Modernismus Bild Oberfläche Illusion Greenberg

Fontanas Schnitte als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 190 KB)

Fontanas Schnitte

in: Bild-Riss. Textile Öffnungen im ästhetischen Diskurs, hrsg. von Mateusz Kapustka, Textile Studies, Band 7, Edition Imorde, Emsdetten/Berlin, 2015, S. 25-38.

Ein Gemälde ist kein Bild von irgendetwas vor deinen Augen. Es ist vielmehr ein Angriff auf das Medium, das dadurch etwas ‚bedeutet‘. Das Sujet existiert nicht schon davor. Es entsteht erst in der Interaktion zwischen Künstler und Medium. Deshalb, und nur auf diese Weise, kann ein Gemälde kreativ sein, und deshalb können seine Resultate nicht vorherbestimmt werden. Robert Motherwell

Einleitung: Modernistische ‚flatness‘ und ihr Widerruf

Ein Bild im Lichte seines Aufreißens zu betrachten heißt, es im Lichte seiner Materialität zu betrachten. Ein Riss ist ein Oberflächenmerkmal, zugleich ist er die Spur eines Ereignisses, das als solches womöglich mehr interessiert als das Resultat. Ein Riss im Bild deutet auf Spannungen hin – zwischen Prozess und Werk, aber auch zwischen Materialität und Form. In der Kunst des Modernismus, ungefähr seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, wachsen diese Spannungen erheblich an, bis zu dem Punkt, an dem Prozess und Werk, Materialität und Form im Kunstwerk beständig gegeneinander bestimmt werden müssen: als Aspekte ein und desselben Bildes, die zwar unterscheidbar, aber nicht voneinander zu trennen sind. Ein Riss im Bild führt überdies dazu, dass Augen- und Tastsinn miteinander zu konkurrieren beginnen. Das Bild zeigt sich nicht als immaterielle Fläche, die einen virtuellen Sehraum eröffnet, sondern als reale Oberfläche, deren Beschaffenheit in der Moderne häufig darauf zielt, das Auge nicht in eine imaginäre Tiefe zu ziehen, sondern es die Oberflächenfaktur abtasten zu lassen. Und schließlich weist ein Riss im Bild darauf hin, dass in avantgardistischen Kunstpraktiken Schöpfung und Zerstörung ein und derselbe Akt sein können. Das mögliche Zusammenfallen von Kunstentstehung und Kunstvernichtung bezieht sich dabei nicht nur auf die Konzeption bestimmter Verfahren, beispielsweise der Fotomontage in ihrer Verbindung von Schnitt und Zusammenfügung, sondern zugleich auf das historische Selbstverständnis der Avantgarden, mit jedem Werk den bisherigen Kunstbegriff zu sprengen oder sogar zu versuchen, mit der Setzung eines ‚letzten Werks‘ die Kunst insgesamt zu einem Ende zu bringen.

Alle diese unterschiedlichen Spannungen verdichten sich bei Bildern an einem konkreten Ort, der sich gleichwohl fortwährend entzieht: an ihrer Oberfläche. Bereits das Wort ‚Oberfläche‘ verweist dabei auf die Ambivalenz des Bildes, die sich im Fortschreiten der Moderne immer entschiedener artikuliert. Deren anti-illusionistische Wende lässt das Bild immer ausdrücklicher mit seiner Oberfläche zusammenfallen. Zugleich aber ist es nur sinnvoll, von einer Oberfläche zu sprechen, wenn es auch etwas gibt, was darunter liegt. In der Bildauffassung Clement Greenbergs, des amerikanischen Vordenkers einer formalistischen Deutung des Modernismus, tritt diese Ambivalenz des Bildes in exemplarischer Weise hervor. Auf der einen Seite erhebt Greenberg das Medium des Bildes – den Bildträger und die Malmaterie – zu dessen zentralem Aspekt. Der Modernismus sei das künstlerische Verfahren, sich beständig einer Kritik von innen her zu unterwerfen – einer Kritik, die darauf ziele, die Natur des jeweiligen künstlerischen Mediums zu größtmöglicher Reinheit zu führen und auf diese Weise die einzelnen Künste in ihrem ureigenen Kompetenzfeld zu verankern. Greenberg sieht die modernistische Wendung der Malerei folglich dort als vollzogen an, wo die immanenten und essenziellen Qualitäten dieses Mediums – die plane Oberfläche, der Umriss des Bildträgers und die Eigenschaften der Farbstoffe – offen herauszutreten vermögen. Für Greenberg bedeutet dies jedoch keineswegs das Ende des Illusionismus in der Malerei, sondern lediglich das Ende des klassischen, von haptischen Assoziationen überlagerten Illusionismus, wie ihn als äußerster Fall das Trompe-l’œil zu erzielen versuche. Als der Modernismus das Schattieren und Modellieren und alle anderen herkömmlichen Verfahren in Frage stellte, die in der Malerei an das Skulpturale erinnerten, sei dies, so Greenberg, „im Namen einer rein und ausschließlich optischen Erfahrung“ geschehen. Dadurch erziele das modernistische Bild eine Präsenz, die der traditionellen Kunst verwehrt gewesen sei. Aufgrund des ausschließlich optischen Durchstoßens der Bildfläche wandere das Auge im Trugbild eines Raumes, der nicht mehr jener auf den Körper bezogene Partialraum der herkömmlichen illusionistischen Kunst sei, sondern sozusagen Raum schlechthin: „Die Bildfläche als totales Objekt repräsentiert Raum als ein totales Objekt.“ Greenbergs Kurzschluss zwischen diesen beiden ‚Objekten‘ bringt die Ambivalenz des modernistischen Bildes auf den Punkt. Auf der einen Seite verdinglicht sich das Bild zur materiellen Oberfläche, die dem Realraum angehört wie jeder andere Gegenstand auch – was nach Greenberg dazu führt, dass bereits eine aufgespannte leere Leinwand als Bild aufgefasst werden kann. Andererseits wird die Bildfläche zu einem immateriellen, transzendenten Ort. In Greenbergs Beschreibung erinnert sie an das Aleph in Jorge Luis Borges’ gleichnamiger Erzählung, an jenen magischen Punkt im Raum, der alle Punkte in sich enthält und in dem sich die Totalität des Universums kontemplieren lässt.

Die extreme Spannung zwischen der planen Leinwand einerseits und der eröffneten (oder zumindest angestrebten) Totalitätserfahrung andererseits führt allerdings zu einer erheblichen Verminderung der semantischen, syntaktischen und pragmatischen Möglichkeiten der Malerei. Deren Spielfeld verengt sich auf die Oberfläche – eine Oberfläche zumal, deren Erfahrungspotenzial umgekehrt proportional zur Intensität ihrer Bearbeitung zu stehen scheint, wie Greenbergs Verweis auf die leere Leinwand als Bild nahe legt. Es ist offensichtlich, dass die ‚essenzialisierende‘ Askese der Malerei – die Beschränkung auf die Oberfläche und die Minimierung der malerischen Bearbeitung – nicht nur von den Betrachtern, sondern auch von den Künstlern als Verlust empfunden werden kann. So spricht Kandinsky beispielsweise vom „Annageln der Möglichkeiten an eine reale Fläche der Leinwand“ – und empfindet dies eindeutig als Beschränkung. Diese Kehrseite des Modernismus ist auch Greenberg bewusst. Während man, so Greenberg, bei der klassischen Malerei durch die Fläche wie durch ein Proszenium auf eine Bühne geblickt habe, sei diese Bühne im Modernismus immer flacher geworden, bis schließlich die Kulisse mit dem Vorhang zusammengefallen sei. Doch ganz gleich wie reich und verschiedenartig die Künstler nun diesen Vorhang, der ihnen als Einziges übrig geblieben sei, bearbeiteten und falteten, ein Gefühl des Verlusts sei unausweichlich. Was den Betrachter an der gegenwärtigen, abstrakt oder sogar ungegenständlich gewordenen Kunst kümmere, sei weniger die Verzerrung oder gar die Abwesenheit von wiedererkennbaren Bildern. Es sei vielmehr die Aufhebung jener räumlichen Rechte („spacial rights“), welche die Maler dem Betrachter gewährten, als sie noch Illusionen desjenigen Raumes schufen, in dem auch unsere Körper sich bewegten.

