Zeichnung Autonomie 19. Jahrhundert Künstler Moderne

Universalität und Geschichtlichkeit des Zeichnens als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 172 KB)

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Universalität und Geschichtlichkeit des Zeichnens – am Beispiel von Egon Schieles Weiblichem Akt mit angezogenem linkem Knie

in: Linea. Vom Umriss zur Aktion. Die Kunst der Linie zwischen Antike und Gegenwart, Ausstellungskatalog Kunsthaus Zug, Ostfildern 2010, S. 154-165.

Kapitel III: Autonomie

Wechseln wir zu den Werken, die die Ausstellung aus dem späteren 19. und dem frühen 20. Jahrhundert präsentiert, erweisen sich entscheidende Parameter des Zeichnens als grundlegend verändert. Wenn bereits an früherer Stelle vom Prozess der „Autonomisierung“ die Rede war, in dem sich die unterschiedlichen Transformationen der Kunst seit dem 19. Jahrhundert bündeln lassen, so ist diesbezüglich an erster Stelle die Auftrennung jenes Ineinander von „freier“ und Gebrauchskunst zu nennen, das die Zeichenpraxis des „disegno“ prägte. Diese Auftrennung erfolgte im Zug der generellen materiellen und geistigen Umwälzungen am Beginn der Moderne. Zum einen schwanden die Patronats- und Auftragsverhältnisse, die bislang einem großen Teil der Künstler, die besten und berühmtesten eingeschlossen, neben ihren künstlerischen Aufgaben auch praktische Pflichten übertrugen, beispielsweise als Illustrator, Innendekorateur, Zeremonienmeister oder Architekt. Der Doppelstatus der Künstler hatte sich gerade auch in einer Zeichenpraxis manifestiert, die die klare Trennung von „freier“ und Gebrauchszeichnung nicht kannte. Dieses ästhetisch-praktische Kontinuum der vormodernen Kunst zerbrach im 19. Jahrhundert in seine beiden Hälften. Der Künstler war jetzt nur noch autonom, ohne flankierende soziale oder funktionale Absicherung in Patronatsverhältnissen, seine Praxis verkürzte sich zunehmend auf die eine, die ästhetische Seite seines Tuns. Parallel dazu verloren aber auch die Bezugsgrößen, die das „disegno“-Konzept trugen, ihre Normativität, insbesondere das Prinzip der Kunst als Nachahmung der Natur („mimesis“) sowie die Ordnung der Kunstgattungen und Darstellungsverfahren, in welch letzterer das Zeichnen häufig am Anfang eines mehrstufigen Prozesses gestanden hatte, der, über verschiedene Zwischenschritte, zum finalen Werk führte. Dagegen entwickelten sich im 19. Jahrhundert malerische Praktiken, die, wie etwa jene des Impressionismus, das Vorzeichnen ablehnten, um das Motiv direkt in Farbe auf der Leinwand einzufangen. Solches hatte zur Folge, dass sich die Zeichnung jenseits ihrer überlieferten Funktionen im Zusammenhang reglementierter Atelierpraxis neu „erfinden“ musste.

Die gänzlich veränderten metaphysischen, sozialen und arbeitspragmatischen Rahmenbedingungen der Moderne erzwangen eine Neuausrichtung der künstlerischen Praxis. Von ihren angestammten Aufgaben und Arbeitsabläufen entbunden und zugleich der bisherigen Legitimationsrhetorik des künstlerischen Tuns beraubt, gingen die Künstler erneut, aber anders, auf den „Grund“ ihrer Tätigkeit zurück, auf der Suche nach einem neuen „Ursprünglichen“ jenseits der alten, außer Kraft gesetzten Vorstellungen davon. Zu den neuen Fundamenten der Kunst wurden nun die individuelle, durch die jeweilige Psyche nicht weniger als durch die Physiologie des Auges geprägte Wahrnehmung sowie die Eigengesetzlichkeit der eingesetzten künstlerischen Medien. Die Suche galt, nolens volens, einer auf nichts außerhalb der Kunst rückführbaren, von anderen menschlichen Tätigkeitsformen abgrenzbaren künstlerischen Produktivität.

Das Losungswort für diese Suche hieß „Autonomie“ – als ein Konzept, in dem die Randständigkeit des Künstlers in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in den besonderen Sinn der Kunst umschlagen sollte. Das Autonomiepostulat zielte zunächst darauf, die Kunst von der Aufgabe zu emanzipieren, gewisse von außen vorgegebene Inhalte zu repräsentieren, die der älteren Kunst ihre „Überbau“-Funktion für Staat oder Kirche verliehen hatten. Ein zweites Autonomiepostulat fiel entschieden radikaler aus. Zunehmend wiesen die Künstler die Verpflichtung zurück, in ihren Bildern überhaupt etwas auszusagen, was sich nicht aus dem Kunstwerk selbst erschloss. Daraus erklärt sich die Tendenz zu „schweigsamen“ Sujets und zu einer „unvollendeten“ oder fragmentarischen Bildform, die auch die Zeichnungen des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts in dieser Ausstellung kennzeichnet. Denn beides unterlief die Möglichkeit, den Sinn des Kunstwerks von diesem abzulösen; beides zielte auf eine neuartige ästhetische Immanenz, die den Sinn des Kunstwerks mit seinem ästhetischen Erscheinen konvergieren ließ. Diese keineswegs selbstverständliche „Ästhetisierung“ der Kunst wirkte sich nicht nur auf die Auffassung der damals zeitgenössischen, sondern auch der älteren Kunst aus. Die Durchlässigkeit zwischen den ästhetischen, praktischen und epistemischen Dimensionen, die die vormodernen Zeichenpraktiken prägt, kann inzwischen kaum mehr nachvollzogen werden.

Kapitel I: Ursprünglichkeit(en) der Zeichnung
Kapitel II: Disegno
Kapitel Kapitel III: Autonomie
Kapitel Kapitel IV: Schieles „Weiblicher Akt mit angezogenem linkem Knie“
Kapitel V: Modernität und Tradition in der Zeichenkunst um 1900
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Zeichnung Disegno Renaissance Kunst Wissenschaft

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Universalität und Geschichtlichkeit des Zeichnens – am Beispiel von Egon Schieles Weiblichem Akt mit angezogenem linkem Knie

in: Linea. Vom Umriss zur Aktion. Die Kunst der Linie zwischen Antike und Gegenwart, Ausstellungskatalog Kunsthaus Zug, Ostfildern 2010, S. 154-165.

Kapitel II: Disegno

Mit ihrer Theorie der Zeichnung („disegno“) entwickelte die italienische Renaissance ein bis heute fortwirkendes Szenario der „Ursprünglichkeit“. Dessen Prägnanz und Wirkmächtigkeit liegt insbesondere darin, dass sich darin das anthropologische und mediale Apriori des Zeichnens mit der Selbstlegitimation der Bildkunst als unabhängige, anderen anspruchsvollen menschlichen Tätigkeiten ebenbürtige Praxis verknüpft. Eine knappe Rekapitulation des frühneuzeitlichen „disegno“-Begriffs ist unabdingbar, um den ästhetischen Neueinsatz, der sich in der Zeichenkunst des 19. Jahrhunderts vollzieht, präzise fassen zu können.

„Disegno“, als Aktivität und als Produkt, wurde in der italienischen Renaissance zum Namen für die Form, in der die Kunst ihre Eigenleistung erbringt. „Disegno“ trat an die Stelle dessen, was die Scholastik „intentio“ genannt hatte, und meinte ein Konzept, das zwischen interner, vorab erfolgter Formfindung und nachträglicher externer Ausführung deutlich unterschied und doch beides in einem einzigen Begriff zusammenschloss. Als Formfindung und zugleich Formvollzug ist „disegno“ ontologisch schwer zu fassen. Die Grenze eines Dings, das die Linie ebenso festhält wie erschafft, ist, wie Leonardo in seinem Malereitraktat festhält, ein „Nichts“, weder im Ding noch außerhalb des Dings. Vielmehr handelt es sich um das Markieren einer Unterscheidung: zwischen Körper und Nicht-Körper, diesseits und jenseits, innen und außen. Das Ziehen einer Linie bricht das raumzeitliche Kontinuum auf, mit der Folge, dass es jetzt zwei voneinander unterschiedene Seiten gibt. Doch gerade weil die Linie nichts war, was der Natur selbst entnommen werden konnte, wurde „disegno“ im Zuge der neuzeitlichen Aufwertung der künstlerischen Tätigkeit zum entscheidenden Vermögen des Künstlers. Das Verwandeln eines ontologischen Nichts in ein perfektionierbares Können eröffnete den Raum, in dem die Kunst sich selbst begründen konnte.

Indem die Kunsttheorie der Renaissance herausarbeitete, wie eine Zeichnung Imagination und Realisierung, Geist und Hand, Idee und Materie miteinander vermittelt, gelangen ihr Bestimmungen, die bis heute Gültigkeit haben, auch wenn die Privilegierung von Imagination, Geist und Idee gegenüber Realisierung, Hand und Materie, wie ausführlicher zu zeigen sein wird, in der Moderne keinen Bestand mehr haben sollte. Andere Aspekte dieser Theorie indessen verlieren in der Moderne ihre Relevanz, und zwar insbesondere deshalb, weil sich die Rahmenbedingungen der künstlerischen Arbeit grundlegend verändern. Kennzeichnend für das „disegno“-Konzept war nämlich auch, dass der Aufstieg der Kunst zu einer das Handwerk übersteigenden, intellektuell anspruchsvollen Tätigkeit durch das Ineinanderspiel von Ästhetischem und Epistemischem, von Schönheits- und Wissensproduktion garantiert werden sollte. In der Praxis brillierte das „disegno“ in Aktzeichnungen und illusionistischen Raumkonstruktionen. Beides verband sich in der wichtigsten zeichnerischen Aufgabe: der korrekten Darstellung von Körpern im Raum gemäss den anatomischen und geometrischen Maßverhältnissen, die beide regulierten. Gerade die Möglichkeiten, Unsichtbares oder der Fantasie Entspringendes zeichnerisch so darzustellen, als stünde es tatsächlich vor Augen, oder auch in die reale Erscheinung von Körpern und Räumen idealisierend einzugreifen, bewiesen, dass im Akt des Zeichnens die Vorstellungskraft und die messbare Wirklichkeit, die ästhetische Anschauung und das Wissen um die korrekte zweidimensionale Darstellung der Welt ineinander aufgehen konnten. Das Zusammenspiel von Ästhetischem und Epistemischem führte nicht zuletzt dazu, dass angesichts der Zeichnungen dieser Epoche kaum je eindeutig zu entscheiden ist, ob sie eine ästhetische oder aber praktische Funktion erfüllten. Die meisten von ihnen wurden als Gebrauchszeichnungen im weitesten Sinne hergestellt, als Entwürfe zu Gemälden, Demonstrationen architektonischer Vorhaben oder Illustrationen schriftlicher Notate, ohne den Anspruch zu stellen, als selbstständige Kunstwerke zu gelten. Gewiss können wir sie unabhängig von dieser Zweckbestimmung betrachten, da ihr ästhetischer Sinn ihre Funktionalität übersteigt. Gleichwohl aber ziehen beispielsweise die Zeichnungen Leonardos, eines der größten Theoretiker und Praktiker des „disegno“, ihren Reiz (und ihr Schöpfer seinen Rang als „Universalgenie“) daraus, dass sich in den einzelnen Blättern die wissenschaftliche Erkenntnisabsicht, die dienende, illustrierende Funktion und die künstlerische Handschrift gerade nicht trennen lassen.

