signifikanten Abweichungen, bei vielen Performances beobachten. Dabei fanden die nicht vor Publikum inszenierten, sondern nur von einer Kamera aufgenommenen Performances eine eigene medienspezifische Lösung dafür, das Handlungsende mit dem Ende des Kunstwerks zusammenfallen zu lassen. Dies zeigt sich, wenn wir in vergleichender Absicht Arbeiten von Bruce Nauman und Marina Abramovic/Ulay hinzuziehen, wobei die Beispiele auch deshalb gewählt werden, weil sie dem Performance-Ende jeweils eigene Pointen abgewannen.

1966 drehte Bruce Nauman einen seiner ersten Filme, Fishing for Asian Carp: Ein Mann zieht Fischerstiefel an, steigt in einen Fluß und beginnt zu angeln. In der begleitenden Tonspur werden dem Zuschauer die Handlungen erklärt, als handle es sich um einen Lehrfilm, was das antifiktionale Moment verstärkt. Ein solcher ‚Lehrfilm‘ erreicht sein Ziel, wenn die Absicht sich realisiert, d. h. hier: wenn ein Fisch anbeißt. Nach 2 Minuten und 44 Sekunden ist dies der Fall, und genau in diesem Augenblick endet er.

Auch in den danach entstehenden Filmen, die Nauman in seinem Atelier zeigen, entwarf er jeweils einen simplen Handlungsplan, der so lange ausgeführt wurde, bis, wie Nauman sagte, „das wirkliche Leben“ einschritt und die Aktion abgebrochen werden mußte. Der strukturelle Unterschied zu Fishing for Asian Carp bestand allerdings darin, daß der Kontakt mit dem „wirklichen Leben“ hier nicht durch einen Dritten erfolgte – durch einen Besucher wie derjenige, der Chris Burden das Wasserglas hinstellte, oder den anbeißenden Fisch in Naumans Fishing for Asian Carp -, sondern durch den Künstler selbst, der seinen eigenen Plan nicht erfüllen konnte. Für den 1967/68 entstandenen, knapp zehn Minuten langen Performance-Film Bouncing Two Balls Between the Floor and Ceiling with Changing Rhythms schlug Nauman gleichzeitig zwei Bälle an den Boden und die Decke und versuchte dabei, einen bestimmten Rhythmus einzuhalten. Die Bälle sollten beispielsweise einmal den Boden und einmal die Decke berühren, um dann gefangen zu werden, oder zweimal den Boden und einmal die Decke, usw. An einem bestimmten Punkt jedoch, so Nauman, seien beide Bälle hin und her gesprungen, während er versucht habe, sie zu fangen. Schließlich habe er keinem von beiden mehr folgen können. „Ich hatte versucht, einen bestimmten Rhythmus einzuhalten […], und als ich aus ihm heraus kam, beendete das den Film.“ Erneut also berühren sich die Aktions- und die Filmform im Augenblick des zusammenfallenden Endes. Während die gestaffelte Schließung der theatralen Fiktion einen sanften Übergang zurück in die Alltagswirklichkeit erlaubt, stößt dieser Kollaps von Fiktion und Realität, künstlerischem Medium und darin Gezeigtem den Betrachter ins ungeschützte Offene. Ihm selbst obliegt es nun, das Verhältnis zwischen beidem zu bestimmen, wobei die Aufgabe dadurch erschwert wird, daß die entsprechenden Kategorien soeben ihre Trennschärfe einbüßten. Diese Offenheit ist strukturell mit jener anderen verwandt, von der bereits die Rede war: mit der Lücke, die in Performances zwischen dem äußeren und dem inneren Zusammenhang des Geschehens, also zwischen den Ebenen der ‚Handlung‘ und der ‚Aktion‘, klafft, und die den Betrachter zwingt, sich seinen eigenen Reim auf das zu machen, was vor seinen Augen abläuft.