Dieses Schwinden des Raumes bildet den historischen und systematischen Hintergrund der folgenden Ausführungen, die sich ausschließlich einer einzigen Position zuwenden: derjenigen Lucio Fontanas. Fontanas Bildpraxis steht hier exemplarisch für die vielfältigen Versuche, angefangen mit der kubistischen Collage, Wege zu finden, den zunehmenden Druck auf die Oberfläche des Bildes aufzufangen und zu brechen, um die verlorene ‚Bühne‘ wiederzugewinnen, auf der sich der Akt des Bildermachens wie auch die Vorstellungskraft des Betrachters neu entfalten können. Es geht dabei nicht zuletzt um die Rückeroberung jenes körperlichen Handlungsraumes, den die modernistische ‚flatness‘ und Greenbergs ästhetische Maxime ‚reiner Optikalität‘ ausschließen. Fontanas Schnitt in die Leinwand ist eine jener Varianten, dem Bild unter modernistischen Bedingungen das zu erhalten, was Frank Stella den „working space“ der Kunst nennt. Nach Stella besteht das Ziel der Kunst darin, Raum zu schaffen – einen Raum, in dem nicht nur sich die Dinge entfalten können, sondern in dem die Kunst selbst agieren kann. Da Fontana die modernistische Verflächigung und Materialisierung des Bildes nicht rückgängig machen kann und will, sucht er diesen Raum nicht wie in der klassisch-illusionistischen Malerei hinter, sondern im Inneren der Bildoberfläche, um dort einen buchstäblichen, aber überaus paradoxen Raum zu finden.

Fontana Einleitung: Modernistische ‚flatness‘ und ihr Widerruf
Manet Velazquez Kapitel I: Fontanas Fund
Kapitel II: Der Schnitt als Schwelle
Kapitel III: Die zwei Ordnungen des Schnitts: ikonisch und performativ
Kapitel IV: Der Schnitt als Äußerung – und Fontanas rückseitige Notate
Kapitel V: Transzendenz und Immanenz des Unendlichen
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Artistic Research bei Saraceno und Smithson

Artistic Research bei Saraceno und Smithson als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 3.350 KB)

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Paradigmenwechsel wohin? Artistic Research bei Tomás Saraceno und Robert Smithson

in: Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften, hrsg. von Jürgen Bohm, Andrea Sakoparnig, Andreas Wolfsteiner, de Gruyter, Berlin/Boston, 2014, S. 223-245.
Inhalt:

Kapitel I: Ein neues Paradigma und seine Bestreitungen

Kapitel II: Tomás Saracenos ‚Cloud Cities‘

Kapitel III: Robert Smithsons ‚Spiral Jetty‘

Kapitel IV: Kunst als Bedingung der Möglichkeit transkünstlerischer Bedeutung“

Wissen Bild Ähnlichkeit Kunst Kunstwissenschaft

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Paradigmenwechsel wohin? Artistic Research bei Tomás Saraceno und Robert Smithson

in: Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften, hrsg. von Jürgen Bohm, Andrea Sakoparnig, Andreas Wolfsteiner, de Gruyter, Berlin/Boston, 2014, S. 223-245.

Kapitel IV: Kunst als Bedingung der Möglichkeit transkünstlerischer Bedeutung

Die Bedeutung von Saracenos und Smithsons Arbeiten liegt nicht im Gewinn empirischen Wissens: Saraceno setzt sich an entscheidender Stelle darüber hinweg, bei Smithson wird es sogar gezielt unterlaufen. Sowohl bei Saracenos Cloud Cities als auch bei Smithsons Spiral Jetty sind es genuin künstlerische Maßnahmen, die die Bedeutung – und den Erfahrungsreichtum – der jeweiligen Arbeiten hervorbringen: insbesondere das Verfahren, die präsentierten Objekte zugleich zu Bildern von etwas anderem werden zu lassen, sowie das darauf aufbauende Verfahren, Heterogenes so zu verähnlichen, dass es ineinander aufzugehen scheint. Diese künstlerischen Verfahren sind nicht schon die Bedeutung des Kunstwerks, allerdings die Bedingung der Möglichkeit, dass es Bedeutungen entfaltet – Bedeutungen, die anschließend auf ertragreiche Weise naturwissenschaftlich oder soziologisch weiter entfaltet werden können, so wie es beispielsweise in Bruno Latours Auseinandersetzung mit Saraceno geschieht. Das aber bedeutet, dass die Begriffe der Kunst und der künstlerischen Praxis auch für solche auf die empirischen Wissenschaften hin geöffneten Vorgehensweisen fundamental sind, und weiterhin, dass im Konzert der Disziplinen, die zum Verstehen solcher Praktiken notwendig sind, die Kunstwissenschaft mit ihrem Zusammenspiel von werkanalytischen Instrumenten, kunsthistorischem Wissen und ästhetischer Urteilskraft unverzichtbar bleibt. In dieser Hinsicht hat sich kein Paradigmenwechsel vollzogen.

Kapitel I: Ein neues Paradigma und seine Bestreitungen
Kapitel II: Tomás Saracenos ‚Cloud Cities‘
Kapitel III: Robert Smithsons ‚Spiral Jetty‘
Kapitel Kapitel IV: Kunst als Bedingung der Möglichkeit transkünstlerischer Bedeutung“
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Smithson Spiral Jetty Skulptur Film Erfahrung

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Paradigmenwechsel wohin? Artistic Research bei Tomás Saraceno und Robert Smithson

in: Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften, hrsg. von Jürgen Bohm, Andrea Sakoparnig, Andreas Wolfsteiner, de Gruyter, Berlin/Boston, 2014, S. 223-245.

