Performance Psychoanalyse Kritik Abramovic Acconci

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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst

in: Grenzen der Karthasis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin/New York 2009, S. 199-230.

Kapitel III: Katharsis und Kritik

Performances können insbesondere dann kathartische Wirkungen zugeschrieben werden, wenn einzelne Elemente wie die vollzogene Handlung oder die hervorgerufenen Schmerzen aus dem konzeptuellen Gesamtgefüge herausgelöst werden. Ihnen wird die Kraft zugeschrieben, Emotionen abzuführen oder aber innere Erstarrungen aufzubrechen. Ob und inwiefern sie das zu leisten vermögen, liegt als Frage jenseits meines Argumentes. Mein Punkt ist vielmehr derjenige, daß ein solches Herauslösen die spezifisch künstlerischen Strukturen von Performances verkennt. Die Berücksichtigung dieser Strukturen stellt jedoch den ersten und unumgänglichen Schritt für jeden Versuch dar, die Eigenart und die Wirkung von Performances zu verstehen. Dann aber zeigt sich, daß das Katharsis-Konzept, das Aristoteles im Blick auf die theatrale Form der Tragödie entwickelte, auf Performances nicht angewandt werden kann. Dafür sind die strukturellen Differenzen zwischen Theater und Performance, beispielsweise was den Status der jeweiligen Akteure, die jeweilige künstlerische Rahmung des Geschehens oder die (Nicht-)Narrativität der Handlung betrifft, zu markant.

Doch läge es nicht ohnehin näher, auf ein anderes Katharsis-Konzept zurückzugreifen: auf das psychoanalytische? Sollten wir Performances nicht eher als ‚kathartische Kuren‘ auffassen, die dem Performer und/oder dem Zuschauer ermöglichten, das in ihrem Unbewußten Aufgestaute oder Verdrängte hervorzuholen und abzuführen?

Bei der Einschätzung, ob dieses Konzept den Absichten und Wirkungen von Performances angemessener ist, kehren wir in gewisser Weise noch einmal an den Ausgangspunkt dieses Textes zurück. Die Performance-Kunst traf auf ein Zeitklima, in welchem das bewußte Ich als Wurzel allen Unglücks begriffen wurde, als erstes Glied in einer semantischen Kette, die als weitere Glieder ‚Rationalität‘, ‚männliches Subjekt‘, ‚repressive Gesellschaft‘, ‚kapitalistische (Kriegs-)Wirtschaft‘, ‚Patriarchat‘ oder ‚autoritäre Erziehung‘ umfaßte. Jeder Versuch, dem Unterdrückten aufzuhelfen, wurde begrüßt: als Beitrag, der individuellen und gesellschaftlichen Entfremdung entgegenzuarbeiten und – wie es der US-amerikanische Performance-Künstler Vito Acconci durchaus selbstkritisch formulierte – „sich selbst zu finden, das Selbst als ein kostbares Juwel, das irgendwo verloren war“. Wenn wir das psychoanalytische Konzept so weit fassen, daß es nicht nur jene unkorrekt durchgeführten Analysen umfaßt, die Freud als „wilde“ bezeichnete, sondern auch die von Laien aufgrund von psychoanalytischen Wissensbrocken vollzogenen (Selbst-)‚Therapien‘, dann konnte die verstörende Drastik gewisser Performances tatsächlich als therapeutische Kur aufgefaßt werden.