Eine der eindrücklichsten Aktionen des lange Jahre gemeinsam agierenden Künstlerpaars Marina Abramovic und Ulay, die 45 Minuten dauernde Performance Talking about Similarity am 30. November 1976, bringt wiederum eine neue Variante des Performance-Endes ins Spiel. Zunächst setzte sich Ulay hin, starrte ins Publikum und öffnete seinen Mund, um ihn nach einer Weile wieder zu schließen. Dann begann er, Ober- und Unterlippe mit Nadel und Faden zuzunähen. Als der Faden fest verknotet war, verließ er die Bühne, und Abramovic setzte sich auf seinen Stuhl. Sie begann, Fragen aus dem Publikum zu beantworten, und zwar so, wie sie sich Ulays Antworten vorstellte. Die Performance endete, als sie zur Auffassung kam, sie spreche nicht mehr für ihn, sondern für sich selbst, worauf auch sie die Bühne verließ. Wie in den meisten Arbeiten des Künstlerpaars standen der Austausch zwischen Publikum und Performern und derjenige zwischen den beiden Performern in einem Verhältnis der wechselseitigen Spiegelung und Brechung. Was sich dabei entfaltete, war ein Spiel der Ermächtigung und Depotenzierung. Nach einem Auftakt, der als ein gescheiterter Artikulationsversuch angesehen werden konnte, zwang sich Ulay zum Schweigen. Nun bot sich Abramovic dem Publikum als Gesprächspartner an. Doch sie nutzte Ulays Schweigen nicht dazu, ihre eigene Stimme und Identität zu entfalten, sondern machte sich zum Medium seines Denkens und Sprechens. Ulay wiederum konnte keine Gegenrede üben, selbst wenn er der Meinung gewesen wäre, ihre Antworten entsprächen nicht denen, die er dem Publikum gegeben hätte. Gewisse Fragen, vor allem jene, ob das Zunähen des Mundes schmerzhaft gewesen sei, beantwortete Abramovic nicht. Auch hier entfaltete sich ein Machtspiel, indem Abramovic in solchen Fällen bat, die Frage erneut zu stellen. Dies wiederholte sich drei oder vier Male, bis die Fragenden aufgaben. Das Ende der Performance war gleichermaßen ambivalent strukturiert. Wiederum war es nicht Ulay, sondern Abramovic, die darüber entschied, die ‚similarity‘ mit jenem sei nicht mehr gegeben. Daß sie der vorab etablierten Performance-Regel gemäß gehen mußte, lag zwar in ihrer Entscheidung, zugleich erfolgte es in dem Augenblick, als sich zum ersten Mal ihr eigenes Ich zu artikulieren begann.

Die Handlung eines klassischen Theaterstücks, die auf dem Verhältnis von Ursache und Wirkung basiert, endet, wenn die im Drama entfaltete Ursache-Wirkung-Relation ein bestimmtes Ergebnis zeitigt, das den Prozeß zum Abschluß bringt. Performance-Handlungen hingegen exponierten bestimmte systemische Zustände. Deshalb gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten, sie zu einem Ende zu bringen, sofern sie die Zeit nicht von vornherein auf einen Punkt zusammenzogen, wie es in Burdens Shoot der Fall war. Entweder wurden sie nach Ablauf einer vorab festgesetzten und der Performance-Handlung gegenüber äußerlichen Dauer abgebrochen. Ein Beispiel dafür ist Burdens Bed piece, dessen 22-tägige Dauer mit der geplanten Ausstellungsdauer in der Market Street Gallery zusammenfiel. Oder sie endeten in dem Augenblick, als der inszenierte Zustand signifikant verändert wurde. In Doomed geschah dies, als jemand mit Burden zu interagieren begann, in Bouncing Two Balls …, als Nauman die selbstgesetzte Regel nicht mehr befolgen konnte, und schließlich in Talking about Similarity, als die Konvergenz in Abramovics und Ulays Denken und Sprechen nicht mehr gewährleistet schien.

Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit
Kapitel II: Performance als künstlerische Form
Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater
Kapitel IIb: Der Betrachterbezug von Performances
Kapitel IIc: Performer versus Schauspieler
Punkt Performance Kapitel IId: Das Ende einer Performance
Pfeil Performance Kapitel III: Katharsis und Kritik
Kapitel IV: Resümee
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Performance Performer Theater Schauspieler Subjektivität

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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst

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Kapitel IIc: Performer versus Schauspieler

Das Agieren eines Theaterschauspielers wird durch dreierlei bestimmt: die individuelle Physis, die vorgegebene Rolle sowie die stilistischen Eigenarten der Inszenierung. Diese drei Ebenen lassen sich klar voneinander unterscheiden, gleichwohl besteht der Effekt einer gelingenden schauspielerischen Leistung darin, sie zu einer einzigen theatralen Geste zu verschmelzen. Dieses Schema kann auf Performances nicht übertragen werden. Den Erwerb eines Wissens, über das andere Menschen nicht verfügten, konnte Burden nur deshalb als Ziel seiner Aktionen bestimmen, weil er kein Schauspieler war. Was in Shoot oder Bed piece beständig auseinandertrat und wieder verschmolz, war der Künstler als Subjekt, als Medium und als Objekt der Aktion. Als Subjekt agierte Burden, wenn er das Stück konzipierte, zum Medium wurde er, wenn er seinen eigenen Körper wie ein Stück Material benutzte, und als Objekt erschien er, wenn er sein eigener Beobachtungsgegenstand war und die Folgen der Aktion, beispielsweise die Schußwunde, an ihm sichtbar wurden. Auf diese Weise eröffneten Performances die Möglichkeit, mit sich selbst zu ‚spielen‘. Der Performer spielte das Spiel und wurde zugleich von ihm gespielt. Das Ich zerteilte sich in verschiedene Rollen, Perspektiven und Kräfte, die mit- und gegeneinander agierten.