Die im Geist des „disegno“ entstandenen Zeichnungen verfolgten ein eindeutiges Ziel: den Entwurf eines Körpers (welcher Art auch immer), der sich plastisch von der planen Ebene des Blattgrunds abhob, zeichnerisch realisiert anhand jener drei Komponenten, die bereits Leon Battista Alberti in seinem frühem Kunsttraktat aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bestimmte: anhand der den Körper in seiner Erstreckung definierenden „Umschreibung“, anhand der internen „Komposition“ seiner einzelnen Bestandteile oder Glieder sowie anhand des „Lichteinfalls“, der dem Körper Plastizität verlieh und ihn im Raum situierte. Je deutlicher nun die Form sich abzeichnete und je plastischer der Körper heraustrat, desto stärker immaterialisierte sich der Zeichengrund zu einem Medium, dessen vordringliche Funktion das Erscheinenlassen der Figur war. Instrumentell, und damit ästhetisch sich zurücknehmend, wurde aber nicht nur der Zeichengrund eingesetzt, sondern, in unterschiedlichen Graden, auch die Linie. Hinsichtlich der grundsätzlichen Doppeldeutigkeit jeder Markierung, selbstbezüglich auf die eigene Genese und die eigene materielle Beschaffenheit und fremdbezüglich auf das durch die Markierung Bezeichnete zu verweisen, akzentuierte das „disegno“-Konzept eindeutig Letzteres. Der Stolz des Künstlers war seine schier unbegrenzte Darstellungsmacht, mit der alleinigen Hilfe eines Markierungsinstruments potenziell die gesamte innere und äußere Welt bildlich darstellen zu können. Die Dominanz der Figur, die zugleich ideeller Ausgangspunkt und gestalterisches Ziel des Zeichnens war, sowie die damit verbundene Schwächung der ästhetischen Wertigkeit des Zeichengrunds führten dazu, dass Zeichnungen dieser Epoche häufig beschnitten wurden, und zwar dergestalt, dass die neuen Grenzen des Blatts die Figur dicht umschlossen. In der Ausstellung sind Raffaels Studie für eine Venusfigur und sehr wahrscheinlich auch Daniele da Volterras Männlicher Akt mit den Händen über dem Kopf wie wenn er eine Last stützen würde Beispiele hierfür. Das Beschneiden des Blatts erschien legitim, da die Figur ihre Kohärenz aus sich selbst heraus entwickelte und nicht aus ihrem kompositorischen Bezug zu dem Bogen Papier, auf den sie gezeichnet worden war.

Kapitel I: Ursprünglichkeit(en) der Zeichnung
Kapitel Kapitel II: Disegno
Kapitel Kapitel III: Autonomie
Kapitel IV: Schieles „Weiblicher Akt mit angezogenem linkem Knie“
Kapitel V: Modernität und Tradition in der Zeichenkunst um 1900
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Zeichnung Anthropologie Medium Ursprung Geschichte

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Universalität und Geschichtlichkeit des Zeichnens – am Beispiel von Egon Schieles Weiblichem Akt mit angezogenem linkem Knie

in: Linea. Vom Umriss zur Aktion. Die Kunst der Linie zwischen Antike und Gegenwart, Ausstellungskatalog Kunsthaus Zug, Ostfildern 2010, S. 154-165.

„Es besteht ein unermesslicher Unterschied zwischen dem Sehen einer Sache ohne Bleistift in der Hand und dem Sehen, während man sie zeichnet. Oder vielmehr, es sind zwei sehr verschiedene Sachen, die man sieht. Selbst der unseren Augen vertrauteste Gegenstand wird etwas völlig anderes, sobald man sich bemüht, ihn zu zeichnen: man wird gewahr, dass man ihn nicht kannte, dass man ihn niemals wirklich gesehen hatte. […] Man muss also wollen, um zu sehen, und dieses gewollte Sehen ist das Ziel und das Mittel der Zeichnung zugleich.“ Paul Valéry

Kapitel I: Ursprünglichkeit(en) der Zeichnung

Im deutenden Umgang mit der künstlerischen Gattung der Zeichnung, in Überblickswerken nicht weniger als in theoretischen Abhandlungen, manifestiert sich die Tendenz, das „Ursprüngliche“ der Zeichenkunst herauszustellen. Dabei lassen sich zwei unterschiedlich ansetzende, jedoch wechselseitig sich bestärkende Varianten trennen:

Aus anthropologischer Perspektive wird die Zeichnung als primordiales Ausdrucksmittel des Menschen beschrieben, dessen älteste Zeugnisse, auf Faustkeile oder Höhlenwände geritzt, zeitlich weit hinter die frühesten Schriftzeichen zurückreichen. Zeichnen gilt als eine humane Uraktivität, deren „Anfänglichkeit“ sich bis heute in jeder Kinderzeichnung wiederholt. Widerhall findet dies im Urteil über künstlerische Zeichnungen als persönlichste und subjektivste Äußerung eines Künstlers, als unmittelbarer Ausdruck seines Selbst, mit der Folge, dass uns das Betrachten einer Zeichnung in ein privilegiertes, intimes Verhältnis zum Künstler zu setzen scheint.

Auch aus medialer Perspektive wird das Zeichnen als eine Basishandlung begriffen. Denn notwendig ist lediglich ein Minimum: ein markierendes Instrument (ein Stift, ein Finger, eine Tonscherbe, eine Computermaus) sowie etwas, das die Markierung aufnimmt (eine Mauer, eine Sandfläche, der Himmel, die virtuelle Ebene des Bildschirms). Schon der erste Strich, in welcher Materialisierung auch immer, lässt das mediale Potenzial der Zeichnung sich entfalten: die Scheidung zwischen der Markierung und dem tragendem Grund, aber auch die Doppelwertigkeit jeder Markierung, einerseits die Spur ihrer eigenen Genese zu sein, das heißt auf den Zeichnenden und sein Tun zurückzudeuten, und andererseits von sich weg auf anderes zu verweisen, bei einer einfachen horizontalen Linie beispielsweise auf den Horizont. Noch deutlicher als in der sprachlichen Artikulation werden wir angesichts eines solchen Strichs zum Zeugen eines fundamentalen Akts: der Genese eines Zeichens und seiner Kraft, gleichzeitig auf mehreres zu verweisen.

Der Hang, die Kunstgattung der Zeichnung anthropologisch oder medial zu universalisieren, wird zweifellos durch den Umstand befördert, dass die unüberblickbare stilistische und materielle Varianz der Realisierungen von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart es zwingend erscheinen lässt, einen Punkt zu bestimmen, um den sich alles anordnet, um der Fliehkraft der je besonderen Phänomene entgegenzuwirken und zu rechtfertigen, noch immer im Kollektivsingular von „der“ Zeichnung und „dem“ Zeichnen zu sprechen.

Diesem Universalismus (der sich auf mannigfache Zeugnisse seit der Antike berufen kann) sollte indessen eine Historisierung beigesellt werden. Gerade unter dem „Ursprünglichen“ verstehen die unterschiedlichen Epochen das denkbar Verschiedene – und praktizieren es entsprechend. Es sind, mit einem Begriff Ludwig Wittgensteins gesprochen, unterschiedliche „Sprachspiele“ des Primordialen, deren Reiz und Signifikanz in ihrer Besonderheit liegt. Der „Grund“, der im Zeichnen sichtbar zu werden scheint, ist kein überzeitlich gleicher; der Wandel der Kunst schließt den Wandel des Denkens über das eigene anthropologische oder mediale Fundament ein. Dies ist insbesondere mit Blick auf das 19. und das beginnende 20. Jahrhundert zu berücksichtigen, da die Kunst in diesen Jahrzehnten in einem vielschichtigen Prozess, der gemeinhin unter dem Begriff ihrer „Autonomisierung“ zusammengefasst wird, sich gleichsam neu erfand beziehungsweise neu erfinden musste. Alle drei Aspekte, unter denen wir eine künstlerische Zeichnung auffassen können: als Spur einer menschlichen Aktivität, als Kunstwerk und als zeichenhafte Darstellung, verändern sich im 19. Jahrhundert deutlich, denn nicht nur das Tun des Menschen, sondern auch die Kunst sowie schließlich auch die Darstellungsfunktion eines künstlerischen Bildes werden neu und anders aufgefasst.

Kapitel Kapitel I: Ursprünglichkeit(en) der Zeichnung
Kapitel Kapitel II: Disegno
Kapitel III: Autonomie
Kapitel IV: Schieles „Weiblicher Akt mit angezogenem linkem Knie“
Kapitel V: Modernität und Tradition in der Zeichenkunst um 1900
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Universalität und Geschichtlichkeit des Zeichnens als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 172 KB)

Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht

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Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht. Zur französischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts

in: Die Natur der Kunst. Begegnungen mit der Natur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Winterthur, hrsg. von Dieter Schwarz, Düsseldorf 2010, S. 29-47.

Inhalt:

Einleitung

Kapitel I: Realismus

Kapitel II: Kunstautonomie

Kapitel III: Natur und Kulturz

Landschaftsmalerei 19. Jahrhundert Fontainebleau Barbizon Symbolismus

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Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht. Zur französischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts

in: Die Natur der Kunst. Begegnungen mit der Natur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Winterthur, hrsg. von Dieter Schwarz, Düsseldorf 2010, S. 29-47.

Kapitel III: Natur und Kultur

Die Autonomie einer Malerei, die in erster Linie ihre eigenen Prozesse vorführte, und die anspruchslose ›Natürlichkeit‹ eines daliegenden Findlings, der diese Neubegründung der Malerei demonstrieren sollte, erweisen sich bei genauerem Hinsehen allerdings als Schein. Die Natur, die Rousseau – und die anderen Maler der Künstlerkolonie von Barbizon, in der Ausstellung vertreten durch Narcisse-Virgile Díaz de la Peña, Charles-François Daubigny und Constant Troyon – ins Bild setzten, erhält eine kulturelle Bedeutung, sobald man sich verdeutlicht, dass die betreffenden Gemälde einen Adressaten haben: das städtische gebildete Bürgertum insbesondere von Paris. Gerade am Wald von Fontainebleau, dem Sujet der Barbizon-Maler, zeigt sich die intensive Verflechtung von Stadt und Land, urbaner Kultur und ländlichem Raum. Die ›Natürlichkeit‹ dieser Natur erweist sich als Konstrukt städtischer Subjekte.