Sobald wir uns aber fragen, wie man sich eine solche Psychohygiene durch Performance-Kunst genauer vorzustellen hat, ergeben sich erneut Schwierigkeiten, und zwar wiederum aufgrund struktureller Unterschiede. Eine erste Differenz ist medialer Art: Die psychoanalytische Kur vollzieht sich durch das Sprechen des Analysanden, während Performances selbst dann, wenn sie auch Sprache einsetzten, ihr Medium im Körper bzw. in körperbasierten Handlungen fanden. Der zweite grundlegende Unterschied besteht in den Rollen und Interaktionsformen der beteiligten Akteure. Das psychoanalytische Szenario erzeugt eine enge Beziehung zwischen Arzt und Patient, und zwar in erster Linie durch das, was Freud als „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ bestimmte: Der Analysand aktualisiert seine unbewußten Wünsche, indem er sie auf den Arzt überträgt, während der Analytiker wiederum unbewußt auf die Übertragungsaktivität seines Patienten reagiert. Dieses Szenario ist mit demjenigen bei einer Performance in keinerlei Hinsicht vergleichbar, weder bezüglich der Rollen (sind der Performer bzw. das Publikum eher Arzt oder Patient, oder gar beides zugleich?) noch bezüglich der Interaktion (wer überträgt in Performances was auf wen?). Umgekehrt gibt in der psychoanalytischen Therapie weder die Position des Performers, der mit und an sich eine frei bestimmte Aktivität entfaltet, noch die des Zuschauers, der sich dem Geschehen gegenüber aufmerksam abwartend verhält, indem er jenes ‚stille Einverständnis‘ und jene ‚willing suspension of belief‘ praktizierte, von denen die Rede war. Während das aristotelische Konzept nicht greift, weil es sich auf eine andere Kunst bezieht, läßt sich das psychoanalytische Konzept nicht anwenden, weil es einer Therapiemethode außerhalb der Kunst entspringt. Die Übertragung auf Performances führt nicht nur zu deren misreading, sondern auch dazu, daß solche Konzepte ihre Bestimmungskraft verlieren.

Meiner Ansicht nach sollten Performances weder als kathartisch wirkende theatralische Aufführungen noch als kathartische Kuren gedeutet werden, sondern vielmehr als präzise konzipierte Herausforderungen künstlerischer Normen, die in kritischer Absicht vollzogen werden. Als voraussetzungsreiche Kunstform appellierten sie ebensosehr an das emotionale ‚Mitgehen‘ wie an die kognitive Verarbeitung seitens der Zuschauer, ja, die Untrennbarkeit der beiden Verläufe gehörte zu den Grundüberzeugungen der Performance-Kunst. Zwei Stoßrichtungen der Kritik lassen sich unterscheiden; sie entsprechen dem doppelten Wortsinn von ‚Kritik‘ als unterscheidendes, erkennendes Sehen sowie als Infragestellung und Negation.

Das unterscheidende, erkennende Sehen richtete sich auf unterschiedliche Erkenntnisinhalte, die sich jedoch darin berührten, daß es jeweils um den Bezug zwischen Bereichen, Zuständen und Eigenschaften ging, die ein herkömmliches Verständnis als gegensätzlich ansah. Es richtete sich beispielsweise auf den Status des Subjekts, indem Performances dessen Spaltung in Subjekt-, Medium- und Objektaspekte sowie in Bewußtes und Unbewußtes hervortrieben, so wie dies zur gleichen Zeit – ohne daß ein direkter Einfluß nachzuweisen wäre – Jacques Lacans strukturalistische Psychoanalyse herausarbeitete. Oder es erforschte Subjektivität als jene Kontaktgrenze von Körper und Raum, die Bruce Nauman, angeregt durch gestalttherapeutische Ansätze, in seinen frühen Arbeiten inszenierte. Dabei ging die Performance-Kunst davon aus, daß die entsprechenden Erkenntnisse nur durch konkretes körperliches Agieren zu erlangen waren. Ein Bewußtsein seiner selbst, so formulierte es Nauman, gewinne man nur durch ein gewisses Maß an Aktivität und nicht, indem man nur über sich nachdenke. Man mache Übungen, trainiere, werde sich des eigenen Körpers bewußt. Das geschehe nicht, wenn man Bücher lese.