Kapitel III: Robert Smithsons Spiral Jetty

Stattdessen möchte ein zweites, rund vierzig Jahre früher entstandenes Beispiel heranziehen, um das an Saracenos Cloud Cities Beobachtete zu überprüfen. Auch dieses zweite Beispiel besitzt im Zusammenhang einer Verklammerung von Wissenschaft und Kunst besondere Prominenz, ja, es gilt als eines jener kanonischen Werke, die den neuen Weg allererst eröffneten, d.h. es ist erneut ein Musterbeispiel im Kuhn’schen Sinne. Gemeint ist Spiral Jetty, das Hauptwerk Robert Smithsons, die riesige, 1970 am Ufer des Großen Salzsees in Utah errichtete Land-art-Skulptur, zu der sich etwas später ein Essay und ein Film mit dem jeweils gleichen Titel Spiral Jetty gesellten. Die Verbindung zwischen Saraceno und Smithson ziehe ich, erneut im Kuhn’schen Sinne, nicht aufgrund klarer Zuordnungsregeln, sondern aufgrund einer mir signifikant erscheinenden Ähnlichkeit. Denn Smithsons Triplet aus Erdskulptur, Essay und Film, das als Artistic Research avant la lettre gelten kann, erzeugt einen vergleichbaren ästhetischen Effekt wie Saracenos Cloud Cities: den Effekt eines Umschlags zwischen Größtem und Kleinstem, Nähe und Ferne, biologischen Urformen und Technik, Naturzeit und Menschenzeit. Ausschließlich auf diesen Aspekt werde ich mich hier konzentrieren, wofür ich insbesondere den 1972 entstandenen Film heranziehe, in welchem Smithson eine Deutungsperspektive auf seine Erdskulptur entwirft.
Der 35 Minuten lange Film gliedert sich in drei ungefähr gleich lange, fließend ineinander übergehende Abschnitte, die zunächst den Weg zum Salzsee, in dem die Spiralmole errichtet werden sollte, beschreiben, sodann die Errichtung der Skulptur zeigen und schließlich über das gebaute Ergebnis ästhetisch reflektieren.
Was Smithson in die Einöde des Salzsees aufbrechen ließ, war die Kunde eines durch erhöhten Bakterienanteil rot gefärbten Salzwassers. Im Film wird die Salzsee-Expedition indes zu einer Zeitreise in die geologische Urzeit. Die Verwandlung des einen ins andere realisiert Smithson durch die Montage heterogener Aufnahmen. Zwischen die wiederkehrenden Sequenzen der vor oder hinter dem Wagen liegenden Staubstraße werden Karten geschnitten, aktuelle Straßenkarten ebenso wie solche, die frühere erdgeschichtliche Zustände der Region zeigen. Überdies wird ein Stapel von fünf Büchern eingeblendet, die die Thematik prägnant umreißen. Zuoberst befindet sich Arthur Conan Doyles The Lost World von 1912, einer der frühesten Science-Fiction-Romane, der von der Erkundung eines geheimnisvollen, von Urtieren bevölkerten Plateaus im südamerikanischen Dschungel handelt – eine Fiktion, die zugleich auf sorgfältigen wissenschaftlichen und historischen Recherchen beruht. Darunter liegt William Henry Matthews kulturhistorische Studie über Irrgärten und Labyrinthe, die erstmals 1922 erschien und hier in der Neuausgabe von 1970 auftritt, gefolgt von Edwin Hubbles The Realm of the Nebulae von 1936, einem epochalen astrophysischen Werk, in dem Hubble die Spiralform von Galaxien sowie die fortlaufende Expansion des Universums nachwies. Das zweitunterste Buch ist ein geologisches Standardwerk aus den 1940er Jahren über Prozesse der Sedimentation, während zuunterst The Day of the Dinosaur von 1968 liegt, worin das Ehepaar de Camp nicht nur das damalige Wissen über Dinosaurier zusammenfasste, sondern zugleich deren spektakuläre Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert schilderte, die Darwins Evolutionstheorie allererst popularisierte und zugleich der kollektiven Imagination weite Räume öffnete. Der Stapel schichtet Sachbücher und fiktionale Literatur – die nicht scharf voneinander abgegrenzt werden können – in suggestiver Weise übereinander. Vor einer Steinwand inszeniert, spielt er selbst auf einen Sedimentationsprozess an. Zugleich liegen die Bücher auf einem Spiegel, der die Wasserfläche des Salzsees ebenso evoziert wie ein wechselseitiges Reflexionsverhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion. Wie sorgfältig Smithson dies inszeniert, zeigt sich am Detail, dass das oberste Buch, The Lost World, im Spiegelbild unsichtbar ist. Die Verschlingung von ›fact‹ und ›fiction‹ setzt sich in den theatralischen Aufnahmen aus der Dinosaurier-Abteilung des New Yorker Museum of Natural History fort, die Smithson in phantasmatisches Rot taucht und mit schrill-pulsierenden elektronischen Tönen unterlegt.
Der zweite Filmabschnitt zeigt die Bauarbeiten, die mit dem Abstecken der Spiralwindungen im seichten Wasser einsetzen. Hauptsächlich aber sehen wir die keuchenden Baumaschinen immer neue Felsbrocken und Erdmengen herankarren und dem gekennzeichneten Molenverlauf folgend in den See hinausschieben. Deren schwerfällige Manöver werden mit einer kolorierten Zeichnung urzeitlicher Stegosaurier und der Schwarzweiß-Fotografie einer gehörnten Echse zusammengeschnitten, deren Gestalt zum Bagger, aber auch zum steinernen Grat der Mole in Beziehung gesetzt werden. Den Gegenpol zum Lärm der Bauarbeiten bilden Aufnahmen der leicht bewegten rötlichen Wasseroberfläche, die von sanftem Plätschern begleitet werden. Smithson lässt die Wasserfläche in einer Weise glitzern, die nicht nur die unerbittliche Hitze des Ortes spürbar werden lässt, sondern zugleich einen Himmel mit einer überhell leuchtenden Sternkonstellation evoziert.
Im dritten Teil erblicken wir erstmalig das Ergebnis der Bauarbeiten, indem die Kamera mit Hilfe eines Helikopters die beschränkte Bodenperspektive überwindet und immer höher steigt. Smithson lässt es sich im selbst gesprochenen ›voice-over‹ nicht nehmen, auf die Bedeutung des Begriffs Helikopter hinzuweisen, was wörtlich Spiral-Flügel meint. Zwischen die Luftaufnahmen der Spiralmole sind Aufnahmen jener Salzkristalle montiert, die sich sogleich an den in den See geschobenen Basaltbrocken zu bilden begannen, begleitet von Smithsons Erläuterung, diese wüchsen spiralförmig entweder im Uhrzeiger- oder im Gegenuhrzeigersinn. Letztlich aber zielen die Bilder dieses dritten Teils, insbesondere die aus dem immer dynamischer kreisenden Helikopter heraus, nicht auf Übersicht, sondern auf das Gegenteil: auf einen ästhetischen und kognitiven Schwindel, der den Betrachter erfassen soll. Damit soll ihm eine Erfahrung zugänglich werden, die Smithsons eigene war, als er zum ersten Mal auf den Salzsee hinunterschaute, den er für seine Erdskulptur ausgewählt hatte, und dabei, wie er im Essay zu Spiral Jetty festhält, gleichsam in einen Strudel hineingezogen wurde: Angesichts der »Wirklichkeit dieser Evidenz« hätten in diesem Augenblick »keine Ideen, keine Konzepte, keine Systeme, keine Strukturen, keine Abstraktionen« mehr Bestand gehabt. Beim Aufbruch zum Salzsee besaß er lediglich eine vage Vorstellung der zu realisierenden Arbeit – ihm schwebte eine mit Booten erreichbare Insel vor –, doch wollte er die Erfahrung des Ortes darüber entscheiden lassen. Die Hoffnung, die Form nicht selbst suchen zu müssen, sondern sie dort zu finden, sollte sich, wie der Essay weiter beschreibt, auf das Eindrücklichste erfüllen:
»Als ich den Ort betrachtete, strahlte er aus bis zu den Horizonten und erweckte den Eindruck eines unbeweglichen Zyklons, während flackerndes Licht die gesamte Landschaft erzittern ließ. Ein schlummerndes Erdbeben breitete sich wie eine flirrende Stille aus, wie ein Wirbeln ohne Bewegung. Dieser Ort war eine Rotation, eingeschlossen in eine immense Rundung. Aus diesem kreisenden Raum trat die Möglichkeit der Spiral Jetty hervor.«
Obschon Smithson diesem Eigenbericht zufolge jede Orientierung verlor, blieb ihm die Fähigkeit erhalten, die ästhetische Form zu erkennen, die diese Erfahrung zu fassen erlaubte: die Spirale, das uralte Kultur- und Naturgeschichte durchziehende Symbol des Ineinander von Expansion und Kontraktion, von Anfang und Ende und von Raum und Zeit. Mit der Spiralform schuf er ein plastisches Bild, in das vielfältigste Phänomene eingefaltet sind und aus dem sich umgekehrt weiteste Zusammenhänge entfalten – ähnlich wie es Saraceno mit der Kombination von Sphärenkugel und Netz gelingt. Smithsons Film inszeniert dieses Wechselspiel von semantischer Verdichtung und Expansion auf höchst suggestive Weise, und zwar durch die beschriebene Montage von Heterogenem – von Urechsen und Baumaschinen, Nahaufnahmen kleinster Salzkristalle und teleskopischen Bildern der Gesamtskulptur usw. Zum Ende des Films fliegt der Helikopter mehrfach so über Spiral Jetty, dass die Sonne sich in der Mitte der Erdskulptur spiegelt, mit dem Effekt, als blicke man auf eine ferne Galaxie, um deren hellen Sonnencluster sich die Spiralarme aus Gestirnen, Gas und Staub winden, wobei die Reflexe des Sonnenlichts im Kameraobjektiv den Eindruck verstärken, indem sie irisierende Globen um die Spirale herum legen. In diesem fulminanten Schlussteil des Films verbindet sich Kristallografie mit Astronomie, mikrologisches Wachstum mit galaktischem Verglühen, kosmologische Urzeit mit der aktuellen Erfahrung des Salzsees. Der im Wasser liegenden Spirale, die in manchen Aufnahmen wie im leeren Raum zu schweben scheint, gelingt es, diesen raumzeitlichen Schwindel ästhetisch erfahrbar zu machen, und zwar durch dasselbe Mittel, das wir bereits bei Saraceno beobachten konnten: indem das Mikrologische soweit vergrößert und das Kosmologische soweit verkleinert wird, bis sie in der Dimension der errichteten steinernen Mole von Spiral Jetty ineinander übergehen.
Diese Verähnlichung des weit Auseinanderliegenden ist eine vergleichbar kühne ästhetische Spekulation wie bei Saraceno, ein ‚Schwindel‘ im doppelten Wortsinn, da anorganische, unter Schwerkraftbedingungen wachsende Salzkristalle und Galaxien, die im Kraftfeld von Materie und Anti-Materie entstehen, vielleicht ästhetisch vergleichbar, jedoch objektiv unvergleichlich sind – ebenso objektiv unvergleichlich wie der steinerne Grat von Spiral Jetty und der gepanzerte Rücken einer Echse. Auch Spiral Jetty setzt keine wissenschaftlichen Befunde ins Bild, ja mehr noch, der Film verdeutlicht, dass es Smithsons um die gegenteilige Erfahrung des Kollapses von Kategorien und Systemen geht. Besonders das Filmende lässt daran keinen Zweifel. Während die Bilder der im Zentrum von Spiral Jetty gleißenden Sonne zu sehen sind, führt Smithsons ›voice-over‹ zu einer weiteren jener Verschränkungen von physikalischen und psychophysischen Prozessen, die Smithsons ästhetisches Verfahren kennzeichnen. Er rezitiert den Eintrag zum Begriff Sonnenstich aus einem medizinischen Wörterbuch, womit die Sonne nicht mehr nur die räumliche Verortung der Spiral Jetty unterläuft, sondern zugleich das Bewusstsein des Menschen angreift, d.h. auf der Objekt- wie auf der Subjektseite eine massive Destabilisierung auslöst:
»Sonnenstich – Dieser Begriff meint üblicherweise den Zustand, der aus der Einwirkung starken Sonnenlichts resultiert. In milden Fällen verursacht er lediglich Kopfschmerzen und ein Gefühl der Mattigkeit, die einige Stunden anhalten. In schwereren Fällen kann es zu erheblichen Kopfschmerzen, Lichtempfindlichkeit, Erbrechen und Schwindelanfällen kommen. Die Haut ist trocken, der Puls schnell und die Temperatur leicht erhöht. In schweren Fällen kann die Genesung lange dauern, und für längere Zeit können Gedächtnislücken und mangelnde Konzentrationsfähigkeit auftreten.«