Dieses Ineinander- und Auseinandertreten der Subjekt-, Medien- und Objektaspekte des Künstlers radikalisierte eine Tendenz, die seit dem Beginn der Moderne in der bildenden Kunst zu beobachten war. Eines der Kennzeichen der künstlerischen Moderne bestand in der Rückwendung des Künstlers auf seine Selbst- und Weltwahrnehmung sowie auf die Eigenart der eingesetzten Darstellungsmedien. Dabei galt das Interesse immer stärker jener Dynamik, die entstand, wenn der Künstler sich zugleich als Subjekt, Medium und Objekt seines Tuns begriff. Dieses begann sich von den mimetischen oder repräsentierenden Funktionen zu lösen und wandelte sich zu einer Geste, in welcher Weltbeschreibung und Selbstbeschreibung ineinander aufgingen.

In den späten 1940er und 1950er Jahren, also in direkter zeitlicher Vorläuferschaft der Performance-Kunst, hatten Jackson Pollocks sogenannte ‚drip paintings‘ diese Neubestimmung des künstlerischen Tuns im Bereich der Malerei zu einem Höhepunkt geführt. Pollock schuf seine Gemälde, indem er die Farbe mit schweifenden Bewegungen von allen vier Seiten her auf eine am Boden liegende Leinwand tropfen ließ. Das Bild entstand nicht als Wiedergabe von etwas Außerbildlichem, sondern unmittelbar aus dem Werkprozeß selbst, als emergente Formwerdung des malerischen Aktes. Pollock war sowohl das auktoriale Künstler-Ich, das seine Bewegungen aufgrund von ästhetischen Erwägungen steuerte, als auch das Medium, durch das hindurch Kräfte wirkten, die dem Bewußtsein vorausgingen, das heißt in einem funktionalen Sinn unbewußt waren. „Ich arbeite von innen nach außen, wie die Natur“, lautete Pollocks entsprechende Selbstbeschreibung. Pollocks Malereiauffassung war Höhepunkt und Übergang zugleich. In ihr gipfelte ein bis in die Romantik zurückführendes malerisches Konzept, das den Prozeß höher wertete als das Produkt, und das in der Kunst vor allem den Selbstausdruck des schöpferischen Ichs suchte. Indem Pollocks ungegenständliche Linienknäuel jedoch eigentümlich anonym erschienen, zeigte sich das Künstler-Ich zugleich als ein unpersönliches Medium vorsubjektiver (‚Natur‘-)Kräfte.

Pollocks ganz aus dem Produktionsprozeß heraus konzipierte Malweise wurde zur entscheidenden Referenz für jene Aktionskünstler, die seit den späten 1950er Jahren praktizierten, was Lazlo Glozer den „Ausstieg aus dem Bild“ nennen sollte. Allan Kaprow, der Erfinder des sogenannten Happenings, begriff Pollocks „‚dance‘ of dripping“ als Zerstörung der Malerei, da an ihr nicht die Repräsentationsleistung, sondern der körperliche Vollzug entscheidend sei. Pollocks Weg weiterzugehen hieß für Kaprow, die Leinwand zu verlassen und direkt in der konkreten Raumzeit zu agieren, indem man nicht Bilder, sondern reine Ereignisse hervorbringe.