Das Konzept der Bewußtsteinssteigerung durch körperliches Training verfolgten auch Abramovic/Ulay. In jeder Zelle seines Körpers verfüge der Mensch über eine Energie, die er nie nutze, so Abramovic. Performances aktivierten diese Energie und tauschten sie unter den Akteuren aus. Dabei kreuzte sich die Energie, die zwischen den beiden Performern floß, mit derjenigen, die sich zwischen ihnen und dem Publikum aufbaute. Diese Eigenart, die unmittelbar mit dem Umstand zu tun hatte, daß sie als Performerpaar agierten, war bereits an Talking about Similarity ablesbar. In einer anderen Performance, die den Titel Imponderabilia trug, wurde diese Überkreuzung zur eigentlichen Pointe der Arbeit. Im Juni 1977 stellten sich die beiden Performer nackt in den engen Eingangskorridor der Galleria Communale d’Arte Moderna in Bologna, mit der Folge, daß alle, die das Museum betraten, sich zwischen den beiden Körpern hindurchzwängen mußten. Dabei hatten sie das Kraftfeld zu durchqueren, das sich zwischen den beiden Performern, die sich unverwandt anblickten, aufbaute. Zugleich mußten sie sich entscheiden, ob sie sich der Frau oder dem Mann zuwenden wollten – eine Unwägbarkeit, die der Arbeit ihren Titel Imponderabilia gab. Wie die photographischen Dokumente der Aktion zeigen, neigten die Männer dazu, sich der Frau zuzuwenden und damit die Körperstellung Ulays zu verdoppeln, und umgekehrt. Wer im Innern des Museums ankam, lief auf eine Wand zu, auf der die Künstler das Ziel der Performance als Untersuchung der Beweggründe menschlichen Verhaltens bestimmten. Wenn die Besucher dort ankamen, war für sie die Performance bereits vorbei. Deren Anfang und Ende fiel mit dem Hindurchgehen durch die Eingangspforte zusammen, während der Museumsraum, in dem sie nun standen, zum Ort wurde, an dem sie ihr Verhalten nachträglich reflektieren sollten.

Die bei solchen Performances geweckten Emotionen waren, das sei noch einmal betont, jeweils nicht das Ziel – weder bei den Performern noch bei den Zuschauern -, sondern lediglich ein Mittel, der Untersuchung die nötige Schärfe zu verleihen. Abramovic betonte zudem, daß der Schmerz, der im Rahmen gewisser Performance durchlitten werde, für die Bedeutung ihrer Performances irrelevant sei. Die Untersuchungen waren vielmehr auf etwas gerichtet, was man verallgemeinernd als conditio humana bezeichnen könnte. Davon kann es gesteigerte Erfahrungen geben, jedoch keine kathartische Reinigung. Die Unerbittlichkeit der meisten Performances, im Zusammenspiel mit der Offenheit, in die sie die Zuschauer entließen, deuten sogar eher darauf hin, daß sie es darauf anlegen, Katharsis im Sinne einer kontrollierten Emotionsabfuhr zu verweigern.

Das kritische Moment der Performance-Kunst umfaßte jedoch auch die Bedeutungsdimension von ‚Kritik‘ als Infragestellung und Negation. Diese konnten sich auf künstlerische Konventionen ebenso beziehen wie auf gesellschaftspolitische Themen. Letzteres müßte mit Blick auf viele einzelne Arbeiten diskutiert werden und sprengte, da es sich nicht zu Strukturmerkmalen verallgemeinern ließe, den Rahmen dieses Textes. Deshalb beschränke ich mich auf ersteres: auf die in der Performance-Kunst artikulierte Kritik an überkommenen künstlerischen Normen. Ich greife diesen Aspekt auch deshalb heraus, da hier tatsächlich eine ‚reinigende‘ Wirkungsabsicht greifbar wird, nämlich der Versuch, durch die eigene künstlerische Praxis einen als reduktiv und entfremdet begriffenen Zustand aufzubrechen. Mit dieser Wirkungsabsicht befinden wir uns jedoch jenseits dessen, was mit dem aristotelischen oder auch mit dem psychoanalytischen Katharsis-Konzept in Zusammenhang gebracht werden kann. Es ging auch nicht um die Entfremdung des Menschen, wie sie von der Psychoanalyse oder, in anderer Akzentuierung, von der marxistischen Theorie analysiert wurde, sondern um eine Entfremdung, welche die Kunst erfaßt zu haben schien.

Performances richteten sich gegen die Ästhetik des sogenannten ‚White Cube‘, die sich insbesondere in der europäischen und US-amerikanischen Nachkriegskunst durchsetzte, sowie die Gleichsetzung der Kunst mit dem Verhandeln rein optischer Phänomene, so wie es insbesondere in der ungegenständlichen Kunst der Fall zu sein schien. Von beidem versuchte die Performance-Kunst zu reinigen, indem sie der ‚falschen‘ Reinheit der modernistischen Kunstpraxis eine ‚authentischere‘ ‚Unreinheit‘ entgegenstellte. Sie war Teil der in den 1960er Jahren sich vollziehenden Entkunstung der Kunst, in der die Kunst sich in offensiver Weise der Schönheit, der Exklusivität und der Kunstfertigkeit entledigte, die bislang als wesentliche Teile ihres Begriffs angesehen worden waren.