Während der Jahrhunderte der Valois- und Bourbonen-Herrschaft war der Wald von Fontainebleau das königliche Jagdrevier gewesen. Nach der französischen Revolution, an der Wende zum 19. Jahrhundert, beherbergte das weitläufige Gebiet neben gefährlichen Tieren – unter anderem zahllosen Vipern – eine schillernde Bevölkerung an oder jenseits der Grenze des Gesetzes: Wilderer, Holzfäller und Köhler, die häufig zu Wegelagerern wurden, wenn sich Reisende abseits der wenigen Wege verirrten. Das Gelände war weitgehend unerschlossen, es gab nur rudimentäre Karten, die lediglich die Hauptwege verzeichneten.

Dies fiel einem ehemaligen Soldaten der napoleonischen Armee, Claude François Denecourt, auf, der sich seit der Verbannung Napoleons mit Gelegenheitstätigkeiten über Wasser hielt und schließlich als Cognac-Händler im Städtchen Fontainebleau ein Auskommen fand. Sein Lebenswerk sollte die Erschließung des Waldes von Fontainebleau und dessen touristische Nutzbarmachung werden. Das Mittel dazu war eine neuartige Verbindung von städtischer Kultur und Natur: der Wanderweg, als dessen Erfinder Denecourt in Frankreich gilt. Seit den 1830er Jahren konzipierte er mehrere Gänge durch das Dickicht des Waldes, deren Verlauf er durch blaue, auf Baumstämme gemalte Pfeile markierte. 1837 brachte er den ersten, in den Folgejahren rasch erweiterten Wanderführer heraus, der die Touristen, die das königliche Schloss von Fontainebleau besuchten, davon überzeugen sollte, den Gang ins Waldesinnere anzutreten. Voraussetzung dafür war die erste detaillierte Karte des Waldes, die er drucken ließ und auf der die unterschiedlichen Touren farbig eingezeichnet waren. Die nach Länge und topografischer Schwierigkeit unterschiedenen Wege waren so angelegt, dass sie dem Besucher die verschiedenen Aspekte des Waldes zeigten. Auf Klettertouren über felsige Hänge folgten bequeme Wege auf offenen Wiesen oder an Bächen entlang. In Analogie zur Besichtigung historischer Monumente war Denecourt darauf bedacht, die Wege durch ›Sehenswürdigkeiten‹ zu bereichern: eindrucksvolle Bäume, die er nach Schriftstellern oder Königen benannte und im Wanderführer erläuterte, Höhlen, die er zugänglich machte, besonders pittoreske Ausblicke usw.

Denecourts Initiative zog eine rasch wachsende Gruppe von Enthusiasten an, zunächst aus der romantisch gestimmten Bohème und bald auch aus der Bourgeoisie. Neue Auflagen des Wanderführers adressierten die sich ausdifferenzierenden Besuchergruppen; es gab solche, die speziell für Künstler gedacht waren und ihnen Ratschläge gaben, wo sich die besten Ausblicke boten, während andere besonders vermerkten, wo die Maler ihre Motive gefunden hatten. Die Erfolge der Barbizon-Künstler und des Fontainebleau-Tourismus beförderten sich wechselseitig.

Auch Rousseau und seine Kollegen wandelten auf Denecourts markierten Wegen, manche ihrer Motive lassen sich ihnen eindeutig zuordnen. Nach wiederholten Malkampagnen suchte sich Rousseau als erster der Gruppe 1847 im Bauerndorf Barbizon, das unmittelbar außerhalb des Waldes und praktischerweise an der Straße nach Paris gelegen war, eine Hütte, um dauerhaft dort zu leben. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Denecourts touristisches Programm bereits etabliert und war das Dorf zur Anlaufstelle der Waldgänger geworden. Als in den 1850er Jahren die Eisenbahnlinie Paris-Lyon-Marseille eröffnet wurde, mit einer Haltestelle am östlichen Rand des Städtchens Fontainebleau, stieg die Zahl der Besucher sprunghaft an. Um 1860 ergossen sich – wenn den damaligen Zahlen zu glauben ist – jährlich einhunderttausend Touristen aus den Sonntagszügen, was einen beschleunigten Ausbau der Wege und der gastronomischen Angebote erforderte. Wer nur wenig Zeit hatte oder nicht wandern wollte oder konnte, buchte eine Kutschenfahrt, die an den wichtigsten ›Sehenswürdigkeiten‹ vorbeiführte, oder ließ sich direkt zu einem Aussichtsturm bringen, von dem aus der Wald zu überblicken und bei klarer Sicht die Pariser Stadtkrone zu erkennen war.

Denecourt, dessen Tätigkeit mit der Beförderung zum conservateur-en-chef des Waldes schließlich eine offizielle Legitimation erfuhr, hatte es verstanden, den Wald von Fontainebleau zu einem städtischen Naherholungsgebiet zu machen. Sein Werk ist ein exemplarisches Projekt jenes 19. Jahrhunderts, das hier einleitend als Epoche der Objektivität und des positiven Wissens charakterisiert wurde. Ein kaum erschlossenes, weitgehend rechtsfreies Territorium wurde mit den Mitteln der Datensammlung, der Ingenieurskunst und der strategischen Topografie in Besitz genommen, klassifiziert und kartografisch erfasst. Zugleich wurde es, einmal geordnet, ökonomisch nutzbar gemacht. Denn Denecourt, der das Bedürfnis des modernen Städters nach unterbrechender Abwechslung und ›natürlicher‹ Heilung von urbaner Entkräftung erkannt hatte, fand einen Weg, dessen Befriedigung zu organisieren. Der Ausflug in jenen ›unberührten‹ Wald von Fontainebleau, den die Maler von Barbizon inszenierten, versprach die Begegnung mit einer der Gegenwart enthobenen ›Wildnis‹, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, tatsächlich die Orientierung zu verlieren oder vom Rückweg abgeschnitten zu werden.

So bringt die fiktive Realität des Waldes von Fontainebleau jene eigentümliche Verbindung von Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht, die die Landschaftsmalerei des französischen 19. Jahrhunderts zwischen Rousseau und Cézanne auszeichnet, auf den Punkt. Zugleich zeigt die rasante, nur wenige Jahre in Anspruch nehmende Zivilisierung dieser Wildnis, wie prekär, ja widersprüchlich jene Verbindung war. Gegen Ende des Jahrhunderts floh Gauguin, nach einer Zwischenstation an der bretonischen Küste, in die Südsee, um endlich dort ein unberührtes ›Paradies‹ zu finden – um nach seiner Ankunft in Tahiti festzustellen, dass ihm die Zivilisation auch hier zuvorgekommen war. Immer mehr ließ sich die ›Wildnis‹ nicht mehr im äußeren, sondern höchstens noch im Inneren des Menschen finden, „im Sumpf in unserem Kopf und Bauch“, wie es Henry David Thoreau in seinem als Motto vorangestellten Tagebucheintrag formulierte. In den Landschaften des Symbolismus – in der Ausstellung in den Gemälden Vincent van Goghs und Félix Vallottons fassbar – deutet sich die Wende zur Exploration der ›inneren Wildnis‹ bereits an, im Surrealismus avancierte sie zum ästhetischen Programm. Damit aber endete jener Realismus, der die in diesem Essay behandelten Kunstwerke prägte. Zugleich lockerte sich die feste Koppelung des Themas ›Natur‹ an das Auffassungs- und Darstellungsparadigma der ›Landschaft‹ – eine Koppelung, die, bei aller Transformation der älteren Gattungskonventionen, im 19. Jahrhundert unbefragt weiterbestanden hatte, fortan aber keineswegs mehr zwingend sein sollte.

Einleitung
Kapitel I: Realismus
Kapitel II: Kunstautonomie
Punkt Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht Kapitel III: Natur und Kultur
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Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.182 KB)

Landschaftsmalerei 19. Jahrhundert Autonomie Ästhetisierung Monet

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Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht. Zur französischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts

in: Die Natur der Kunst. Begegnungen mit der Natur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Winterthur, hrsg. von Dieter Schwarz, Düsseldorf 2010, S. 29-47.

Kapitel II: Kunstautonomie

Weder der Standpunkt des Malers noch das von hier aus Sichtbare wirken in Rousseaus Paysage de Fontainebleau besonders herausgehoben oder signifikant. Eher das Gegenteil ist der Fall: gerade der Verzicht auf Selektion und Stilisierung des Motivs erzeugt jenen effet de réel, auf den Rousseau zielt. Wohin sich der Maler setzt, was er ins Auge fasst, spielt – so die Anti-Rhetorik des Bildes – keine Rolle, solange nur das Sichtbare unverfälscht wiedergegeben wird.

Eine solche künstlerische Position setzt voraus, was gemeinhin als ›Kunstautonomie‹ bezeichnet wird: Paysage de Fontainebleau ist das Manifest eines Künstlersubjekts, das selbst bestimmt, was eines Bildes würdig ist, und zugleich das Manifest einer eigengesetzlichen Malerei, die ihren ästhetischen Wert ganz aus sich selbst schöpft. Rousseau verlieh diesen Postulaten auch dadurch Nachdruck, dass er Mitte der 1840er Jahre Paris verließ und sich vor den Toren der Stadt bei jenem Wald niederließ, den er sich zu seinem wichtigsten Sujet gewählt hatte.

Hinsichtlich der Auffassung, ein Steinbrocken in einer Waldlichtung reiche als Sujet eines Bildes aus, müssen im Frankreich des 19. Jahrhunderts zwei Schritte der Autonomisierung unterschieden werden. Zunächst, nach dem Ende des Ancien régime und verstärkt in der Romantik, ging es darum, die Malerei von der Aufgabe zu entbinden, gewisse vorgegebene Inhalte zu repräsentieren und auf diese Weise eine fremdbestimmte gesellschaftliche Funktion, beispielsweise für die Kirche oder den Staat, zu erfüllen. Der zweite Schritt war entschieden radikaler. Maler wie Rousseau wiesen die Verpflichtung zurück, in ihren Bildern überhaupt etwas auszusagen, was sich nicht aus dem Kunstwerk selbst erschloss. Die Ausdifferenzierung eines auf sich selbst gegründeten malerischen Feldes vollzog sich daher insbesondere durch die Abwehr alles ›Literarischen‹ im weitesten Sinne des Begriffs. Das Bild sollte auf keine Textquelle rückführbar sein, ja noch nicht einmal auf einen heteronomen Diskurs, der von außen bestimmte, wonach sich seine Herstellung und seine Betrachtung zu richten haben. Daraus erklärt sich die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmende Tendenz zu inhaltsarmen Sujets und zu einer offenen, skizzenhaft wirkenden Malweise: Beides unterlief die Möglichkeit, dem Kunstwerk eine von ihm ablösbare Aussage entnehmen zu können.