Kapitel I: Ein neues Paradigma und seine Bestreitungen
Kapitel II: Tomás Saracenos ‚Cloud Cities‘
Kapitel Kapitel III: Robert Smithsons ‚Spiral Jetty‘
Kapitel Kapitel IV: Kunst als Bedingung der Möglichkeit transkünstlerischer Bedeutung“
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Paradigmenwechsel Saraceno Utopie Wissenschaft Ästhetik

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Paradigmenwechsel wohin? Artistic Research bei Tomás Saraceno und Robert Smithson

in: Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften, hrsg. von Jürgen Bohm, Andrea Sakoparnig, Andreas Wolfsteiner, de Gruyter, Berlin/Boston, 2014, S. 223-245.

Kapitel II: Tomás Saracenos Cloud Cities

In einer späteren Präzisierung hat Thomas S. Kuhn am Paradigma-Begriff, den er mit seinem Buch über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen in die Wissenschaftstheorie einführte, zwei Aspekte unterschieden. Ein Paradigma sei einerseits dasjenige, was die Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft zusammenhalte: eine disziplinäre Matrix aus Standpunkten, Vorannahmen, Theorien, Anwendungen und Außenabgrenzungen. Zusammengehalten werde diese Gemeinschaft jedoch ebenso sehr durch das, was der Paradigma-Begriff im Wortsinne meine: durch Musterbeispiele. Diesen komme in der Herausbildung neuer disziplinärer Sichtweisen eine herausragende Rolle zu, denn in ihnen kondensierten sich bereits entscheidende Auffassungs- und Herangehensweisen. Zum Paradigma im Sinne der disziplinären Matrix erweitere es sich allerdings erst dadurch, dass andere Fälle aufgrund bedeutsamer Ähnlichkeiten dazu in Beziehung gebracht würden. Auf diese Weise knüpfe sich ein Netz ähnlicher Fälle, jedoch weniger durch die Anwendung klarer Zuordnungsregeln als vielmehr durch die Fähigkeit der Mitglieder jener wissenschaftlichen Gemeinschaft, diese Ähnlichkeiten zu erkennen. Mit dieser Präzisierung des Paradigma-Begriffs gewinnt die Übertragung der Kuhn’schen Beobachtungen aus dem Bereich der empirischen Wissenschaft in den Bereich der Kunst an Plausibilität. Denn tatsächlich verbindet eine künstlerische Gruppierung – als Konstellation von Künstlern, Kritikern und Vertretern kunstpräsentierender Institutionen – eine jeweilige Matrix aus Standpunkten, Vorannahmen, Außenabgrenzungen usw. Doch ebenso entscheidend dürfte auch hier sein, über Referenzwerke zu verfügen, deren Normativität innerhalb der Gruppe unstrittig ist und zu denen in der Folge weitere Werke in Bezug gesetzt werden, und zwar erneut nicht aufgrund klarer Kriterien, sondern aufgrund einer als signifikant eingestuften Ähnlichkeit.