Angesichts dieses Spiels mit den Rollen des Ichs, das in so unterschiedlichen, jedoch zeitlich und kunsthistorisch zusammenhängenden Werkverfahren wie denjenigen Pollocks, Kaprows und der Performance-Kunst kulminierte, erscheinen die spezifischen Handlungen, die beispielsweise in Burdens Performances vollzogen wurden, in einem neuen Licht. Denn möglicherweise bilden das Angeschossenwerden oder das Liegen im Bett gar nicht den Inhalt von Burdens Performances, sondern lediglich das geeignete Mittel, das Spiel des Ichs mit sich selbst zu entfalten. Wenn diese Vermutung zutrifft, dann diente das Extreme der Handlungen in erster Linie dazu, die innere Spannung des Spiels zu erhöhen und dem Betrachter genügend nachdrücklich zu vermitteln. Das Schmerzhafte oder Öde der Aktionen vertiefte die befremdliche Spaltung des Künstlers in ein Subjekt, das einen Plan entwirft, und ein Objekt, das diesem Plan unterworfen wird und dessen Folgen zu tragen hat. Ein bestimmter Grad an Drastik war nötig, um die Dialektik von Selbstbestimmung und Zwang, Ausgeliefertsein und Kontrolle heraustreten zu lassen. Der Augenblick des Angeschossenwerdens bildete den ekstatischen Augenblick, in dem das Subjekt zugleich aus sich heraustrat und zu sich selbst kam. Er erzeugte den widersprüchlichen Effekt, daß das Bewusstsein der eigenen Subjektivität durch einen Akt der Unterwerfung erlangt wurde, so wie es in der doppelten Etymologie des Wortes angelegt ist: ‚subjectus‘ als ‚Untertan‘ und zugleich als ‚Substanz‘ und ‚Zugrundeliegendes‘ (als lateinische Übersetzung des griechischen ‚hypokeimenon‘). Burden verknotete diese beiden Bedeutungen von Subjektivität, indem er sich einem frei gewählten Zwang unterwarf. So vermute ich, daß jenes Wissen, das er seinen eigenen Worten gemäß durch seine Performances erlangte, genau diese spezifische Form von Selbsterfahrung war. Was demnach die Bedeutung der jeweils vollzogenen Handlungen betrifft, lässt sich folgern, daß sie – zumindest im Falle solcher einfach strukturierter Aktionen – keinen die performative Situation transzendierenden Sinn besaßen, sondern lediglich den immanenten Sinn, der daraus resultierte, daß sie vollzogen wurden.

Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit
Kapitel II: Performance als künstlerische Form
Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater
Kapitel IIb: Der Betrachterbezug von Performances
Punkt Performance Kapitel IIc: Performer versus Schauspieler
Pfeil Performance Kapitel IId: Das Ende einer Performance
Kapitel III: Katharsis und Kritik
Kapitel IV: Resümee
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Performance Chris Burden Shoot Bed piece Handlung

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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst

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Kapitel IIb: Der Betrachterbezug von Performances

Sowohl in Shoot als auch in Bed piece wurde die Wirklichkeitserfahrung eines tatsächlich abgegebenen Schusses oder eines reglos daliegenden Menschen durch die Einsicht konterkariert, daß es sich um eine künstlerische Inszenierung handelte, in der es in insofern kein Opfer gab, als der Künstler die konzeptionelle Kontrolle über das Geschehen hatte. Als Burden nach Shoot gefragt wurde, ob die auf ihn abgegebene Kugel im Vergleich zu den Schüssen in Vietnam oder in den Bandenkriegen der Großstädte nicht eine Kleinigkeit sei, stimmte Burden zu, womit er indirekt den Unterschied zwischen seiner Aktion und Ereignissen in der Alltagswirklichkeit bestätigte. Angesichts dessen erstaunt es nicht, daß sich niemand aufgerufen sah, Burden oder den Scharfschützen von ihrem Tun abzuhalten. Es gehört zu den Mythen der Performance-Kunst, viele davon seien abgebrochen worden, weil das Publikum eingeschritten sei. Dies geschah höchst selten, und wenn doch, war es zumeist Teil des künstlerischen Konzeptes. Performances basierten vielmehr, wie Kathy O’Dell überzeugend argumentiert, auf einem Kontrakt zwischen Künstlern und Betrachtern. Da diesen die spezielle Kunst-Situation der Performances jeweils klar gewesen sei, hätten sie dem Geschehen bis auf ganz wenige Ausnahmen seinen Lauf gelassen. Das Verhalten des Publikums habe auf einem „stillen Einverständnis“ basiert, das man sowohl ästhetisch wie juristisch verstehen müsse: als stillschweigende Einwilligung in das, was der Künstler tue. Insofern habe sich das Verhalten gegenüber der Performance-Kunst nicht grundsätzlich von demjenigen gegenüber anderen Kunstformen unterschieden. O’Dells Argument schlägt die Brücke zu Samuel Coleridges rezeptionsästhetischer Formel der „willing suspension of disbelief“, das heißt jener Bereitschaft eines (bei Coleridge: literarischen) Rezipienten, die Prämissen einer fiktiven künstlerischen Situation als wahr anzusehen, auch wenn sie fantastisch, unmöglich oder widersprüchlich seien. Im Unterschied zur literarischen oder theatralen Fiktion muß die Formel bei Performances allerdings umgedreht werden. Um die tatsächlich vollzogenen Handlungen als Handlungen der Kunst zu begreifen, praktizierten die Zuschauer ein Verhalten, das man als „willing suspension of belief“ bezeichnen kann.