Damit ging eine Neufundierung des künstlerischen Tuns einher. Während die Bezugsgrößen der vormodernen Kunst – das Prinzip der Nachahmung, die Gliederung in höher- und minderwertige Gattungen und Darstellungsmodi oder die Patronats- und Auftragsverhältnisse – an Bedeutung verloren, gingen die Künstler auf die Grundlagen ihres Tuns zurück. Zunehmend freigesetzt von ihren tradierten Aufgaben, begannen sie, ihre Selbst- und Weltwahrnehmung zu erforschen sowie über ihr Gestaltungsmedium zu reflektieren. Die Besonderheiten der subjektiven Wahrnehmung einerseits und der Eigenheiten des künstlerischen Mediums andererseits wurden nun zum Fundament der Kunst. Im ersteren Fall bestimmte sich ›Autonomie‹ als Freisetzung des Künstlers von unmittelbaren Vorgaben politischer, religiöser oder weltanschaulicher Art. Im letzteren Fall bestimmte sie sich als Freisetzung des malerischen Idioms von normativen Vorgaben hinsichtlich der angemessenen Darstellungsweisen und malerischen Techniken. Unter solchen Voraussetzungen kann das ›Porträt‹ eines Findlings einem Gemälde über die Mysterien des Glaubens oder die großen Taten von Prinzen und Helden grundsätzlich ebenbürtig werden.

Die Ästhetisierung der Kunst – als das Zurückdrängen aller nicht-ästhetischen Kommunikate eines Kunstwerks – erfolgte parallel zum Aufstieg der Landschaftsmalerei zu einer Leitgattung des 19. Jahrhunderts. Beide Prozesse bedingten und beförderten sich wechselseitig. In der Gattungshierarchie der vormodernen Kunst, an deren Spitze die religiöse und weltliche Historienmalerei stand, rangierte die Landschaftsmalerei aufgrund ihrer Inhaltsarmut auf einem niedrigen Rang. Jetzt aber wurde dasselbe Charakteristikum zu einem entscheidenden Vorzug. Indem ein Landschaftsgemälde in erster Linie den eigenen Entstehungsprozess vorführte – den Gang zum Motiv, das genaue Studium des gewählten Objekts und die Umsetzung des Gesehenen in Malerei -, war es besonders gut geeignet, die Neufundierung der Malerei auf die Subjektivität der Wahrnehmung und die Eigengesetzlichkeit des Mediums augenfällig werden zu lassen.

Die Doktrin des l’art pour l’art, die etwas später als Rousseaus Gemälde und parallel zum Aufstieg des Impressionismus entstand, führte diese Auffassung zu einem Höhepunkt. Einen ihrer Gründungstexte verfasste 1884 Théodore Duret, ein Sammler und zugleich einer der ersten Historiker des Impressionismus. Durets Argumentation bezieht die Bestimmung der eigentlichen Qualität der Malerei unmittelbar auf die Kunstauffassung des Connaisseurs, der an einem Kunstwerk nicht seinen Inhalt, sondern allein die Art und Weise seiner künstlerischen Realisierung schätzt. In den Augen der Kenner, so Duret, dominiere die eigentliche, immanente Qualität der Malerei alles andere, und das Sujet, das ehedem über die Vorzüge gegenüber anderen Bildern entschieden habe, sei für sie eine bloße Nebensächlichkeit. Kenner seien unvoreingenommen, was das Sujet eines Bildes betreffe, jedoch äußerst eklektisch hinsichtlich der künstlerischen Qualität. Alles, was sie von einem Bild forderten, sei, dass es ›wirkliche Malerei‹ sei. In dieser Hinsicht jedoch seien sie erbarmungslos.

Insbesondere den Ausstellungsexponaten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich dieser folgenreiche Paradigmenwechsel ablesen. Endgültig vollzogen ist er beispielsweise bei Cézanne, dessen Gemälde Sous-bois schon zur Sprache kam, aber auch in den nur wenig früheren Gemälden Claude Monets, etwa den beiden Seestücken Étretat, Falaise et Porte d’amont, grosse mer (1883) oder Tempête sur les côtes de Belle-Île (1886).

Monets Meer ist kein Ort, wo mythische Gestalten wohnen oder sich signifikante Ereignisse abspielen. Wovon die Gemälde ›erzählen‹, ist vielmehr die Verwandlung der Dynamik des Motivs in die Dynamik der Malerei, die sich der ästhetischen Sensibilität und der Virtuosität des Malers verdankt. Monet zielte in seinen Gemälden auf einen Effekt, den man zusammenfassend als ›stehenden Augenblick‹ bezeichnen kann: auf die ›Momentaneität‹ als Prinzip sowohl der ästhetischen Naturerfahrung als auch der Erscheinungsweise der Dinge. Zwischen beidem vermittelte für Monet das Licht. Dieses begriff er als eine raumzeitliche ›Hülle‹, die die Dinge umschloss und sie zum Ereignis der Sichtbarkeit machte. Während Cézanne seine Motive in ein ebenmäßiges, keiner Tageszeit zuzuordnendes ›graues Wetter‹ tauchte, hatte Monet die Ambition, jener ›Momentaneität‹ die Konkretion einer spezifischen, beständig veränderlichen Lichtsituation zu geben, womit er die stasis und die dynamis der Zeiterfahrung miteinander verschmolz. Und während Cézannes pulsierende Räumlichkeit aus dem Kontrast der distinkten und vergleichsweise regelmäßig aufgetragenen Flecken entspringt, erreichte Monet den Effekt der ›instantaneité‹ durch die geradezu chaotische Mikrostruktur seiner Malerei, deren divergierende Kräfte erst im Gesamtbild ausbalanciert erscheinen. Monets Farbauftrag ist ohne klare Ausrichtung, ja sozusagen omnidirektional, was beim Sujet der beiden Gemälde – an Klippen sich brechenden Wellen – unmittelbar sinnfällig ist. Bei jedem Pinselschlag wechseln Form und Konsistenz des Farbauftrags, und das Springen des Pinsels über die Bildfläche wirbelt die Malschichten durcheinander. Die Materialität und die Bewegtheit der Malweise berühren sich mit der Beschaffenheit des Motivs, was zu einer ›Körperlichkeit‹ des Darstellens wie auch der Werkerfahrung führt, denen wir in anderer Weise bereits bei Courbet begegneten. Wie Courbet spielte auch Monet mit den Möglichkeiten wechselnder malerischer Oberflächenstrukturen: Étretat, Falaise et Porte d’amont weist nicht nur entschieden geringere Farb- und Helligkeitskontraste auf als Tempête sur les côtes de Belle-Île, sondern ist in seiner Maloberfläche auch weniger reliefiert. Denn da die ›Hülle‹ des Lichts im ersteren Gemälde die Abenddämmerung ist, entschied sich Monet hier für eine weichere, ebenmäßigere Oberflächentextur, die er durch die Verwendung flüssigerer Farben erreichte.

In Monets bildnerischer Logik bleibt das Licht den Dingen nicht äußerlich – als akzidentelle Beleuchtung einer gleichbleibenden Substanz, die sie lediglich anders erscheinen ließe -, sondern es verwandelt die Dinge, indem es deren Materialität zu transformieren scheint. Diese materielle Verwandlung der Dinge durch das Licht realisierte Monet im Medium seiner Malerei. Im ›Stoff‹ der Gemälde gehen Substanz und Akzidenz ineinander auf, durchdringen sich die Entmaterialisierung der Wasser- und Felsmassen zu ephemeren ästhetischen Effekten und die Materialisierung des Bildes als je anders durchgearbeitete Malerei.

Bei den Zeitgenossen, die die Malerei zwischen Rousseau und Cézanne kritisch begleiteten, hat die Konzentration auf Naturdetails und die zunehmend offene, skizzenhafte Ausführung der Gemälde nicht nur Zustimmung gefunden. Gängig wurde die Klage, diese Maler seien offenbar nur noch in der Lage, ›Stücke‹ oder ›Fragmente‹ (›morceaux‹) zu produzieren, nicht aber Bilder in einem inhaltlich und formal vollgültigen Sinne (›tableaux‹). Die ›realistische‹ Zuwendung zur Tatsächlichkeit des Gesehenen sowie zum konkreten Vollzug des Sehens und des Malens zerstöre, so die Kritik, jenen Blick auf das Ganze und jene durchgestalteten bildnerischen Kompositionen, die die frühere Kunst hervorgebracht habe. Gleichzeitig lasse die Beschränkung der Kunst auf ihre ästhetische Funktion die moralische und gesellschaftliche Rolle der Kunst leerlaufen. Unklar blieb für die Kritiker, worin der Sinn lag, solche Bilder zu produzieren, und worin er lag, diese anzuschauen. Die Kehrseite des Autonomisierungsprozesses lag (und liegt) folglich darin, dass sich diese Fragen seither immer neu stellen und immer neu beantwortet werden müssen.

Einleitung
Kapitel I: Realismus
Punkt Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht Kapitel II: Kunstautonomie
Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht Kapitel III: Natur und Kultur
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Landschaftsmalerei 19. Jahrhundert Rousseau Courbet Cézanne

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Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht. Zur französischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts

in: Die Natur der Kunst. Begegnungen mit der Natur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Winterthur, hrsg. von Dieter Schwarz, Düsseldorf 2010, S. 29-47.

Kapitel I: Realismus

Im Rückblick fällt es nicht leicht, das Pathos der Objektivierung und die Hochschätzung positiven Wissens zu verstehen, die das 19. Jahrhundert kennzeichnen. Ein epochenspezifischer Realismus zeigt sich in fast allen gesellschaftlichen Bereichen: im Aufschwung der Statistik, allgemein des Zählens und des Messens – im Willen, die Welt vollständig beschreiben und taxonomisch ordnen zu können; in der flächendeckenden Anwendung exakter kartografischer Verfahren, bis am Ende des Jahrhunderts ein Kartenbild des gesamten Erdballs erstellt war; in der Entwicklung der Soziologie und der Ökonomie zu empirischen Wissenschaften gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und Selbststeuerung; in der Medizin, die zu einer auf experimentelle Forschung und Datensammlung gegründeten Disziplin wird; in der Erfindung der Fotografie; in der Entstehung des Journalismus, der Nachrichtenagenturen und der Tagespresse, mit dem Ergebnis, dass die führenden europäischen Zeitungen an der Wende zum 20. Jahrhundert Meldungen brachten, die zu 95 Prozent nicht älter als einen Tag waren, und in etlichen Hinsichten mehr. Deutlich wurde indessen auch, dass der Zugewinn an positivem Wissen die Möglichkeiten zur Synthese, die Schließung des Faktenwissens zur verstehbaren ›Welt‹, in unerreichbare Ferne rückte.