Tomás Saraceno kommt genau dieser Status zu: Er besitzt den Rang eines Musterbeispiels für Artistic Research, um das herum sich inzwischen weitere Beispiele zu gruppieren beginnen. Wenn ich mich nun seiner Praxis zuwende, werde ich, im Sinne des einleitend Geschriebenen, weniger danach fragen, was diese Praxis motiviert und inwiefern diese Praxis wissenschaftlich legitim ist. Ich möchte sie vielmehr aus der Perspektive dessen untersuchen, was sie sich selbst zu leisten vornimmt, d.h. sie einer immanenten Kritik unterziehen, um aus dieser Innenperspektive heraus das hier etablierte Verhältnis von Kunst und Wissenschaft auszuleuchten.

Im Winter 2011–2012 war die historische Halle des Hamburger Bahnhofs – des Berliner Museums für Gegenwartskunst – von einer ausgreifenden Installation Saracenos in Besitz genommen. Seit über zehn Jahren arbeitet der 1973 in Argentinien geborene Architekt und Künstler an einem Werkkomplex mit dem übergreifenden Titel Air-Port-City, der unter anderem von Richard Buckminster Fullers geodätischen Kuppeln, Frei Ottos Seilnetzarchitekturen und weiter zurückreichend von den utopischen Kuppel-Architektur-Entwürfen der 1910er Jahre, etwa denjenigen Bruno Tauts oder Wenzel Habliks, inspiriert ist. Bei der Ausstellung, die den Namen Cloud Cities trug, handelte es sich um eine Etappe innerhalb des visionären Konzepts einer fliegenden Stadt, die dereinst zwei bis drei Kilometer über der Erde schweben soll. Wie Wolken würden die bewohnbaren, energie-autarken Biosphären vom Wind vorangetrieben werden und dabei ständig neue Formationen eingehen können, ähnlich wie es Seifenblasen tun. Jeder irdischen Verankerung enthoben, sollen sie sich dereinst zu einer riesigen kinetischen Struktur zusammenfügen, mit dem Ziel, so Saraceno, »die heutigen politischen, sozialen, kulturellen und militärischen Restriktionen […] auf die Probe zu stellen, um ein neues Konzept von Synergie zu etablieren«. Saracenos Air-Port-City-Projekt dürfte eines der ambitioniertesten Projekte der Gegenwartskunst sein, das seine Relevanz zugleich weit über den Bereich der Kunst hinaus entfalten will. Diskutiert wird es, wie die anwachsende Literatur zeigt, unter den Aspekten des Urbanismus und der neuen Landschaftsarchitektur, der Materialforschung, der Ökologie, der Gesellschaftstheorie in einer globalisierten Zeit, der Bionik und anderen Aspekten mehr, darunter, wie wir noch sehen werden, der Biologie und der Astrophysik. Doch nicht nur Kunst und Wissenschaft werden in Kontakt zueinander gebracht, zugleich verflüssigen sich die Grenzen zwischen Kunst, Design und Architektur. Seine Sphären bezeichnet Saraceno als »reale Utopien« – eine paradoxe Formulierung, die aber den Kern seines Anliegens benennt. Verbunden wird damit die Utopie als Nicht-Ort, als Vorstellung eines anderen Zustands, der vielleicht niemals machbar sein wird, bei Saraceno allerdings eindeutig positiv besetzt ist, mit dem im Hamburger Bahnhof tatsächlich Realisierten. Wie jedoch ist das Verhältnis zwischen beidem zu bestimmen?

Saraceno arbeitet mit zwei semantisch stark aufgeladenen morphologischen Grundformen, der Kugel bzw. Sphäre und dem Netz, die bald als distinkte Formen, bald in einem Zustand der Übergänglichkeit gezeigt werden. Im handelnden Umgang mit den Sphären werden spezifische Qualitäten dieser Kugeln bzw. Netze erfahrbar. Zwei der Sphären waren betretbar, wobei man sich dann auf einem Luftkissen aufhielt, das die untere Hälfte der Sphäre ausfüllte und deren interne Spannung und Elastizität beim Gebrauch spürbar wurde. Überraschende körperliche Erfahrungen eröffneten sich, beispielsweise so in die Tiefe blicken zu können, als schwebe oder tauche man.

Darüber hinaus knüpft Saraceno ein weiteres, anderes Netz, das sich bei näherer Befassung mit seiner Denk- und Arbeitsweise zu erschließen beginnt. Es verbindet Größtes mit Kleinstem, Organisches mit Anorganischem, Fauna und Flora mit dem Menschen, kosmologische Urzeit mit utopischer Zukunft. Beispielsweise sind die Sphären der Ausstellung Verkleinerungen jener riesigen Biosphären, aus denen die anvisierten Wolkenstädte dereinst bestehen sollen. Andererseits sind sie Vergrößerungen der Strukturen, die Saraceno in Seifenblasen entdeckte, deren nach gegenwärtiger Materialtechnik nicht reproduzierbare Kohäsionskraft und Volumen-Hülle-Relation für ihn vorbildlich wurde. Die Netze wiederum sind massive Vergrößerungen feingliedriger Spinnweben, deren ebenfalls unerreichte Elastizität und Tragekraft seinen eigenen Ziele den Maßstab vorgeben, zugleich aber Verkleinerungen der Universums-Struktur, die Saraceno in den Visualisierungsmodellen entdeckte, mit denen Astrophysiker die Entstehung des Universums und seiner Galaxien veranschaulichen. In bzw. an manchen der Sphären wachsen Tillandsien, die wurzellos die benötigten Nährstoffe der Luft und dem Regen entnehmen können und bei Saraceno für die Autarkie stehen, die die Reisenden in seinen Wolkenstädten dereinst auszeichnen soll. Doch nicht nur Pflanzen und Menschen werden verknüpft, sondern wenn die Menschen über die Binnenhäute der Blasen kriechen, können sie plötzlich wie Saracenos Leittier erscheinen: wie eine Spinne in ihrem Netz.

Saraceno verfolgt zwei unterschiedliche ästhetische Strategien im selben Zuge. Zunächst geht es ihm, im Sinne einer Ästhetik des raumzeitlich Aktualen, um die Präsenz von Körpern und Materialien sowie um die situative, partizipatorische Einbindung der Besucher. Die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Konkretheit der Gegenstände und der Situation, in die wir gebracht werden, soll die sinnliche Erfahrung der Gegenstände steigern und zugleich eine Reflexion im Subjekt anstoßen, seines eigenen Wahr¬nehmens, Empfindens und Denkens bewusst zu werden.