Eine Unterscheidung, die Umberto Eco hinsichtlich der aristotelischen Konzeption des Dramas trifft, führt noch einen Schritt weiter, die eigenartige Relation zwischen Betrachter und Performance-Handlung zu verstehen. Die Handlung einer klassischen Tragödie – neben Raum und Zeit die dritte Einheitsforderung des aristotelischen Dramas -, enthält gemäß Eco zwei unterschiedliche Ebenen. Die ‚Handlung‘ stelle die äußere Organisation der Fakten dar und diene zugleich dazu, eine wesentlichere Schicht des Dramas, die ‚Aktion‘, sichtbar zu machen. Die Differenz der beiden Ebenen erläutert Eco am Beispiel von Ödipus: Der nach den Ursachen der Pest forschende, als Vatermörder und Ehegatte der Mutter sich entdeckende und daraufhin sich blendende Ödipus – das sei die ‚Handlung‘ des Mythos. Die tragische ‚Aktion‘ hingegen spiele sich auf einer tiefer liegenden Ebene ab, nämlich derjenigen des komplexen Zusammenwirkens von Schicksal und Schuld. Die Kunst des Dramas lebe, so Eco, von ebendieser Spannung, die sich zwischen der verständlich angelegten äußeren ‚Handlung‘ und der Komplexität der darin aufscheinenden ‚Aktion‘ herstelle.

Ecos Hinweis auf die doppelte Verstehensebene jeder theatralen Inszenierung hängt mit weiteren Strukturmerkmalen des Dramas zusammen, welche für die aristotelische Auffassung von dessen Wirksamkeit ebenso zentral sind. Insbesondere zwei dieser Merkmale scheinen für unseren Zusammenhang relevant. Die emotionalen Wirkungen, die das theatrale Geschehen beim Betrachter auslöst, verdanken sich für Aristoteles nicht etwa aufwühlenden Inszenierungseffekten, sondern ausschließlich der richtigen Konzeption und Strukturierung der dramatischen Handlung, die in einer Tragödie die dramatis personae aufgrund der gegebenen Bedingungen mit Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit auf eine Katastrophe hintreibt. Die hauptsächliche Wirkung geht nach Aristoteles‘ Auffassung von den Schicksalswendungen innerhalb des dramatischen Geschehens aus, insbesondere vom Umschlag zwischen Glück und Unglück.

Das zweite für unseren Zusammenhang relevante Merkmal betrifft die ästhetische Distanz zwischen Betrachter und Bühnengeschehen. Furcht und Mitleid – also die beiden Emotionen, die Aristoteles im Rahmen seines Katharsis-Argumentes nennt -, empfinde der Zuschauer nur, wenn die auf der Bühne handelnden Personen ihm ähnlich seien; denn nur dann könne sich der Betrachter vorstellen, daß ein solches Unglück ihn ebenfalls treffe. Ausgeglichen wird die Mitleid erzeugende Nähe zwischen tragischem Held und Zuschauer durch die mimetische Brechung, die das Theatergeschehen als solches wahrnehmbar macht, durch die künstlerische Bearbeitung des jeweiligen Stoffes sowie die raumzeitliche Ferne der aufgeführten Mythen. Für die kathartische Wirkung der Tragödie, die in der Doppelbewegung besteht, im Zuschauer Emotionen zu erzeugen und ihn anschließend davon zu befreien, ist folglich die angemessene ästhetische Distanz als Balance von Nähe und Ferne zum dramatischen Geschehen ausschlaggebend.

Burden durchbrach mit seinen Performances beide dieser Strukturmerkmale. Zum einen wurde die dramatische Entwicklung einer Handlung blockiert, sei es durch den Zusammenzug zu einem einzigen Augenblick in Shoot, sei es durch die praktisch handlungslose Dauer in Bed piece. Das kunstvolle Erzeugen und Lenken der Emotionen, das Aristoteles von der Tragödie forderte, unterblieb, mit der Folge, daß die Betrachter mit ihren emotionalen Reaktionen alleine gelassen wurden. Zum anderen verweigerten Burdens Aktionen den Aufbau einer angemessenen ästhetischen Distanz zwischen Performer und Zuschauern. Neigte Shoot dazu, sie durch die knallende Plötzlichkeit des Vorgangs zu unterschreiten, wurde sie durch die (Inter-)Aktionslosigkeit von Bed piece überdehnt. Übernah war das Geschehen, weil es keine mimetische Brechung gegenüber Alltagshandlungen aufwies: Der Schuß und das Liegen im Bett waren nur deshalb Kunsthandlungen, weil sie in einem Kunstraum stattfanden, nicht aber aufgrund ihrer künstlerischen Bearbeitung. Zu fern wiederum war das Geschehen, weil es dem Betrachter keine Möglichkeit bot, sich mit dem Performer zu identifizieren. Es als Schicksal aufzufassen, das auch ihm widerfahren könnte, war auch schon deshalb ausgeschlossen, weil Burden jene Ereignisse, die ihm widerfuhren, selbst initiiert und inszeniert hatte.