Realistisch ist auch die Malerei Théodore Rousseaus, des Begründers der im Nachhinein als ›Schule von Barbizon‹ apostrophierten Künstlerkolonie am Rande des Waldes von Fontainebleau, die sich seit den 1830er Jahren zu formieren begann. Was diesbezüglich mit ›Realismus‹ gemeint ist, lässt sich verdeutlichen, wenn wir Rousseaus Paysage de Fontainebleau mit einer komponierten Ideallandschaft der klassischen französischen Malerei des 17. Jahrhunderts vergleichen. Claude Lorrains Paysage avec Jacob et Laban et ses filles von 1676 verdankt sich einem künstlerischen Verfahren, das – mit 1708 publizierten Formulierungen des Kunsttheoretikers Roger de Piles gesprochen – „aus der Kunst wie aus der Natur all das herausholt, was die eine und die andere an Großartigem und Außergewöhnlichem hervorbringen können“, um daraus ein Bild entstehen zu lassen, in dem die Natur „nicht so gezeigt wird, wie wir sie täglich und zufällig sehen“, sondern vielmehr so, „wie wir denken, dass sie sein müsste“. Lorrains Gemälde zeichnet sich durch die sorgfältige Ausbalancierung von Teil und Ganzem, Zentrum und Peripherie, Nah- und Fernsicht, Hell und Dunkel, malerischer Präzision und im Dunst verschwimmender Formen aus, wobei diese unterschiedlichen Spannungsbeziehungen sinnfällig ineinandergreifen. Die Übersichtlichkeit der Landschaft, der ›Durchblick‹ (›prospectus‹) bis zum fernen Horizont, verbindet sich unmittelbar mit der ›perspicuitas‹, der ›Prägnanz‹ und ›Lesbarkeit‹ der malerischen Gestaltung, die Lorrain unter anderem mit der klaren Gliederung des Bildraums in Vorder-, Mittel- und Hintergrund und der Positionierung der mächtigen Baumgruppe im Goldenen Schnitt der Bildbreite erreicht. Der Idealität der Natur entspricht die Idealität des Blickpunktes, von dem aus sie gesehen ist: Nichts an der Natur, so wie sie hier erscheint, ist ungeordnet, und nichts im Bild verstellt den sie erfassenden Blick. So kann diese Natur, ohne dass es unpassend erschiene, zur Bühne für die Begegnung biblischer Protagonisten werden.

Im Gegensatz dazu lässt Rousseaus Gemälde keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Maler darin einen ihm so vor Augen liegenden Ausschnitt der Natur wiedergab. Zwar greift auch Rousseau auf klassische kompositorische Maßnahmen zurück, das Motiv bildnerisch zu fassen – was mit seiner Bewunderung für die niederländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts, insbesondere für Jacob van Ruisdael und Meindert Hobbema, zusammenhängen mag. So liegt beispielsweise die höchste Stelle des Findlings im Goldenen Schnitt der Bildbreite wie auch der Bildhöhe. Zugleich aber wird die Distanz zwischen dem Betrachterstandpunkt und dem Felsbrocken so dramatisch verkürzt, dass dieser zu einem mächtigen Hindernis wird, sowohl für den im Bildraum umherschweifenden Blick als auch für jeden, der sich in dem dargestellten Gelände bewegen wollte. Als zweite Barriere verstellt eine ›Wand‹ aus Bäumen im Mittelgrund den Blick in die Ferne. Rousseau zielt nicht wie Lorrain – und wie, wenn auch weniger offensichtlich, auch Ruisdael und Hobbema – darauf, die verschiedenen Naturelemente zu einer dem Alltäglichen und Zufälligen enthobenen Landschaft zu verklären. Unwegsamkeit und Widerständigkeit sind die Charakteristika von Rousseaus Natur, ins Bild gesetzt anhand der sorgfältigen ›Porträtierung‹ eines Findlings, der sich der Umgebung gerade nicht einfügt, sondern als erratische Realie erdgeschichtlicher Prozesse daliegt. Undenkbar, dass in dieser Landschaft biblische oder mythologische Figuren aufträten.

Die Metapher der ›Porträtierung‹ verweist darauf, dass Rousseaus Landschaftsbild auf der nahsichtigen Gegenübersituation von Maler und ›Modell‹ beruht: auf der Entscheidung, die Staffelei gerade hier aufzustellen und zu malen, was sich von diesem Standpunkt aus dem Auge darbietet. Nicht nur in der Malerei, sondern auch in den Wissenschaften meint ›Realismus‹ sowohl die Zuwendung zu den Tatsachen als auch die Reflexion des subjektiven Standpunktes, von dem aus sie gewonnen sind. Das führt jeweils zu starken Spannungen zwischen der gewollten Objektivität der Ergebnisse und der Subjektivität und Situationsabhängigkeit ihrer Erarbeitung – Spannungen, die auch Rousseaus Paysage de Fontainebleau prägen.

Sie treten hervor, wenn wir das Gezeigte auf die zwei maßgeblichen Instanzen der Bilderzeugung beziehen, einerseits auf die Instanz des Betrachterstandpunkts, von dem aus es gesehen ist, andererseits auf die Instanz der Bildfläche, auf der es sich zeigt. Vom Standpunkt des Betrachters aus gesehen treten die Bildelemente in eine räumliche Isolierung zueinander: Zwischen Stein und Bäumen, Bäumen und Himmel ergeben sich keinerlei Übergänge, vielmehr stehen sie unvermittelt neben- und hintereinander, sich wechselseitig verdeckend. Betrachtet man die Bildelemente hingegen in ihrem Verhältnis zur Bildfläche, schließen sie sich zu einer dichten Einheit zusammen. Auf die Positionierung des Findlings im Goldenen Schnitt von Bildhöhe und -breite wurde bereits hingewiesen; zu ergänzen sind etwa die in die Mitte der Bildbreite gesetzte, höher aufragende Baumgruppe oder die auf der Mittelline der Bildhöhe verlaufende Oberkante der Böschung im Vordergrund. Resultiert der Eindruck der Isolierung und Zusammenhanglosigkeit der Bild- bzw. Naturelemente aus einem räumlich-verknüpfenden Sehen, das das Sichtbare auf sich und den eigenen Standpunkt vor dem Bild bezieht, ergibt sich der Eindruck der Verbundenheit der einzelnen Elemente aus einem bildhaft-kompositorischen Sehen, das das Sichtbare auf die Fläche, unabhängig von ihrem Verhältnis zum Betrachter, bezieht. Während in Lorrains landschaftlichem ›Idealismus‹ die standpunktabhängige Raumordnung der Natur und die kompositorische Flächenordnung des Bildes wechselseitig auseinander hervorgehen, werden in Rousseaus Gemälde der Bezug des Sichtbaren auf den eigenen Standpunkt einerseits und auf die Bildfläche mit ihren immanenten Proportionsgesetzen andererseits zu divergierenden Aspekten, unter denen dasselbe Stück Natur gesehen werden kann. Rousseaus Tatsächlichkeitsemphase, genau das zu malen, was sich von einem bestimmten Standpunkt aus zeigt, verstellt – in buchstäblichem Sinne – den Blick auf das ›Ganze‹ der Natur.

Analoges gilt für die Dimension der Zeit. Bei Lorrain harmonieren das ›Jetzt‹ des Anblicks, die übergeordnete Zeit der Natur und die ferne Vergangenheit des Alten Testaments, indem das Gemälde diese verschiedenen Zeitebenen in einer unbestimmten Dauer aufgehen lässt. Bei Rousseau hingegen weist das Motiv des erratischen Findlings darauf hin, dass das ›Jetzt‹ der Ansicht, in der er sich phänomenal zeigt, und die erdgeschichtlichen Vorkommnisse, die ihn und seine Umgebung geformt haben, in keinem Kontinuum der Dauer aufgehen, sondern voneinander getrennte Zeit-Schichten sind, die im Augenblick der Wahrnehmung gleichsam aufeinanderprallen.

Der tatsachenorientierte, nahsichtige Blick auf die Natur hat folglich einen widersprüchlichen Effekt. Rousseau verzichtet auf Lorrains distanzierten Blick, in dem sich die Natur als wohlproportionierte Landschaft zeigt. Vielmehr bahnt er sich, inmitten der Natur, seinen Weg. Diesem Zugewinn an Intimität kontrastiert jedoch die eigentümliche Fremdheit, mit der der Findling ›zurückblickt‹.

Als die Landschaftsmalerei auf das Arbeiten inmitten der Natur neu gegründet wurde, stellte sich das Problem der ästhetischen Grenze: Wie konnte die Erfahrung, dass die Natur nicht nur vor einem lag, sondern ein Raumkontinuum bildete, in welchem man stand, zu der man sich also nicht nur in einem visuellen, sondern zugleich in einem körperlichen Bezug befand, mit dem Medium des Bildes versöhnt werden, das den fiktiv eröffneten Raum vom Realraum des Betrachters unüberbrückbar trennt? Die Geschichte der Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert ließe sich auch als Geschichte der ästhetischen Lösungen dieses Problems schreiben. Aus den Ausstellungsexponaten seien zwei unterschiedliche Lösungsansätze, die visuelle und die körperliche Naturerfahrung ineinanderzuführen, herausgegriffen.

Gustave Courbet malte häufig Landschaften, in denen Gewässer fließen, und häufiger noch solche, in denen die Gewässer als Quelle aus dem Gestein entspringen. Zu dieser Motivgruppe gehört auch Paysage du Jura, entstanden um oder nach 1866. Es ist für Courbets Bildabsicht bezeichnend, dass das Wasser jeweils so aus dem Bild heraus und auf den Betrachter zu fließt, dass es dessen Füße umspülen müsste. Auf diese Weise wird der Betrachter in einen physischen Zusammenhang mit dem Bildraum gebracht. Gegenläufig zur Fließrichtung des Wassers wird sein Blick ins Innere des Bildes gezogen, zum dunklen, kühlen Ende des Tals und die Felswände empor bis zur scharfen Grenzlinie von Felsen und Himmel. Durch die konträren Bewegungen – aus dem Bild heraus und ins Bild hinein – überschreitet die Erfahrung von Courbets Paysage du Jura das Visuelle und wird zu einer gleichsam körperlichen Erfahrung. Dem entspricht auf der Ebene des künstlerischen Mediums eine Malweise, die nicht auf einen ebenmäßigen Farbauftrag abzielt, sondern sich dadurch auszeichnet, in Abhängigkeit vom jeweils Darzustellenden – Himmel, Wolke, Fels oder Wasser – unterschiedliche Werkzeuge je anders einzusetzen und dadurch differenzierte Konsistenzen und Oberflächenstrukturen der Malerei zu erzeugen. Bei den Felsen, aber auch bei der Gischt des Wassers etwa lässt die virtuose Spachteltechnik, verbunden mit zusätzlicher Lasierung und Strukturierung der noch weichen und bereits angetrockneten Farbaufträge, das Dargestellte gleichsam haptisch heraustreten. Seh- und Tastsinn nähern sich einander an.

Am Ende der in diesem Essay behandelten Epoche kündet eine Stelle in einem späten Brief Paul Cézannes davon, dass auch ihn die Relation von Betrachterstandpunkt und Sehfeld sowie von körperlicher und visueller Erfahrung der Natur umtrieb; allerdings führte ihn dies zu ganz anderen bildnerischen Lösungen als Courbet.