Als ‚White Cube‘ bezeichnete der Künstler und Kunsttheoretiker Brian O’Doherty in einer einflussreichen Artikelserie der 1970er Jahre den neutralen, gleichmäßig ausgeleuchteten Galerieraum, der zum kanonischen Gefäß für die Präsentation und Rezeption moderner Kunst geworden war. Nach O’Doherty war dieses Gefäß, noch vor allen Errungenschaften in der Kunst selbst, die „größte Erfindung der Moderne“:

„Der Galerie-Raum wurde zu einem bewußt wahrgenommenen Raum: Seine Wände wurden zum Grund, sein Boden zum Sockel, seine Ecken zu Wirbeln, seine Decke zu einem gefrorenen Himmel. Die weiße Zelle wurde Kunst in Potenz, der umschlossene Raum ein alchemistisches Medium. Kunst war das, was in diesem Raum abgelagert, wieder entfernt und regelmäßig ersetzt wurde.“

In den frühen 1960er Jahren war die Bedeutung des ‚White Cube‘ auf dem Höhepunkt angelangt, indem er von einem Präsentationsmedium zu einem Hervorbringer von Kunst avanciert war, wie das Beispiel der ohne ihn nicht denkbaren Minimal Art belegte, also jener meist stereometrischen und häufig seriell gefertigten Objekte, die den Blick auf die Analogien und Differenzen zwischen dem Skulpturkörper und der Raumhülle lenkten. Genau zu diesem Zeitpunkt begannen Performances an der Destruktion dieser als ästhetizistisch kritisierten Wahrnehmungsweise zu arbeiten, um die Realitäten sichtbar werden zu lassen, die der vermeintlich neutrale, nur der Kunst dienende ‚White Cube‘ ausschloß. Sie versuchten der Kunst ein ‚anderes‘ Publikum und einen ‚anderen‘ Kontext zurückzugewinnen, indem sie dem selbstbezüglichen Kunstobjekt eine Fülle von ephemeren, ortsspezifischen, dematerialisierten, nicht verkäuflichen und häufig an ein überrumpeltes Publikum adressierten Kunst-Ereignisse entgegenstellten. Sie bestritten das autonomieästhetische Verständnis der Kunst, das sich vom großen Versprechen zu Beginn der Moderne zu einer Last entwickelt hatte, da es nur noch die Funktion zu haben schien, die Wahrnehmung von Kunst von derjenigen der Realität abzusondern und die menschliche Wahrnehmung auf den Sehsinn zu begrenzen. Eine Möglichkeit, dagegen zu arbeiten, bestand in der Beschmutzung des ‚White Cube‘ durch ‚unreine‘ Praktiken, eine andere, ganz aus ihm hinauszutreten und in ‚unreinen‘ Räumen wie Kellern, Hinterhöfen oder Straßen zu agieren. Auch die Kunsterfahrung wurde verunreinigt, indem die gattungsüberschreitenden Performances jene ‚reine Optikalität‘ sprengten, die das formalistische, die Ungegenständlichkeit als höchste Stufe der Kunstentwicklung feiernde Moderne-Verständnis zum Credo erhoben hatte. Hatte Nietzsche die Kunst als Reinigung des Lebens, als Entladung des dionysischen Drängens mit dem Ziel der apollinischen Klarheit der Form begriffen, praktizierten Performances das Gegenteil, nämlich die Katharsis von dieser kathartischen Auffassung der Kunst. Sie bedienten sich dafür ‚dionysischer‘ Verfahren des Schmerzes, der Verausgabung, der Gefährdung oder der Selbstbeschmutzung.

Exemplarisch dafür standen die Arbeiten Vito Acconcis, einer weiteren Schlüsselfigur der US-amerikanischen Performance-Kunst jener Jahre, die unter dieser Perspektive als letztes künstlerisches Beispiel herangezogen werden soll. Acconcis Performances arbeiteten mit Körperprozessen wie Schweißabsonderung, Speichel- und Spermaproduktion oder mit bestimmten Eigenarten der männlichen Physis, etwa der Körperbehaarung. Der Körper brach aus den Regimen der Schönheit und Hygiene aus, der Künstler stellte sich als Produzent von ‚Unreinheit‘ aus, und dem Betrachter wurde die Möglichkeit genommen, die Kunst als einen von Unlust bereitenden Körpererfahrungen gesonderten Bereich zu erfahren. Eines von Acconcis Zielen bestand darin, das künstlerische Feld seiner Gegenwart, das er als Spielfeld „gesteigerter formalistischer Kritik“ empfand, als Position zu verstehen und zugleich zu unterlaufen. Seine Performances thematisierten dabei gezielt drei zentrale Potenzen des Feldes: den künstlerischen Produktionsakt, das Sehen sowie den Erfahrungsraum der Galerie.