Die zweite, zu diesem präsenzästhetischen Ansatz gegenläufige Strategie zielt gerade nicht auf die Betonung des Hier und Jetzt, sondern darauf, an den Gegenständen und Situationen etwas anschaulich werden zu lassen, was über sie hinausweist: beispielsweise die sozialen Zusammenhänge, in denen wir stehen oder zukünftig stehen sollen, oder das ökologische Denken, das Saracenos Praxis zugrunde liegt. Das Zusammenspiel dieser beiden ästhetischen Strategien wird insbesondere beim Gebrauch der Sphären erfahrbar. Wer sich darin aufhält, macht die Erfahrung, dass die eigenen Bewegungen anders zu koordinieren sind als gewohnt, und weiterhin, dass Menschen, die sich gleichzeitig in einer Sphäre befinden, ihre Bewegungen untereinander koordinieren müssen, da sich die Druckverhältnisse bei jeder Positionsverlagerung verändern. Saraceno bezeichnet die interne Spannungsstruktur dieser Sphären, im Anschluss an Buckminster Fuller, als tensegrity-Strukturen – ein Begriff, in dem ›tension‹, ›Zugspannung‹, und ›integrity‹, ›Zusammenhalt‹, verschmelzen. Solche Strukturen erreichen ihre Kohäsion nicht durch die stabile Verbindung zwischen den Elementen, sondern durch die ausbalancierte Wechselwirkung der unterschiedlichen Kräfte. Das dynamische Reagieren auf jede Einwirkung, in Verbindung mit der eng beschränkten Aufnahmekapazität, hat zur Folge, dass Saracenos Sphären nur betreten werden können, wenn jemand anderes sie verlässt – ja mehr noch: dass nur dann, wenn sich alle auf eine Seite bewegen, das interne Luftkissen auf der anderen Seite hoch genug steigt, um die Ein- und Ausstiegspforte zu erreichen. Die dynamischen Relationen zwischen der Sphärenstruktur und den Menschen steigern nicht nur die psychophysische Wahrnehmung der eigenen Situation. Diese Situation wird zugleich zur Veranschaulichung der sozialen Relationalität der Menschen überhaupt, sozusagen zu einem human-ökologischen Bild.

Man könnte das Netz der Verweise weiter analysieren, doch dürften die für meine Deutungsperspektive relevanten Merkmale bereits deutlich geworden sein. Entscheidend an Saracenos Installation ist, dass das durch die Halle des Hamburger Bahnhofs gespannte Netz aus Seilen und Sphären zugleich zum semantischen Netz wird, das Heterogenes verknüpft. Das Medium dieser Verknüpfung ist ein Prozess der Bildwerdung, nämlich das Vermögen der Objekte, unter einer bestimmten Perspektive zum Bild von etwas anderem zu werden. Was dabei entsteht, sind allerdings weder materielle Bilder noch Darstellungen. Die Erfahrung, dass etwas plötzlich zum Bild eines anderen wird, geht mit der Erfahrung einher, dass sich an den gegebenen Objekten selbst nichts ändert. Wenn ein Besucher plötzlich wie eine Spinne aussieht, sehe ich unzweifelhaft weiterhin einen Menschen, und es ist ebenso offensichtlich, dass dieser nicht eine Spinne darstellt. Dass etwas plötzlich als etwas anderes wahrgenommen wird, ist also weder allein eine Eigenschaft des jeweiligen Objekts noch allein eine Imaginationsleistung der jeweiligen Betrachter, sondern verdankt sich dem produktiven Zusammenspiel beider. Dieses Sehen von etwas als etwas anderes verschränkt nicht nur Objekteigenschaften und subjektive Wahrnehmung. Es verbindet die wahrgenommenen Objekte zugleich mit anderen, aktuell nicht gegenwärtigen Objekten. Die unterschiedlichen, teils gegenwärtigen, teils nur imaginativ vergegenwärtigten Objekte werden in einen Ähnlichkeitsbezug zueinander gebracht – seien es materielle oder strukturelle Ähnlichkeiten, etwa zwischen der Oberfläche der Biosphären und der Oberfläche von Seifenblasen, oder seien es Ähnlichkeiten in den ästhetischen Eigenschaften, beispielsweise zwischen dem Grazilen der Kugelnetze und der Fragilität von Spinnweben. Buckminster Fullers tensegrity-Prinzip, dass ein Zusammenhalt erreicht werden kann, auch wenn auf die starre Verbindung zwischen den Elementen verzichtet wird, gilt dabei auch für Saracenos Vernetzung von Objekten und Phänomenen. Sie hat kein erstes und kein letztes Glied, ist grundsätzlich fortsetzbar und kennt auch keine interne Hierarchie, da die Kapazität, zum Bild eines anderen zu werden, jeweils reziprok ist, das Große ebenso zum Bild des Kleinen werden kann wie das Kleine zum Bild des Großen. Das Vermögen der Objekte, zum Bild von etwas anderem zu werden, ist das Band, das sich zwischen dem real Aufgebauten, innerhalb dessen wir uns bewegen, und dem Utopischen, worauf das konkret Realisierte hindeuten möchte, spannt. Die entscheidende Rolle, die diese Prozesse der Bildwerdung der Objekte spielt, zeigt, dass Saracenos Praxis, bei allem Einbezug anderer Wissens- und Tätigkeitsfelder, im Kern eine ›ästhetische‹ Praxis ist. Man kann noch einen Schritt weitergehen: Für Adorno ist es genau ein solcher Doppelstatus als Seiendes und Erscheinendes, der ›Kunstwerke‹ auszeichnet, die auf diese Weise das Nicht-Seiende im Sein zu vergegenwärtigen vermögen.

Gleichwohl steht, Saracenos Selbstverständnis zufolge, seine Kunst ganz im Dienst der Wissenschaft, sie ist für ihn lediglich ein Mittel, um der Realisierung jener utopischen Lebensformen, auf die er zustrebt, näher zu kommen. Dementsprechend hält er die Frage, ob sein Tun eher der Wissenschaft oder der Kunst zuzuschlagen sei, für obsolet. Was ihn leite, seien Probleme der Gegenwartsgesellschaft und die Suche nach konkreten Antworten darauf, und auf welchem Wege er seine Resultate erziele, sei hierfür nicht von Belang. Saraceno hält inzwischen mehrere internationale Patente auf Werkstoffe und Verfahren. In seinen Büchern finden sich Interviews mit prominenten Naturwissenschaftlern, u.a. mit Peter Jäger vom Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main, einem der führenden Spinnenforscher unserer Zeit, oder dem Astrophysiker Volker Springel vom Münchner Max-Planck-Institut für Astrophysik, auf den die in Abb. 6 gezeigte Visualisierung der Universumsentstehung zurückgeht. Doch liest man die Äußerungen des Spinnenforschers und des Astrophysikers genau, zeigt sich, dass beide, aus ihrer jeweiligen Warte, den Vergleich von Universum und Spinnennetz nicht nachvollziehen können. So verweist Peter Jäger auf die Unmöglichkeit, das unter Schwerkraft und aus Eiweißen geformte Spinnennetz mit dem sich im Kraftfeld von Materie und Anti-Materie herausbildenden Universum zu vergleichen. Und für Volker Springel ist es ein grundsätzlicher Fehler, jene Visualisierungen, die er vorantreibe, für die Sache selbst zu nehmen, also zu folgern, dass das, was darin wie ein Faden erscheine, auch die Beschaffenheit eines Fadens habe. Für den Naturwissenschaftler ist die Computer-Visualisierung des ›cosmic web‹ ein Modell, dessen Wirklichkeitsbezug nicht durch die Ähnlichkeit zwischen den einzelnen Elementen und der Wirklichkeit gestiftet wird, sondern lediglich durch die interne Relationalität der einzelnen Elemente. Saraceno hingegen springt auf die wechselseitige Ähnlichkeit zwischen Springels Grafik und dem Spinnennetz an, d.h. er sieht die Visualisierung nicht als Strukturmodell, sondern in einem wörtlichen Sinne als Bild. Die sachlich nicht haltbare, sondern nur phänomenale Ähnlichkeit zwischen Springels Universumsmodell und dem Spinnennetz wird bei Saraceno nun aber zum Ausgangspunkt einer intensiven künstlerischen Produktivität, die darauf zielt, jene Ähnlichkeiten sinnlich erfahrbar zu machen – und zwar mithilfe seiner Installationen. Er erreicht dies dadurch, dass er das Spinnennetz so stark vergrößert und das ›cosmic web‹ so stark verkleinert, bis sie in der Dimension der ausgestellten Objekte übereinkommen. Der springende Punkt von Saracenos künstlerischer Praxis ist folglich, Modellhaftigkeit und Bildhaftigkeit zu kombinieren. Mit Modellen haben seine Objekte gemeinsam, die Komplexität ihres Gegenstandes zu reduzieren, um dessen interne Struktur, beispielsweise diejenige eines Spinnennetzes, freizulegen. Diese Modellhaftigkeit wird durch eine Bildhaftigkeit ergänzt, die in den Modellen qua Ähnlichkeit anderes aufscheinen lässt. In diesem Moment schlägt die Reduktion von Komplexität, die Modellen eigen ist, in ihr Gegenteil um: in die Steigerung der Komplexität qua Verknüpfung unterschiedlichster Objekte und Phänomene. Die Modellhaftigkeit der Objekte verbindet Saracenos Praxis mit analytisch-wissenschaftlichen Praktiken, etwa derjenigen Volker Springels. In der Bildhaftigkeit hingegen liegt ihr ästhetisch-künstlerischer Charakter. Im Übergang von Modellhaftigkeit und Bildhaftigkeit schlagen bei Saraceno Wissenschaft und Kunst ineinander um.