„Ich möchte dir sagen“, schrieb Cézanne 1906 an seinen Sohn, „dass ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, dass bei mir jedoch die Realisierung meiner Empfindungen immer sehr schwierig ist. Ich kann die Intensität, die sich vor meinen Sinnen entfaltet, nicht erreichen, ich besitze diesen großartigen Farbenreichtum nicht, der die Natur beseelt. Hier, am Ufer des Baches, vervielfachen sich die Motive, das gleiche Sujet, unter einem anderen Blickwinkel gesehen, bietet ein Studienobjekt von stärkstem Reiz und von solcher Mannigfaltigkeit, dass ich glaube, mich über Monate beschäftigen zu können, ohne den Platz zu wechseln, indem ich mich bald mehr nach rechts, bald mehr nach links beuge.“

In seinem Bemühen, die Intensität des Gesehenen malerisch zu realisieren, wandte sich Cézannes Aufmerksamkeit dem eigenen Körper zu: dessen Beweglichkeit sowie der Art und Weise, wie diese das Gesehene affiziert. Unter der Voraussetzung eines dynamisierten Sehens zu malen hieß, dem Bild nicht nur die gegenläufige Verschiebung von Blickpunkt und Sehfeld einzutragen, die das Wiegen des Körpers hervorrief, sondern zugleich die Empfindung der eigenen Körperbewegung mit derjenigen der ›beseelten‹ Natur zu verschmelzen – ein bildplastisches Problem, das man sich nicht schwierig genug vorstellen kann. In einem drei Wochen früher geschriebenen Brief, in dem er bereits von Erfahrungen berichtete, die er an demselben Bachufer machte, stellte er dafür eine Maxime auf. Es sei ausschlaggebend, ins Bild „ein Höchstmaß an Wechselbeziehungen hineinzubringen“. Diese Wechselbeziehungen betrafen folglich nicht nur die einzelnen Bildelemente, deren schwebende Balance Cézanne im Gewebe seiner Flecken (›taches‹) immer neu zu verwirklichen suchte, sondern zugleich das Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem beweglichen Körper des Malers. Erneut geht es um die Relationierung der Instanz des eigenen Betrachterstandpunkts, von der aus das Sehfeld räumlich erschlossen wird, mit der Instanz der Bildfläche, in deren immanente, standpunktunabhängige Ordnung das Gesehene zu übersetzen ist.

An dem Gemälde Sous-bois, um 1892 entstanden, lässt sich beobachten, wie Cézanne beides ineinanderzublenden versuchte. So führt die starke Konturierung der nebeneinanderstehenden und zugleich hintereinandergestaffelten Baumstämme im Vorder- und Mittelgrund zu einem Effekt, der von stereometrischen Fotografien bekannt ist: zu einer Räumlichkeit, die eher aus der Verschiebung verschiedener Bildebenen zueinander entsteht als aus einer nachvollziehbaren Tiefenstaffelung der Dinge, und die sich einstellt, wenn der Betrachter seinen Kopf vor den Gucklöchern etwas hin und her bewegt.

Gerade weil Sous-bois mit seinem Motiv eines in die Bildtiefe führenden Waldwegs Ansätze zu einer raumperspektivischen Ordnung erkennen lässt, wird deutlich, dass Cézanne die Räumlichkeit des Bildes gerade nicht durch klassische perspektivische Mittel realisierte. Außer dem Neben- und Hintereinanderstaffeln ähnlicher Bildelemente, die den beschriebenen Effekt einer seitlichen Drift erzeugen, sind dafür vielmehr Cézannes einzelne, diskrete ›taches‹ verantwortlich. Jeder Farbfleck markiert zugleich eine Position im Raum und eine Position auf der Bildfläche, wobei beides fortlaufend ins andere umspringt: Im Kontext des Bildes als tiefenräumliche Illusion zeigt sich die ›tache‹ als Fläche, in der flächigen Ausbreitung der Leinwand indessen als Tiefe. Diese Doppelidentität gewinnen die Flecken deshalb, weil sie sich kaum je verdecken, sondern konsequent nebeneinander gesetzt sind und somit jeweils gleich weit von unserem Auge entfernt erscheinen. Die Tiefenräumlichkeit von Sous-bois wird insgesamt zu einem differenziellen Effekt, wobei sich der Raum, den keine einzige in die Tiefe führende Linie erschließt, nie mit einem messbaren Raum konvergiert. Durch das unruhige Nebeneinander von wärmeren und kühleren, helleren und dunkleren Farbtönen gewinnt er vielmehr eine zeitliche Dimension, die ihn pulsieren – entstehen und wieder schwinden – lässt. Die das gesamte Bild erfassende Bewegtheit kann folglich weder allein auf eine Bewegung im Objekt – beispielsweise ein Rascheln der Blätter im Wind -, noch allein auf die Bewegung des Malers – das im Brief genannte Wiegen des Körpers „bald mehr nach rechts, bald mehr nach links“ – reduziert werden. Vielmehr hebt sich beides in einer Bewegtheit des Bildes selbst auf, so als blickten wir durch ein Kaleidoskop, dessen Drehung die Welt in eine immanente Ordnung farbiger, sich gegeneinander verschiebender Facetten überführt.

Einleitung
Punkt Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht Kapitel I: Realismus
Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht Kapitel II: Kunstautonomie
Kapitel III: Natur und Kultur
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Landschaftsmalerei 19. Jahrhundert Frankreich Realismus

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Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht. Zur französischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts

in: Die Natur der Kunst. Begegnungen mit der Natur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Winterthur, hrsg. von Dieter Schwarz, Düsseldorf 2010, S. 29-47.

„Es ist umsonst, wenn wir von einer Wildnis träumen, die in der Ferne liegt. So etwas gibt es nicht. Der Sumpf in unserem Kopf und Bauch, die Urkraft der Natur in uns, das ist es, was uns diesen Traum eingibt. Nie werde ich im fernsten Labrador eine größere Wildnis finden als in einem Winkel in Concord, d.h. als die, welche ich dort hineintrage.“ (Henry David Thoreau, Tagebuch, 30. August 1856)

Einleitung

Ein Findling im Vordergrund, ein Riegel Bäume im Mittelgrund, darüber schräg nach rechts ziehende Wolken: Théodore Rousseaus Paysage de Fontainebleau, eines der frühesten Exponate der Ausstellung, wohl in den frühen 1840er Jahren entstanden, ist ein motivisch und in seiner Ausführung unauffällig wirkendes Landschaftsgemälde – und dennoch ein Werk, worin sich die Transformation des Naturbildes in der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts deutlich abzeichnet. Dabei handelt es sich, genau genommen, um zwei Transformationen, die unterschieden werden müssen, in den Bildern allerdings kaum zu trennen sind: die Veränderung der Naturauffassung einerseits und die Veränderung des Kunstbegriffs andererseits. Diese ineinandergreifenden Transformationen werden im Folgenden unter drei Aspekten betrachtet: erstens des Realismus, dem die Bilder verpflichtet sind; zweitens des Konzepts der Kunstautonomie, auf dem sie gründen; und schließlich des neuen Verhältnisses von Natur und Kultur, das sich darin manifestiert. Ausgangspunkt der Überlegungen wird jeweils Rousseaus genanntes Gemälde sein. Was sich daran zeigen lässt, kann jedoch, mutatis mutandis, auf etliche weitere Exponate der Ausstellung aus dem hier thematisierten Zeitraum erweitert werden, was entsprechende Ausblicke andeuten werden.

Punkt Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht Einleitung
Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht Kapitel I: Realismus
Kapitel II: Kunstautonomie
Kapitel III: Natur und Kultur
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Zwei Aspekte der Formdynamisierung in der Kunst der Moderne

Zwei Aspekte der Formdynamisierung als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 2.193 KB)

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Zwei Aspekte der Formdynamisierung in der Kunst der Moderne

in: Form. Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis, hrg. v. Armen Avanessian, Franck Hofmann, Susanne Leeb und Hans Stauffacher, Zürich/Berlin 2009, S. 167-188.

Inhalt:

Einleitung

Kapitel I: Form/Inhalt: Die Dynamisierung der Kunst als Kommunikat

Kapitel II: Materie/Form: Die Dynamisierung des Kunstwerks als Artefakt

Materie Form Valéry Stella Oldenburg

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Zwei Aspekte der Formdynamisierung in der Kunst der Moderne

in: Form. Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis, hrg. v. Armen Avanessian, Franck Hofmann, Susanne Leeb und Hans Stauffacher, Zürich/Berlin 2009, S. 167-188.

Kapitel II: Materie/Form: Die Dynamisierung des Kunstwerks als Artefakt

Unter dem Eindruck der Kunst seiner Zeit unternahm Paul Valéry eine Neubestimmung des traditionellen Begriffs der ‚Poetik‘. Während die klassische Kunst, so Valéry, darunter ein Regelwerk verstanden habe, dem der Künstler folgen solle, sei der Begriff auf ein zeitgemäßes Verständnis zu heben, indem er auf seine etymologische Wurzel zurückgeführt werde: auf das griechische Verbum ‚poiein‘, ‚machen‘, als dem eigentlichen Zentrum der Kunst. Wovon eine solche ‚Poietik‘ handelt, war nach Valéry weniger die zu realisierende ‚Form‘ als vielmehr die ‚Formation‘ des Werkes: jener kunstspezifische Prozess, der „in ein Werk mündet und dafür alle jene physischen Mittel einsetzt, die ihm dienlich sein können“. Dieselbe Wendung, so Valéry weiter, vollziehe auch der Betrachter. Aus der Art und Weise, wie ihm das Werk erscheine, wolle er erschließen, wie es gemacht worden sei. Die Suche danach gehe über die Strukturen des Werkes zurück auf die künstlerische Intention, als deren Spur das Kunstwerk zu verstehen sei. Folgen wir Valérys Gedanken, zeigt ein Kunstwerk dreierlei: erstens ein Produkt, zweitens jenen Prozess, der in das Produkt mündete, und schließlich die Spezifik künstlerischer Produktivität, die sich von außerkünstlerischen Produktionsformen unterscheidet. Kunst wandelt sich, so gesehen, zur Ästhetik und Poetik künstlerischer Produktion. Deren Gelingen liegt nun weniger in der formalen Vollendung (die den Hervorbringungsakt im Kunstwerk weitestmöglich zum Verschwinden bringen möchte), sondern darin, den Akt der ‚Formation‘ mit seinem je besonderen Einsatz ‚physischer Mittel‘ sichtbar zu halten. Dem Kunstwerk wird eine Zeitlichkeit zugebilligt, die diesseits der Formen beginnt und darüber hinausgeht. Es ist nicht festgestellt und nicht feststellbar, sondern ein ‚Moment‘ in einem metamorphotischen Prozess der Verformung und Verwandlung.

Valérys Neufassung der Poetik als ‚Poietik‘ trifft einen entscheidenden Aspekt moderner Kunstentwicklung. Tatsächlich favorisieren die Avantgarden des 19. und 20. Jahrhunderts den Prozess gegenüber dem Produkt, und ihre Formexperimente zielen darauf, die ‚physischen Mittel‘ der Kunst sichtbar werden zu lassen. Die Spannung zwischen Materie und Form wird immer weiter erhöht, bis die beiden Pole in ihrer Gegenstrebigkeit heraustreten und die Formrealisierung als unabgeschlossen oder unabschließbar vorgeführt wird.