Acconcis vielleicht berühmteste, ebenso vulgäre wie schlagend präzise Performance Seedbed vom Januar 1972 veranschaulicht dies beispielhaft. In der New Yorker Sonnabend Gallery ließ er eine unscheinbare Rampe installieren, die in der hinteren Raumhälfte den Boden über die gesamte Raumbreite hin bis zu einer Höhe von ca. 75 cm leicht ansteigen ließ. Unter dieser Rampe lag er während der Galerieöffnungszeiten an insgesamt neun Tagen der dreiwöchigen Ausstellungsdauer. Selbst unsichtbar, kommunizierte er über zwei auf der Rampe aufgestellte Lautsprecher mit den Besuchern. Er masturbierte (oder gab vor, es zu tun) und phantasierte über die Besucher, die über ihm auf der Rampe umhergingen.

Seedbed prägten Konfrontationen, die in den meisten von Acconcis frühen Performances wiederkehrten. Zum einen wurde ein privater Raum einem öffentlichen gegenübergestellt, indem Acconci einen nicht einsehbaren Partialraum aus der allgemein zugänglichen Galerie ausschied. Zum anderen interessierte sich Acconci für den Körper als – wie er es selbst formulierte – „Zeitmessinstrument“. So setzte die Aktion die individuelle Körperzeit, in diesem Falle die Rhythmen der Masturbationsakte, der Erschöpfung und der Neuaktivierung der Kräfte der empirischen und gleichförmigen Raumzeit des Galerieraums mit seinen regulierten Öffnungszeiten gegenüber.

Während der Ausstellungsbesucher kein Kunstwerk im herkömmlichen Sinne zu Gesicht bekam, sondern einen nur geringfügig modifizierten leeren ‚White Cube‘, füllte sich der Raum mit den Geräuschen eines sexuellen Genießens, das masturbatorischer Selbstgenuß war und die Besucher zugleich zu stimulierenden Objekten dieses Genusses machte. Denn diese waren, wie Acconci in einem an die Galeriewand angeschlagenen Text verkündete, die „Hilfen“ des Künstlers, um seine Tätigkeit aufrecht zu erhalten. Das ‚Werk‘ wiederum – seinen „in den Galerieboden ‚gepflanzten‘ Samen“, welcher der Arbeit den Titel Seedbed gab -, bestimmte er als das „gemeinsame Resultat meiner und ihrer Performance“.

In aggressiver Weise verkehrte Seedbed, was Acconci in einem Interview als das gängige und ebenso aggressive Betrachterverhalten gegenüber Kunstwerken beschrieb. Diese beträten den Ausstellungsraum, um zielstrebig auf das Kunstwerk loszugehen, d. h. sie behandelten das Kunstwerk, als sei es eine Zielscheibe. Seedbed hingegen ließ den Blick des Betrachters ins Leere gehen. Statt dessen wurde er mit einem Sprechen konfrontiert, dessen Quelle nicht festzumachen war. Das ‚Werk‘ befand sich nicht auf Augenhöhe an der Wand oder im Raum, sondern wurde unter den Füßen des Galeriebesuchers fortlaufend neu hergestellt. Zudem wurde dieser selbst zur ‚Zielscheibe‘ des Künstlers, der seine Phantasien auf ihn projizierte. Die schiefe Ebene von Acconcis Rampe wurde zum Sinnbild der destabilisierten und zugleich ins Register des Sexuellen rutschenden Beziehungen zwischen Betrachter, Künstler und Werk.

Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit
Kapitel II: Performance als künstlerische Form
Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater
Kapitel IIb: Der Betrachterbezug von Performances
Kapitel IIc: Performer versus Schauspieler
Kapitel IId: Das Ende einer Performance
Punkt Performance Kapitel III: Katharsis und Kritik
Pfeil Performance Kapitel IV: Resümee
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