Soweit die immanente Kritik von Saracenos Praxis – die nun durch eine externe Kritik zu ergänzen wäre, wie es um die außerkünstlerische Relevanz dieser Praxis bestellt ist, d.h. inwieweit sie die Lösung jener Probleme der Gegenwartsgesellschaft voranbringt, die Saraceno seiner eigenen Aussage zufolge leiten. Diese externe Kritik klammere ich hier allerdings aus, da sie über mein Anliegen hinausführte, zur Einschätzung der Eigenart und der Reichweite des neuen Paradigmas von Artistic Research und angesichts einer gewissen Einseitigkeit in der Auseinandersetzung damit nach dem genuin künstlerischen Anteil darin zu fragen.

Kapitel I: Ein neues Paradigma und seine Bestreitungen
Kapitel Kapitel II: Tomás Saracenos ‚Cloud Cities‘
Kapitel Kapitel III: Robert Smithsons ‚Spiral Jetty‘
Kapitel IV: Kunst als Bedingung der Möglichkeit transkünstlerischer Bedeutung“
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Artistic Research bei Saraceno und Smithson als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 3.350 KB)

Artistic Research Kunst Wissenschaft Qualität

Artistic Research bei Saraceno und Smithson als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 3.350 KB)

Paradigmenwechsel wohin? Artistic Research bei Tomás Saraceno und Robert Smithson

in: Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften, hrsg. von Jürgen Bohm, Andrea Sakoparnig, Andreas Wolfsteiner, de Gruyter, Berlin/Boston, 2014, S. 223-245.

Kapitel I: Ein neues Paradigma und seine Bestreitungen

Unter dem Namen Artistic Research hat gegenwärtig eine Kunstform Konjunktur, die der Wirklichkeit weniger aus kritisch reflektierender Distanz gegenübertritt als vielmehr in der Absicht, sich wirklichkeitstransformierend an deren Gestaltung zu beteiligen. Dem eigenen Anspruch nach ersetzt Artistic Research die herkömmlichen künstlerischen Verfahren wie Mimesis, Fiktion oder Spiel durch die experimentellen Verfahren der Natur- und Ingenieurswissenschaften, um in produktiver Weise Wissenschaft und Kunst zu verbinden. Diese Orientierung an den empirischen Wissenschaften löste eine noch immer anhaltende Debatte aus, an deren Verlauf zweierlei auffällt. Zum einen streiten sich Befürworter und Kritiker weit intensiver über die Motivationen des propagierten Paradigmenwechsels als über die erzielten Ergebnisse selbst. Zum anderen wird viel ausführlicher über den wissenschaftlichen Wert von Artistic Research debattiert als über die künstlerische Qualität – obschon sich das neue Paradigma im produktiven Zwischenraum von Wissenschaft und Kunst ansiedeln will, was bedeuten müsste, die jeweiligen Hervorbringungen von beiden Polen her zu beleuchten und zu beurteilen. Diesen Ungleichgewichten möchte ich hier entgegenwirken, indem ich einerseits zwei konkrete Beispiele auf ihre je besonderen Vorgehensweisen und Ergebnisse hin befrage und andererseits erörtere, wie sich darin das genuin Künstlerische bestimmen lässt – im Versuch, damit die Eigenart und die Reichweite jenes proklamierten Paradigmenwechsels besser einschätzen zu können.

Kapitel Kapitel I: Ein neues Paradigma und seine Bestreitungen
Kapitel Kapitel II: Tomás Saracenos ‚Cloud Cities‘
Kapitel III: Robert Smithsons ‚Spiral Jetty‘
Kapitel IV: Kunst als Bedingung der Möglichkeit transkünstlerischer Bedeutung“
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Artistic Research bei Saraceno und Smithson als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 3.350 KB)

Andy Warhol, Event and Mediality

Event and Mediality (PDF with illus. and fn.)

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Event and Mediality. Andy Warhol’s „Jackie (The Week That Was)“

published in German in: Bilder machen Geschichte. Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst, hrsg. von Uwe Fleckner (Studien aus dem Warburg-Haus 13), Berlin 2014, S. 357-370. Translation: Daniel Hendrickson

Content

Introduction

Chapter 1: Warhol’s Use of the Documentary Material

Chapter 2: The Media Transformation of Politics

Chapter 3: The Refusal of Visibility

Kennedy Ermordung Warhol Unsichtbarkeit Tod

Ereignis und Medialität (PDF mit Abb. u. Fn.)

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Ereignis und Medialität. Andy Warhols „Jackie (The Week That Was)“

in: Bilder machen Geschichte. Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst, hrsg. von Uwe Fleckner (Studien aus dem Warburg-Haus 13), Berlin 2014, S. 357-370.