Man könnte diesen grundlegenden Wandel an vielen und überdies sehr unterschiedlichen Beispielen zeigen. Keineswegs muss es sich dabei um besonders ‚gestische‘ oder ‚performative‘ Kunstformen handeln. Selbst die konzeptuellen Ansätze, die auf den subjektiven Ausdruck verzichten und eine reine Ideenkunst entwickeln wollten, bezeugen das Primat der ‚Formation‘ über die ‚Form‘, indem sie eine bestimmte ‚Poietik‘ der Produktion entfalten – als deren Vergeistigung oder aber als jener „absurde Nominalismus“, den Rosalind Krauss im seriellen Durchspielen eines bestimmten Konzeptes angelegt sah. Obschon in der Moderne das Handwerk und der Regelkanon, die ein Künstler kennen muss, um Kunst zu machen, immer stärker erodieren, erledigt sich die Frage, wie das jeweilige Kunstwerk gemacht ist, gerade nicht, sondern wird umgekehrt zu seinem entscheidenden Aspekt, nämlich als das augenfälligste Differenzmerkmal. Denn jetzt ergibt sich die in der Vormoderne unbekannte Situation, dass die jeweilige ‚Formation‘ (vom gewählten Konzept über die eingesetzten Materialien bis zur Technik der Ausführung) ebenso spezifisch wird wie die daraus entstehende Form. Seit den klassischen Avantgarden, welche die Materialien und Methoden der Kunst multiplizierten, sicherten sich die Künstler ihre Unverwechselbarkeit häufig weniger durch eine bestimmte stilistische Differenz innerhalb eines bestehenden künstlerischen Verfahrens (beispielsweise der Ölmalerei, oder spezifischer noch, einer einzelnen Gattung, etwa des Stilllebens), sondern vielmehr durch die Entwicklung einer gänzlich neuen Produktionsweise von Kunst, die mitunter einen neuen Kunstbegriff gleich mitproduzierte. Als Beispiele hierfür können etwa Georges Braques und Pablo Picassos Collagen, Marcel Duchamps Readymades oder, in der Nachkriegszeit, Warhols Siebdrucke dienen. In allen diesen Fällen wird der ‚Formationsakt‘ zum eigentlichen ‚Inhalt‘ der Werke. So verdankt sich die Collage der bildontologisch folgenreichen Entscheidung, die Bildfläche nicht nur als Erscheinungsort von Dingen zu begreifen, sondern zugleich als einen materiellen Grund, auf den man etwas kleben kann. Das Readymade wiederum steht für den die Geschichte der Skulptur teilenden und die neue Gattung der Objektkunst mitbegründenden Akt, einen nur minimal modifizierten Alltagsgegenstand zum Kunstwerk zu erklären. Warhols Siebdrucke schließlich bestimmen das Bild als reproduktiv-serielle Inszenierung bereits vorhandener Bilder neu; die Ähnlichkeit zwischen Bild und Gezeigtem beruht hier nicht länger auf der mimetischen Darstellung, so wie es für die traditionelle Kunst gilt, sondern auf der Berührung von Vorbild und Abbild im Augenblick des Druckens.

Die Werkkomplexe Frank Stellas und Claes Oldenburgs, die ich zur genaueren Analyse der Materie/Form-Dynamik herausgreife, entstammen demselben künstlerischen Mikroklima der Stadt New York in den späten 1950er Jahren. Stella und Oldenburg reagierten beide auf die Malerei des Abstrakten Expressionismus, der sich damals auf dem Höhepunkt seiner Durchsetzung befand, und versuchten über ihn hinauszugehen, indem sie eine alternative künstlerische Praxis entwickelten. Allerdings waren ihre Wege dahin so divergent, dass deren Analyse es erlaubt, zwei ganz unterschiedliche Ausprägungen der Materie/Form-Dynamik zu skizzieren.

Frank Stella war eine zentrale Figur im Übergang vom Abstrakten Expressionismus zur Minimal Art, deren regularisierte, geometrische Formensprache in unserem Zusammenhang zunächst kaum einschlägig erscheint. Stella gelang der künstlerische Durchbruch mit den Black Paintings aus den Jahren 1958/59. Nach Stella zielen sie darauf, eine bestimmte Bildidee in der Bildform unmittelbar anschaulich werden zu lassen: „Alles“, so Stella in einem Interview, „was man aus meinen Bildern herausbekommen soll […], ist die Tatsache, dass man die ganze Idee ohne jede Verwirrung sehen kann. … Was man sieht, ist, was man sieht. [‚What you see is what you see. ‚]“

‚Was man sieht‘, so lässt sich Stellas Aussage paraphrasieren, ist eine bestimmte Idee der Bildproduktion. Worin liegt sie? Wie die Atelieraufnahme zeigt, fertigte Stella die Black Paintings, indem er gleichförmige Streifen dichter, unmodulierter schwarzer Farbe mit einem Anstreicherpinsel von entsprechender Breite auftrug und zwischen den Streifen die helle, ungrundierte Leinwand stehen ließ. Er begann außen und malte einen Streifen nach dem anderen, bis die Leinwand vollständig bedeckt war. Die Streifen sind Teile eines Musters und zugleich „Pinselwege auf Leinwand“, wie es Stellas Künstlerkollege Carl Andre formulierte. Den Malakt unterteilte Stella in zwei distinkte Schritte. Er entwarf zunächst einen Bildplan, den er nachfolgend geradlinig und unter Verzicht auf jede bravura, „mit der Technik und dem Werkzeug der Anstreicher“, ausführte. Die Zweiteilung begründete er wie folgt: „Es gibt in der Malerei zwei Probleme. Das eine ist, herauszufinden, was Malerei ist, und das andere ist, wie man ein Bild macht. Das erste ist, etwas zu lernen, das zweite ist, etwas zu machen.“ Stellas Aufspaltung des Malprozesses in einen kognitiven und einen handwerklichen Akt richtete sich gegen eine synthetisch begriffene Malweise, die aufgrund des schon Gemalten fortlaufend entscheidet, wie es weitergehen soll – eine Malweise, wie sie etwa Paul Cézanne perfektionierte. Mit jedem neuen Pinselstrich tarierte Cézanne das Bildgefüge neu aus, um ihm jene schwebende ‚Harmonie‘ zu verleihen, auf die er zielte. Allmählich entstand daraus die ‚Modellierung‘ des Naturraums im Bild, die, wie Cézanne sich ausdrückte, aus der ‚Modulierung‘ der Farbe hervorging. Stella hingegen modifizierte den vorab skizzierten und mit Bleistift auf die Leinwand übertragenen Bildplan während des Malens nicht mehr. Die additiv nebeneinandergesetzten Streifen treiben dem Bild Illusionismus und Plastizität aus, indem sie einen möglichen Tiefenraum gleichsam ausstreichen. Den flächigen Effekt verstärkte Stella durch die Behandlung des ungerahmt belassenen Bildkörpers. Er verwendete dicke, sechs Zentimeter tiefe Keilrahmen, führte aber nur die Leinwand, nicht jedoch die Streifen um die Kanten herum. Somit liegt das Bildmuster augenfällig nur auf der Vorderseite des voluminösen Bildkörpers und erscheint damit, wie Donald Judd bemerkte, wie eine von der Wand abgehobene „Scheibe“. Überdies verband sich die von Stella gewählte Emailfarbe nicht mit der Leinwand, so wie es bei flüssigerer, einsickernder Farbe der Fall gewesen wäre. Vielmehr scheint sie gleichsam vor der Leinwand zu liegen, wodurch sie ihren eigenen (nicht illusionistischen, sondern tatsächlichen) Raum einnimmt. Die Farbe verliert jene Immaterialität, die sie in der älteren Kunst und noch bei Cézanne besitzt und ihr dort erlaubt, für alle Stofflichkeiten, sei es ein Stein, ein Baum oder der Himmel, einstehen zu können. Genau gegenteilig ‚exemplifizieren‘ die Black Paintings die Eigenschaften der Farbe selbst: den matten Glanz, die Dichte oder das Unbunte.

„Ich wollte nicht mit dem Pinsel zeichnen“, so Stella im bereits zitierten Interview. „Ich wollte die Farbe aus der Dose und auf die Leinwand bekommen. Ich kannte einen Angeber, der häufig über meine Bilder spottete, aber auch die Abstrakten Expressionisten nicht leiden konnte. Er sagte, sie wären gute Maler, wenn sie die Farbe nur so gut lassen könnten wie sie in der Dose war. Und genau das versuchte ich zu tun.“

Die ‚physischen Mittel‘ der Malerei vergegenwärtigen die Black Paintings folglich durch zweierlei Maßnahmen: einerseits durch die herausgestellten Materialien der rohen Leinwand und der unverändert belassenen Lackfarbe, andererseits durch eine Malweise, die ein Muster erzeugt, das als ‚Pinselweg‘ zugleich die Spur seiner Herstellung ist.

Obschon Stella deutlich zwischen der ‚Idee‘ und dem ‚Machen‘ eines Bildes unterschied, läuft beides letztlich wieder zusammen: die ‚Idee‘ ist eine ‚Praxis‘, deren Sinn nicht auf einer transzendenten, das Bild übersteigenden Ebene liegt, sondern in der Immanenz des what you see is what you see. Stellas Streifen führen, wie Carl Andre bemerkte, nicht ins Symbolische, sondern „nur in die Malerei“.

Unter den Bedingungen des modernistisch verflachten Bildraums zielte Stellas ‚Praxis‘ auf die Erneuerung dessen, was er ihren „working space“ nannte. Nach Stella besteht das Ziel der Kunst darin, Raum zu schaffen – einen Raum, in dem nicht nur die Dinge, sondern vor allem die Kunst selbst sich entfalten kann. Da Stella den Bildillusionismus der älteren Kunst weder wiederherstellen konnte noch wollte, etablierte er den ‚working space‘ nicht wie die klassisch-illusionistische Malerei hinter der Bildoberfläche, sondern auf ihr: im malenden Durchmessen ihres Gevierts sowie im minimalen Raum zwischen der Leinwandfläche und der Farbdicke.

Die Form dynamisiert sich in den Black Paintings folglich auf zweifache Weise. Zum einen geschieht es durch die Materie/Form-Spannung, die sich zwischen ‚exemplifizierter‘ Dosenfarbe und der Generierung eines abstrakten Musters aufbaut. Sie dynamisiert sich aber auch im Muster selbst. Denn dieses liquidiert das hierarchische Verhältnis von Teil und Ganzem, das für die gesamte Tradition des neuzeitlichen Tafelbildes und selbst noch für Cézanne bestimmend war. Stellas Black Paintings sind rekursive Systeme, in denen die Wiederholung der Elemente die Struktur generiert – wobei es gleichgültig ist, ob man von der Bildfläche ausgeht, welche die Form der Streifen definiert, oder von den Streifen, aus denen sich die Fläche zusammensetzt. Im Bildmuster gehen ‚stasis‘ und ‚dynamis‘ in einer Weise ineinander auf, die für die Minimal Art kennzeichnend werden sollte.