Auf diese Weise wurde die doppelte Verstehensebene eines Bühnengeschehens, auf die Umberto Eco hinweist, ausgehebelt. In Burdens Performances klaffte eine nicht zu füllende Lücke zwischen dem, was Eco als ‚Handlung‘, und dem, was er als ‚Aktion‘ definierte, das heißt zwischen dem äußeren und dem inneren Zusammenhang des Geschehens. Während die Handlung völlig klar, ja geradezu simpel war, gewährte die Performance keinerlei Einblick in das motivierende Innere des Performers und die tiefere Bedeutung des sich vollziehenden Ereignisses. Verglichen mit einem herkömmlichen Theaterstück, steigerten Shoot und Bed piece zugleich die Übersichtlichkeit der ‚Handlung‘ und die Opazität der ‚Aktion‘: Ein Schuß wurde abgegeben, jemand lag tagelang in einem Bett, doch man erfuhr nicht warum, was darauf folgen würde und worin die Moral bestand.

Diese Lücke in der Kommunikationsstruktur der Performances führte, so meine Vermutung, zu den heterogenen Reaktionen des Publikums. Ob es sich um eine Manifestation der Gleichgültigkeit oder um kritisches Engagement handelte; ob es um die Rückführung des Körpers auf seine schiere Materialität ging oder aber dieser Körper als stellvertretendes Opfer gesellschaftlicher Zustände aufzufassen war; ob die Pointe der Handlung in der kruden Faktizität oder aber in der symbolischen Verweiskraft bestand; ob der Künstler ein Normzerstörer oder vielmehr ein Zerstörter der Gesellschaft, ein Märtyrer und artiste maudit im Sinne Baudelaires oder Nietzsches war, oder einfach ein outlaw und Paranoiker – auf alle diese Fragen gab das Performance-Geschehen selbst keine schlüssigen Hinweise. Das hermeneutische Verstehen, das geduldig die einzelnen Sinnteile zum Sinnganzen gruppiert, wurde abgewiesen, da die Handlung sozusagen nur aus einem einzigen Teil bestand, das in kühner Setzung als das Ganze präsentiert wurde. Der Zuschauer war gezwungen, die Lücke zwischen der sichtbaren Handlung und deren möglicher Bedeutung selbst zu füllen. Auf diese Weise entfalteten Burdens Performances das Paradox, daß die Bedeutung der Aktionen nicht aus dem Sichtbaren, sondern aus dem nicht Sichtbaren folgte.

Burden selbst suggerierte eine ‚faktizistische‘ Lesart, die er auch auf den Bereich der Erkenntnis aus einer solchen Aktion ausdehnte. Gegenüber dem Interviewpartner, der ihn nach der Relevanz des auf ihn abgefeuerten Schusses fragte, machte er, wie bereits erwähnt, keinen Versuch, den Schuß mit den Ereignissen in Vietnam oder in der Großstadtwelt der Gangs in Zusammenhang zu bringen. In einem anderen Interview stellte Burden fest, daß man nicht wissen könne, wie es sei, angeschossen zu werden, wenn man noch nie angeschossen worden sei. Seine Experimente vermittelten ihm ein Wissen, über das andere nicht verfügten. Inwiefern dieses Wissen darüber hinausging, jetzt zu wissen, wie es ist, angeschossen zu werden, und worin das mögliche Mehr-Wissen bestand, ließ Burden offen. Gemäß Burden lag die Pointe der Aktionen nicht in einem mimetischen Verweis auf die außerkünstlerische Wirklichkeit, sondern umgekehrt im Hineinkopieren der Wirklichkeit in den Bereich der Kunst. Burdens Aktionen waren verstörend, weil sie demonstrierten, daß hier jemand etwas nicht nur meinte, sondern tatsächlich ausführte. Der Schock der tatsächlichen Ausführung konnte sich jedoch nur im Rahmen der Kunst ereignen, in dem gewöhnlich die ästhetischen und pragmatischen Regeln des ‚Als-ob‘ gelten. Die Performances waren ätzende Tests auf diese Regel, sie waren Spiele mit den Grenzen zwischen Faktum und Fiktion, Kunst und Leben.

Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit
Kapitel II: Performance als künstlerische Form
Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater
Punkt Performance Kapitel IIb: Der Betrachterbezug von Performances
Pfeil Performance Kapitel IIc: Performer versus Schauspieler
Kapitel IId: Das Ende einer Performance
Kapitel III: Katharsis und Kritik
Kapitel IV: Resümee
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Performance Theater Body-art Aktionskunst Happening

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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst

in: Grenzen der Karthasis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin/New York 2009, S. 199-230.

Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater

Die Performance-Kunst ist ein unscharf definiertes künstlerisches Genre. Weder über den historischen Beginn besteht Einigkeit noch über die Abgrenzung zu anderen künstlerischen Praktiken wie Body Art, Aktionskunst oder Happening. Gemeinsam war den in zeitlicher Nähe zueinander entstandenen, zugleich aber heterogenen künstlerischen Strömungen eine Ausdrucksform, die den Körper als Medium entdeckte und die Produktion von Kunstobjekten durch physisches, in raumzeitlicher Gegenwart sich vollziehendes Handeln ersetzte. Der Körper des Performers wurde in seiner Materialität ausgestellt und erschien zugleich als symbolischer Körper, an dem etwas sich vollzog, was auf identitätspolitische oder gesellschaftliche Verhältnisse deuten konnte. Dabei war das Verhältnis zwischen der Persona des Künstlers und seinem realen Selbst schwer zu bestimmen. Der reale und der symbolische Körper berührten sich, indem die Aktionen nicht nur repräsentiert wurden, sondern sich am konkreten Körper vollzogen. Des weiteren wurde der Austausch zwischen Künstler und Publikum auf eine gänzlich neue Grundlage gestellt. Die meisten Performances verfolgten das doppelte Ziel, die Betrachter ausdrücklicher zu adressieren, als es in der früheren Kunst je geschehen war, um zugleich deren Erwartungen möglichst konsequent zu durchkreuzen. Das gespaltene, zwischen Zuwendung und Aggression schwankende Verhältnis zum Publikum zeichnete selbst jene Performances aus, bei denen keine Zuschauer anwesend waren, da sie nur für die Kamera inszeniert wurden.

Die Performance-Kunst ist eines der einschlägigen Beispiele für die Entgrenzung der Gattungen, die sich nach ersten Manifestationen in den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts in den 1960er Jahren so deutlich bemerkbar machte, daß der Eindruck entstehen konnte, Neuerungen seien inzwischen kaum mehr innerhalb der einzelnen Künste, sondern vor allem in ihren Mischformen möglich. In der Performance-Kunst überkreuzten sich vor allem das Theater und die bildende Kunst, wobei auch Tanz, Musik und Literatur einbezogen werden konnten. Mit der bildenden Kunst verband sie die Eigenart, daß die Aktionen meistens von der Herstellung von Artefakten begleitet waren. Fast alle Performances wurden photografisch oder filmisch festgehalten und manche davon anschließend zu Bildcollagen oder Installationen weiterverarbeitet. Nicht selten entstanden auch Objekte, die hinterher ausgestellt wurden. Dazu gehören etwa die reliquienartigen Überbleibsel von Chris Burdens Performances, z. B. das auf einem kleinen schwarzen Sockel präsentierte Vorhängeschloß des Schließfaches, in dem er im April 1971 fünf Tage lang ausharrte. Vom herkömmlichen Begriff der bildenden Kunst hingegen unterschied sich die Performance-Kunst durch die Eigenart, als Medium nicht Leinwand, Farbe oder Gips, sondern den Körper einzusetzen, sowie weiterhin der ephemere Charakter der Aktionen, welcher der Kunst jene Warenform zu nehmen versuchte, zu der sie nach der Meinung der Performance-Künstler herabgesunken war.

Das Ereignishafte sowie die Publikumsorientierung der performativen Handlungen schlugen die Brücke zum Theater, insbesondere zu dessen experimentellen Formen bei Grotowski oder Artaud, die einige der Charakteristika der Performance-Kunst vorwegnahmen. Gleichwohl sind auch hier die Unterschiede unübersehbar. In unserem Zusammenhang sind sie von besonderem Interesse, da sich das aristotelische Katharsis-Konzept auf das Theater (genauer: auf die Tragödie) bezieht. Im Unterschied zu klassischen Theaterstücken lag Performances jeweils kein Text zugrunde, der darin zur Aufführung gekommen wäre. Dies verband sich mit der Eigenart, daß es für die Zuschauer bei den wenigsten Performances darum ging, eine theatrale Handlung zu verstehen, ja, es meist überhaupt keine nennenswerte Narration gab. Performances waren vielmehr strukturelle Anordnungen für sich darin ereignende Interaktionen. Aus diesem Grund trieben sie auch andere Ereignisformen und Umschlagpunkte hervor als ein Drama.