Kapitel 3: Sichtbarkeitsverweigerung

Jackie (The Week That Was) reflektiert diese Verquickung von Politik, Medien und Geschichte: »Es erregte mich«, schreibt Warhol in seinen Erinnerungen, »Kennedy zum Präsidenten zu haben; er war hübsch, jung und intelligent – aber es kümmerte mich nicht so sehr, dass er tot war. Was mich kümmerte, war die Art und Weise, in der das Fernsehen und das Radio alle auf Trauerstimmung programmierten.« Warhols Biograph Victor Bockris berichtet überdies, wie fasziniert der Künstler von der wiederholten Ausstrahlung von Zapruders Super-8-Film war, insbesondere von der Zeitlupenwiedergabe der Schlüsselpassagen. Unter dieser Perspektive wird nun auch der Bildtitel relevant. Ob Warhol selbst ihn fand, muss offen bleiben; zumindest aber belegt eine Etikette auf der Bildrückseite, dass er aus dem Entstehungsjahr 1964 stammt. Er spielt auf eine Fernsehproduktion der BBC an, die 1962–1963 wöchentlich unter dem Titel That Was The Week That Was das politische Geschehen und dessen Protagonisten satirisch begleitete. Die Sendung wurde kurz vor ihrem britischen Ende in die Vereinigten Staaten verkauft. Die Pilotsendung brachte NBC am 10. November 1963, die erste reguläre Ausstrahlung erfolgte im Januar 1964. Am Samstag, den 23. November 1963 wandelte die BBC das Wochenmagazin zu einem – keineswegs satirischen – Tribut an John F. Kennedy um; auch dieser wurde von NBC übernommen und bereits am Sonntagabend in den USA gezeigt. Jackie (The Week That Was) liefert, so suggeriert der Bildtitel, zwar einen Ereigniszusammenhang, ist jedoch auch immer schon ein Medienprodukt gewesen.
Als ebenso bedeutsam erweisen sich die einzelnen Schritte in Warhols pictorial design: Die Fokussierung auf Jacqueline Kennedys Gesichtsausdruck, unter Auslassung aller übrigen fotografischen Information, spiegelt die Personalisierung und Emotionalisierung des Geschehens, die Verwischung der Grenzen von Politik und Hollywood, durch welche sich die Bilderserie im Grenzbereich zwischen den Starporträts von Marilyn Monroe oder Liz Taylor einerseits und den Death and Disaster Series – den unterschiedlichen Versionen von Car Crash, Race Riot oder Suicide – andererseits ansiedelt. Die Präsentation der verschiedenen Bildmotive im identischen Format von fünfzig mal vierzig Zentimetern wiederum erscheint vergleichbar zur Verwandlung des realen Geschehens im Fernsehbild, dessen Mattscheibe mit Warhols Tafeln gemeinsam hat, die Fülle des Sichtbaren in einem stets gleichbleibenden Raster zu zeigen.
Signifikant ist aber vor allem die Anordnung der sechzehn Tafeln zum Gesamtbild. Denn obgleich die chronologische Ordnung missachtet wird, erweist sich das Werk kei- neswegs als strukturlos. Wie bereits beschrieben, ist jedes Motiv als seitenrichtiger und seitenverkehrter Druck doppelt vertreten. Die Ordnung dieser Tafelpaare gestaltet sich wie folgt:
(Schema-Grafik, vgl. PDF-Version des Textes)
Dasselbe lässt sich auch als Zahlenprogression ausdrücken: Ein Motiv wurde jeweils zweimal spiegelsymmetrisch gedruckt; zwei solcher Bildpaare wurden jeweils zu einem Viererblock zusammengefügt; aus vier solchen Blöcken entstand schließlich das sechzehnteilige Gesamtbild. Diese Progression wird durch die im Diagramm veranschaulichte Anordnung in eine zyklische Form gebracht, die weder einen bestimmbaren Auftakt noch eine eindeutige Richtung besitzt. So treten in Jackie (The Week That Was) Inhalt und Form, das Gezeigte und seine Strukturierung, zueinander in Konkurrenz. Die fotografische Referenz auf die Vorgänge in Dallas und Washington im November 1963 trifft auf eine abstrakte, rein immanente Bildordnung, die an das non-relational der Minimal Art denken lässt, beispielsweise an die Reihungen identischer Kästen bei Donald Judd oder die Streifenfolgen in Frank Stellas Black Paintings, die beide in zeitlicher Nähe zu Warhols frühen Siebdrucken entstanden. In sich selbst kohärent strukturiert, verhält sich die Bildform zur Abfolge der historischen Ereignisse zugleich gänzlich indifferent. Lachende Jackie, trauernde Jackie, lachende Jackie, ad infinitum: Die Historie, die Warhol erzählt, ist die Transformation eines Geschehens in ein kreisendes Bilder-Stakkato, bei dem nicht die Inhalte die Form bestimmen, sondern die zyklische Rasterstruktur die Inhalte gleichsam vor sich her treibt. Das Fernsehen bestehe, so Warhol, »nur eben aus einer Menge von Bildern: Cowboys, Polizisten, Zigaretten, Kinder, Krieg, alles ein-, aus- und ineinandergeblendet ohne Ende. Wie die Bilder, die wir machen.«
Gleichwohl ist Jackie (The Week That Was) fern von simpler Medienkritik, deren Pointe darin bestünde, das Verschwinden des Realen hinter dem medialen Schirm zu verkünden. In dem Bild wirkt eine Kraft, die sich durch die Wiederholungen nicht abnutzt, sondern stets erneuert. Diese Kraft speist sich weniger aus dem Sichtbaren als vielmehr aus dem Nicht-Sichtbaren: aus den Fehlstellen und Lücken im Darstellungsgefüge, welche die Vorstellungskraft des Betrachters aktivieren und dennoch nicht geschlossen werden können. Zwei Aspekte scheinen hierbei besonders relevant. Für Warhol wird Jacqueline Kennedy nicht zuletzt durch die Ereignisse um die Ermordung ihres Präsidentengatten zum Star, das heißt zu einer jener mythischen Figuren des Medienzeitalters, auf die man sein Inneres projiziert, ohne von ihnen mehr als ihre öffentliche Schauseite zu kennen. In Warhols aufrasternder, den Kontrast verschärfender, die fotografische Information um der Prägnanz einiger weniger Züge willen minimierender Verfremdung wird Jackie zu einer auratischen Figur ohne Grund, zur »Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« (Walter Benjamin). Da Jackie als »Star« der Trauerfeierlichkeiten überdies immer schon image und ihr Leben während dieser vier Tage immer schon live war, verschwimmen Sein und mediales Erscheinen, mit der Folge, dass in jeder Wiederholung der Medienbilder das Sein des Gezeigten in voller Gültigkeit erneuert wird. Die Bilder öffnen sich für die Imagination einer Tiefe, die sie zugleich negieren.
Der zweite Aspekt der Sichtbarkeitsverweigerung betrifft die eigentümlich indirekte Darstellung des Todes. Indem Warhol lediglich Jacqueline Kennedys Gesicht zeigt, spart er das eigentliche Ereignis aus, das dem Wechsel von lachenden und trauernden Gesichtern erst Sinn verleiht: Kennedys Ermordung. Die zirkuläre Bildstruktur und die quasi-filmische Montage zwingen uns zu einem beständigen re-enactment der Ereignisse. Im fortlaufenden Springen zwischen vorher und nachher wird jedoch der fatale Augenblick immer verfehlt, indem er entweder noch bevorsteht oder aber bereits geschehen ist. Man »wiederholt, anstatt zu erinnern«, schreibt Sigmund Freud und weist auf diese Weise darauf hin, dass die Wiederholung dasjenige maskiert, was nicht erinnert werden kann. In der Repetition kann das Ausgesparte indessen überraschend wiederkehren. So wird John F. Kennedy, dem eigentlichen Gravitationszentrum der Bildhandlung, ein einziger, durchaus gespenstischer Auftritt gewährt. Im Zwischenraum zweier Tafeln der lachenden Gattin erscheint sein ebenfalls lachendes Gesicht, mittig geteilt und durch die spiegelbildliche Verdoppelung wieder komplettiert, allerdings in grotesk verzerrter Form. Es handelt sich um einen jener »Vorfälle an der Oberfläche«, die von Warhol bewusst provoziert wurden, sich in der jeweiligen Form aber dennoch zufällig ergaben. Was den Oberflächenvorfall hier hervorrief, ist das Kernstück von Warhols Verfahren: die Wiederholung der Bilder.

Einleitung
Kapitel 1: Warhols Umgang mit dem dokumentarischen Material
Kapitel 2: Mediale Transformationen der Politik
Event and Mediality Kapitel 3: Sichtbarkeitsverweigerung
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Ereignis und Medialität (PDF mit Abb. u. Fn.)