Zur selben Zeit wie Stella seine Black Paintings und ebenfalls in New York entwickelte Claes Oldenburg die Werkgruppe der Ray Guns, die sich formal und konzeptuell kaum stärker von Stellas Gemälden unterscheiden könnten. Stellas regularisierter Bildidee steht ein Werkkomplex gegenüber, dessen Konzept sowie dessen einzelne Objekte Form und Formlosigkeit, Formation und Deformation ineinanderfließen lassen. Den Namen erhielten die Ray Guns, deren Sammlung und Katalogisierung Oldenburg ab 1959 betrieb, von den Laserpistolen, mit denen die Science-Fiction-Helden in den US-amerikanischen Comics seit den 1930er Jahren und später in den entsprechenden Filmen hantierten. Seine Ray Guns sind allerdings keine Hightech-Waffen, sondern lediglich mehr oder minder amorphe Klumpen, die Oldenburg irgendwo auflas, von Dritten erhielt, zuweilen modifizierte (beispielsweise durch Bemalen) oder in seltenen Fällen selbst herstellte. Um in die Sammlung aufgenommen zu werden, mussten sie lediglich das Kriterium erfüllen, dass zwei ungefähr im rechten Winkel zueinander stehende Schenkel zu erahnen waren. Selbst der Dingcharakter war keine zwingende Voraussetzung: Parallel zur Sammlung der gefundenen Objekte legte Oldenburg ab 1976 eine Fotodokumentation an, die solche Ray Guns aufnahm, die für den Transport zu fragil waren oder gar nicht bewegt werden konnten, da es sich um Pfützen, Abdrücke im Asphalt oder Ähnliches handelte. Während in die Sammlung bzw. die Fotodokumentation ausschließlich zweischenklige Objekte aufgenommen wurden, entwarf Oldenburg zugleich eine massive Erweiterung des Objektbereichs, die er in einer Zeichnung von 1979 festhielt. Die Erweiterung erfolgte zunächst dadurch, dass auch Dinge, die nur vorübergehend einen rechten Winkel aufweisen (beispielsweise ein gebeugter Arm), als Ray Gun bestimmt wurden. Darüber hinaus addierte Oldenburg die Grundform von doppelten über vierfache bis zu beliebig komplexen Ray Guns. Angewinkelte Beine, die Ziffer Sieben, Pistolen, gebeugte Arme oder ein Phallus bestimmte er als Simple Ray Gun, als Double Ray Guns hingegen Ventilatoren, Rasensprenger, Hydranten oder Flugzeuge (letzteres als doppelte Verdoppelung). Als Complex and Absurd Ray Guns schließlich nahm er Staubsauger, Handmixer, Außenbordmotoren, Stühle und Betten auf, in welchen die Winkelform mehrfach gespiegelt, gedreht oder auf den Kopf gestellt erschien. Oldenburg schlug sogar vor, seinen Wohnort New York (mit seinen im rechten Winkel aufragenden Wolkenkratzern) in Ray Gun umzubenennen. Damit erweist sich das Ray-Gun-Prinzip als so zentrifugal, dass es auf die gesamte Welt ausgreift. Die Ordnung der Ray Guns schlägt in eine Anti-Ordnung um, die jegliche Unterscheidung, beispielsweise nach hoch/niedrig, belebt/unbelebt, Natur/Kultur oder Fragment/Ganzheit unterläuft. Über die Teilhabe an der (Nicht-)Kategorie Ray Gun verwandelt sich potenziell alles in alles: ein Arm in eine Zigarettenkippe, in eine Pistole, in einen Stuhl, in ein Flugzeug, … in New York. Die Verwandlung ineinander vollzieht sich dabei als spezifische räumliche Operation: als Verkleinerung (New Yorks), Vergrößerung (der Zigarettenkippe), Drehung (des Stuhls) oder Abspreizen (des Arms).

Die Metamorphose, welche die Ray Guns entfalten, bildete für Oldenburg zugleich das eigentliche Prinzip der Kunst. Das Herstellen von Vergleichen, die der logischen Begründung entbehrten, bilde eine Art von Poesie, die keinerlei Sinn habe – außer in der Kunst. Die Bestimmung der Kunst als ‚Herstellen von Vergleichen‘ begreift den Akt der ‚Formation‘ als Schwebezustand zwischen Machen und Finden. Ob die Qualität, Ray Gun zu sein, in den Dingen oder vielmehr in Oldenburgs Zuschreibung liegt, bleibt unentscheidbar. Im Augenblick der Verwandlung in ein Ray Gun berühren sich Objekt und Subjekt, Welt und Wahrnehmung. Ein Aspektwechsel findet statt, bei dem sich etwas in ein anderes verwandelt – bei gleichbleibendem physikalischem Objekt. Es handelt sich um einen paradoxen Vorgang, bei dem sich die neue und die unveränderte Wahrnehmung des Objektes überlagern. Wie schon bei Clyfford Stills ungegenständlicher Malerei zeigt sich die Formdynamik als Dynamik eines Aspektwechsels. Während er bei Still darüber entscheidet, welcher ‚Inhalt‘ in der ‚Form‘ aufscheint, betrifft er hier die Frage, ob die ‚Materie‘ überhaupt ‚Form‘ und das Ding den Status eines Artefakts besitzt.

Den ereignishaften Augenblick, in dem etwas in ein anderes umschlägt, bestimmte Oldenburg als einen Augenblick „erhöhter Sensibilität“. Diese Sensibilität werde, so hoffte er, den Begriff der Kunst zerstören und den Objekten ihre Kraft zurückgeben. Die Magie, die dem Universum innewohne, würde wiederhergestellt sein und die Menschen in sympathetischem religiösem Austausch mit den sie umgebenden Dingen stehen. „Sie [die Menschen, ML] werden sich nicht mehr von ihnen geschieden fühlen, und das Schisma zwischen beseelt und unbeseelt wird aufgehoben sein.“ Negativ zielte Oldenburgs ‚totale Analogisierung‘ also darauf, die Ordnung der Dinge kollabieren zu lassen, positiv aber darauf, eine neuartige Einheit zwischen den Dingen sowie zwischen Mensch und Ding zu stiften. Obschon sich in Oldenburgs Unternehmung die Entformung der Form und die Formwerdung des Unförmigen wechselseitig voraussetzten, zeigen Oldenburgs Worte, dass er nicht dem Pol absoluter Unförmigkeit zustrebte, sondern vielmehr die Vision einer Form entwickelte, die eine universale Teilhabe zu stiften vermag. Alles, was das minimale Formprinzip des ‚universalen rechten Winkels‘ auch nur annähernd aufwies, wurde aufgenommen, und alle diejenigen treten in ‚sympathetischen Austausch‘ mit diesen Objekten, die darin jene basale Formqualität zu entdecken wissen. Indem die Dinge Ray Gun werden, gewinnen sie Form, und indem sie Form gewinnen, werden sie Ray Gun – ein Umschlag, der den Künstler wie auch den Betrachter einschließt, da sie es sind, die ihn vollziehen.

Damit ist auch der Abstand zu Georges Batailles (Anti-)Begriff des ‚informe‘ markiert, mit dem die Ray Guns in Zusammenhang gebracht worden sind. Oldenburgs Ray Gun ist Batailles ‚informe‘-Begriff darin nahe, eine Kategorie zu entwerfen, die eine ordnungs- und klassifikationszersetzende Kraft freisetzen sollte. Sowohl Bataille als auch Oldenburg setzten dabei auf die Subversion der Differenz- und Bestimmungsqualitäten der Form. Entsprechend suchte Bataille nach einem Begriff, der, wie er es formulierte, „zur Deklassierung des allgemeinen Anspruchs dient […], dass jedes Ding seine Form habe“. Der entscheidende Unterschied liegt nun aber im Resultat der formzersetzenden Aktivität. Während Bataille die Behauptung aufstellte, „dass das Universum nichts gleicht und reine Formlosigkeit ist“, versuchte Oldenburgs Ray-Gun-Projekt aufzuweisen, dass alles allem gleicht – und zwar aufgrund der Ähnlichkeit in der Form. Holzschnittartig formuliert, steht Batailles Kampfbegriff des ‚informe‘ im Zeichen des Zerreißens und des Todes, Oldenburgs animistischer Universalismus hingegen im Zeichen des Zusammenführens und des Lebens: „Der Slogan von RAYGUN ist ‚vernichte-erleuchte‘ [‚annihilate-illuminate‘]. RAYGUN ist zugleich destruktiv und kreativ.“

Mit dem poetisch-metamorphotischen Verfahren der Ray Guns vollzog Oldenburg eine radikale Neubestimmung künstlerischer ‚Formation‘. Was er in erster Linie zu finden hatte, war eine Form, welche die Transformationsdynamik der Objekte in Gang setzte – mit anderen Worten: eine Form, die den Aspektwechsel ermöglichte, ja mehr noch, ihn produzierte. Oldenburgs Lösung bestand darin, den Akt der ‚Formation‘, mit Ausnahme der wenigen selbst hergestellten oder modifizierten Ray Guns, von der Objektgestaltung abzuziehen und auf die Aktivität des Sammelns und Archivierens zu verlagern. Indem er sich hauptsächlich um Vitrinen und Kästen, Fotodokumentationen und Registernummern kümmerte, überließ er die Objekte der Eigendynamik ihres Schillerns zwischen ‚Gemachtem‘ und ‚Gefundenem‘, formloser Materie und Artefakt. Schillernd war somit auch Oldenburgs eigene Tätigkeit. Denn einerseits schien es, als wolle er in die Genese der Ray Guns, also in jenen Umschlag in ein qualifiziertes Objekt, nicht eingreifen, sondern ihn lediglich geschehen lassen. Doch andererseits waren es nicht einfach die intrinsischen Qualitäten der Objekte, die zum Umschlag führten. Vielmehr geschah dies häufig erst aufgrund von Oldenburgs Zusammenstellung. Erst im Vergleich untereinander, den die Gruppenpräsentation provoziert, wird an manchem Klumpen jener halbwegs rechte Winkel erkennbar, der ihn als Ray Gun qualifiziert. Dem Schillern der Objekte zwischen Formlosigkeit und Form entspricht somit das Schillern von Oldenburgs Tun, das die Ray Guns zugleich fand und machte.

Form hervorzubringen, so Oldenburg, sei der einzige menschliche Akt, der überhaupt Konsequenzen habe. Dieser Akt, der mit der Kunst gleichzusetzen sei, könne viele Gestalten annehmen – auch solche, die bislang noch nicht durch den Namen der Kunst geehrt worden seien. Wie Oldenburgs Rede von den noch nicht legitimierten künstlerischen Formen verdeutlicht, wird Kunst zu einem fortlaufenden Ausloten der Möglichkeitsbedingungen künstlerischer Form. Dies aber gilt nicht nur für Oldenburg, sondern für alle hier diskutierten Beispiele. Es ist das Prinzip der modernen Kunst.

Einleitung
Kapitel I: Form/Inhalt: Die Dynamisierung der Kunst als Kommunikat
Punkt Kapitel II: Materie/Form: Die Dynamisierung des Kunstwerks als Artefakt
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Zwei Aspekte der Formdynamisierung als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 2.193 KB)