Ein gutes Beispiel hierfür sind die Aktionen von Chris Burden, der zu den bekanntesten Akteuren in der US-amerikanischen Performance-Szene gehörte. In der Performance Shoot, die am 19. November 1971 stattfand, ließ sich der Künstler vor dem kleinen Publikum einer Produzentengalerie in Santa Ana/Kalifornien von einem befreundeten Scharfschützen in den Arm schießen. „Um 19:45 Uhr schoß mir ein Freund in den linken Arm. Die Kugel war eine verkupferte 22 long rifle. Mein Freund stand etwa 4,5 Meter von mir entfernt“, so lautet Burdens nüchterne Beschreibung der Performance. Danach begab sich der Künstler in einen Nebenraum, um sich medizinisch betreuen zu lassen. Was das Publikum zu sehen bekam, war eine einzige sehr kurze Aktion, deren Pointe darin bestand, das Angekündigte auch auszuführen. Der Augenblick der Schußabgabe desorganisierte die klare Relation von Faktum und Fiktion, die ein theatrales Geschehen strukturiert, indem als Ergebnis der künstlerischen Aktion die rohe Tatsächlichkeit einer blutenden Wunde zurückblieb.

Der extremen Kürze von Shoot stand in anderen Arbeiten Burdens eine zeitliche Dehnung gegenüber, die jedoch ebenfalls keinerlei narrative Dimension entfaltete. In Bed piece, durchgeführt im Februar/März 1972, lag er 22 Tage lang auf einem Feldbett, das parallel zur Rückwand einer Galerie in Venice/Kalifornien aufgestellt war. Zu Beginn der Performance zog er sich aus und legte sich hin, ohne weitere Anweisungen zu geben und ohne während der Performance-Dauer mit jemandem zu sprechen. Nur nachts, wenn die Galerie geschlossen war, erhob er sich zuweilen von seinem Bett. Burdens Nahrung bestand in dem, was ihm die Galerieangestellten aus eigenem Antrieb hinstellten, wobei sie es immer häufiger vergaßen, da er für sie, wie er selbst sagte, zu einem Objekt geworden war. Nicht zuletzt wegen Burdens Schweigen klaffte zwischen Performer und Galeriebesuchern eine unüberwindliche Distanz, welche die Spiegelung des eigenen Ichs in demjenigen des Künstlers verunmöglichte. Daß jemand in einem Bett lag, war nichts ungewöhnliches, doch der Transfer dieser intimen Situation in eine Galerie führte dazu, daß sich die Betrachter, wie Burden sich erinnerte, höchstens auf fünf Meter an das Bett herantrauten.

Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit
Kapitel II: Performance als künstlerische Form
Punkt Performance Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater
Pfeil Performance Kapitel IIb: Der Betrachterbezug von Performances
Kapitel IIc: Performer versus Schauspieler
Kapitel IId: Das Ende einer Performance
Kapitel III: Katharsis und Kritik
Kapitel IV: Resümee
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Performance Avantgarde Autonomie Subjekt Subversion

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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst

in: Grenzen der Karthasis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin/New York 2009, S. 199-230.

Kapitel II: Performance als künstlerische Form

Selbst wenn es der zeitgenössischen Wahrnehmung häufig gegenteilig erschien, war die Performance-Kunst nicht das Andere der modernen Kunst, sondern mit dieser auf vielfältige Weise verbunden, sei es durch die Radikalisierung von avantgardistischen Ansätzen des 19. und 20. Jahrhunderts, sei es durch die absichtsvolle Negierung der bisherigen Grundlagen künstlerischen Selbstverständnisses. Gerade die drastischen unter den Performances waren nur innerhalb jener Autonomie möglich, die sich die Kunst im 19. Jahrhundert erstritten hatte, und die jenes freigesetzte Künstlersubjekt hervorbrachte, das die widerstreitenden Kräfte der Gesellschaft in Form zu setzen versprach und sich zugleich aus eben dieser Gesellschaft ausgeschlossen empfand. Während die Performance-Kunst nur innerhalb eines solcherart autonomisierten künstlerischen Feldes entstehen konnte, zielte sie es zugleich darauf, das Autonomiekonzept zu unterlaufen, nicht zuletzt um sichtbar zu machen, daß Autonomie weniger als Freiheit, sondern vielmehr als eine andere Form repressiver Normierung zu begreifen war: als Sanktionierung künstlerischer Freiheit unter der Bedingung, daß die Kunst den ihr zugestandenen Bereich nicht überschreite. Performances übertrugen nicht-künstlerische und häufig banale Handlungen in die Domäne der Kunst, wodurch sich die Semantik, Syntax und Pragmatik dieser Handlungen grundlegend wandelte. Die Differenz zwischen der Alltagshandlung und derselben Handlung als Kunst erwies sich als Unterschied ums Ganze – als Unterschied, der auch die Wirkung der Performance-Handlungen entscheidend prägte.

Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit
Punkt Performance Kapitel II: Performance als künstlerische Form
Pfeil Performance Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater
Kapitel IIb: Der Betrachterbezug von Performances
Kapitel IIc: Performer versus Schauspieler
Kapitel IId: Das Ende einer Performance
Kapitel III: Katharsis und Kritik
Kapitel IV: Resümee
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