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Die Wahrheit ist … / The Truth is …
in: Hilmar Boehle. Skulpturen, Objekte und Performances von 1978 bis 2009, hrsg. von Ulrich Krempel, Kettler, Dortmund, 2015, S. 121-153.
Kapitel 2
An diesen frühen Arbeiten wird Boehles ästhetische Doppelstrategie beispielhaft ablesbar. Zum einen geht es ihm, im Sinne einer Ästhetik des raumzeitlich Aktualen, um die Präsenz von Materialien und Räumen, Körpern und Handlungen. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird gezielt auf deren sinnliche Merkmale und ästhetische Eigenschaften gelenkt und der Betrachter zugleich veranlasst, sich seines eigenen Wahr¬nehmens und Empfindens bewusst zu werden.
Die zweite, zu diesem präsenzästhetischen Ansatz gegenläufige Strategie zielt indes gerade nicht auf die Betonung des Hier und Jetzt ab, sondern darauf, an den eingesetzten Materialien, den geschaffenen Situationen und den vollzogenen Handlungen etwas anschaulich werden zu lassen, was über deren jeweilige sinnliche Merkmale und ästhetische Eigenschaften hinausweist. Sie sollen zugleich ein Bild entstehen lassen (ohne im medialen Sinne Bilder zu sein), beispielsweise der sozialen Zusammenhänge, in denen wir stehen, der Konflikte, die darin spürbar werden, oder der Kräfte, die es dagegen zu mobilisieren gilt.
In den 1980er Jahren verfeinert Boehle diese ästhetische Doppelstrategie. Zu seiner eigentlichen künstlerischen Handschrift wird sie nun insbesondere dadurch, dass er dafür nicht mehr Rohstoffe wie Betonwerksteine, Stahlprofile oder Kreide einsetzt, sondern all jene Gegenstände, mit denen wir als Subjekte und (im Falle Boehles) als Künstler umgehen: Stühle, Spiegel, Kleider, Eimer, Pinsel, Farbtöpfe, Sonnenschirme, Vogelfedern und vieles andere mehr. Das resultierende ästhetische Verfahren lässt sich beispielhaft anhand der Tänzerin, einer filigranen Arbeit von 1981, umreißen. Die Bestandteile der Arbeit sind rasch aufgezählt: eine borkenlose Astgabel, ein Federball und ein Holzbrett mit kleiner Konsole. Der Kunstgriff, den Federball in Kappe und Federkranz zu teilen und an unterschiedlicher Stelle der Astgabel anzubringen, anthropomorphisiert die gesamte Konfiguration: Die Astgabel wird zum menschlichen Körper mit Bein und hochgestreckten Armen, der Federball zum Kopf sowie zum Röckchen jener Tänzerin, die der Titel der Arbeit nennt. Die Transformation führt sogar zu mehr als bloßer Anthropomorphisierung. Die Figur gewinnt eine spezifische Ausdrucksqualität: Wie bei einer wirklichen Tänzerin hat ihre Haltung Grazie und vermittelt einen bestimmten Affekt, der von ihren hochschießenden Armen ausgeht. Dieser Affekt wird von Boehle eigens betont, wenn er Varianten dieser Arbeit, die 1991 und 1994 entstehen, mit dem Titel Lebenszeichen versieht.
Angesichts der Tänzerin werden wir zu Zeugen einer Transformation, die ein bestimmtes Objekt (hier eine Astgabel und ein Federball) zum Bild von etwas anderem (einer Tänzerin) werden lässt. Die Erfahrung, wie etwas plötzlich zum Bild von etwas anderem wird, geht allerdings mit der Erfahrung einher, dass die Dinge materiell dieselben geblieben sind. Boehle geht es ebenso deutlich darum, die Figurine einer Tänzerin zu evozieren, wie darum, jene schlichten Dinge, aus denen sie besteht, präsent zu halten: Der Betrachter soll weiterhin unzweifelhaft eine Astgabel und einen Federball sehen. Die plötzliche Erscheinung als Tänzerin ist nichts, was als inhärentes Potenzial von Astgabeln oder Federbällen bezeichnet werden könnte; doch handelt es sich dabei auch nicht um eine bloße Projektion des Betrachters. Die Transformation einer Astgabel und eines Federballs zu einer Tänzerin verdankt sich vielmehr dem produktiven Zusammenspiel von Objekteigenschaften und Imagination. Indem die beiden Pole der Transformation (Astgabel und Federball vs. lebendige Tänzerin) gleichermaßen wahrnehmbar werden, wird der Umschlag zwischen beidem, der sich eindeutig und doch auf eine letztlich unbegreifliche Weise in unserer Auffassung des Gegenstandes ereignet, zum eigentlichen Inhalt der Arbeit. Damit aktiviert Boehle ein prinzipielles Potenzial von Kunstwerken. Für Adorno etwa zeichnen sich Kunstwerke genau durch einen solchen Doppelstatus als Seiende und Erscheinende aus, was sie Adorno zufolge in den Stand versetzt, das Nicht-Seiende im Sein zu vergegenwärtigen.
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