Zeichnung Autonomie 19. Jahrhundert Künstler Moderne

Universalität und Geschichtlichkeit des Zeichnens als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 172 KB)

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Universalität und Geschichtlichkeit des Zeichnens – am Beispiel von Egon Schieles Weiblichem Akt mit angezogenem linkem Knie

in: Linea. Vom Umriss zur Aktion. Die Kunst der Linie zwischen Antike und Gegenwart, Ausstellungskatalog Kunsthaus Zug, Ostfildern 2010, S. 154-165.

Kapitel III: Autonomie

Wechseln wir zu den Werken, die die Ausstellung aus dem späteren 19. und dem frühen 20. Jahrhundert präsentiert, erweisen sich entscheidende Parameter des Zeichnens als grundlegend verändert. Wenn bereits an früherer Stelle vom Prozess der „Autonomisierung“ die Rede war, in dem sich die unterschiedlichen Transformationen der Kunst seit dem 19. Jahrhundert bündeln lassen, so ist diesbezüglich an erster Stelle die Auftrennung jenes Ineinander von „freier“ und Gebrauchskunst zu nennen, das die Zeichenpraxis des „disegno“ prägte. Diese Auftrennung erfolgte im Zug der generellen materiellen und geistigen Umwälzungen am Beginn der Moderne. Zum einen schwanden die Patronats- und Auftragsverhältnisse, die bislang einem großen Teil der Künstler, die besten und berühmtesten eingeschlossen, neben ihren künstlerischen Aufgaben auch praktische Pflichten übertrugen, beispielsweise als Illustrator, Innendekorateur, Zeremonienmeister oder Architekt. Der Doppelstatus der Künstler hatte sich gerade auch in einer Zeichenpraxis manifestiert, die die klare Trennung von „freier“ und Gebrauchszeichnung nicht kannte. Dieses ästhetisch-praktische Kontinuum der vormodernen Kunst zerbrach im 19. Jahrhundert in seine beiden Hälften. Der Künstler war jetzt nur noch autonom, ohne flankierende soziale oder funktionale Absicherung in Patronatsverhältnissen, seine Praxis verkürzte sich zunehmend auf die eine, die ästhetische Seite seines Tuns. Parallel dazu verloren aber auch die Bezugsgrößen, die das „disegno“-Konzept trugen, ihre Normativität, insbesondere das Prinzip der Kunst als Nachahmung der Natur („mimesis“) sowie die Ordnung der Kunstgattungen und Darstellungsverfahren, in welch letzterer das Zeichnen häufig am Anfang eines mehrstufigen Prozesses gestanden hatte, der, über verschiedene Zwischenschritte, zum finalen Werk führte. Dagegen entwickelten sich im 19. Jahrhundert malerische Praktiken, die, wie etwa jene des Impressionismus, das Vorzeichnen ablehnten, um das Motiv direkt in Farbe auf der Leinwand einzufangen. Solches hatte zur Folge, dass sich die Zeichnung jenseits ihrer überlieferten Funktionen im Zusammenhang reglementierter Atelierpraxis neu „erfinden“ musste.

Die gänzlich veränderten metaphysischen, sozialen und arbeitspragmatischen Rahmenbedingungen der Moderne erzwangen eine Neuausrichtung der künstlerischen Praxis. Von ihren angestammten Aufgaben und Arbeitsabläufen entbunden und zugleich der bisherigen Legitimationsrhetorik des künstlerischen Tuns beraubt, gingen die Künstler erneut, aber anders, auf den „Grund“ ihrer Tätigkeit zurück, auf der Suche nach einem neuen „Ursprünglichen“ jenseits der alten, außer Kraft gesetzten Vorstellungen davon. Zu den neuen Fundamenten der Kunst wurden nun die individuelle, durch die jeweilige Psyche nicht weniger als durch die Physiologie des Auges geprägte Wahrnehmung sowie die Eigengesetzlichkeit der eingesetzten künstlerischen Medien. Die Suche galt, nolens volens, einer auf nichts außerhalb der Kunst rückführbaren, von anderen menschlichen Tätigkeitsformen abgrenzbaren künstlerischen Produktivität.

Das Losungswort für diese Suche hieß „Autonomie“ – als ein Konzept, in dem die Randständigkeit des Künstlers in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in den besonderen Sinn der Kunst umschlagen sollte. Das Autonomiepostulat zielte zunächst darauf, die Kunst von der Aufgabe zu emanzipieren, gewisse von außen vorgegebene Inhalte zu repräsentieren, die der älteren Kunst ihre „Überbau“-Funktion für Staat oder Kirche verliehen hatten. Ein zweites Autonomiepostulat fiel entschieden radikaler aus. Zunehmend wiesen die Künstler die Verpflichtung zurück, in ihren Bildern überhaupt etwas auszusagen, was sich nicht aus dem Kunstwerk selbst erschloss. Daraus erklärt sich die Tendenz zu „schweigsamen“ Sujets und zu einer „unvollendeten“ oder fragmentarischen Bildform, die auch die Zeichnungen des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts in dieser Ausstellung kennzeichnet. Denn beides unterlief die Möglichkeit, den Sinn des Kunstwerks von diesem abzulösen; beides zielte auf eine neuartige ästhetische Immanenz, die den Sinn des Kunstwerks mit seinem ästhetischen Erscheinen konvergieren ließ. Diese keineswegs selbstverständliche „Ästhetisierung“ der Kunst wirkte sich nicht nur auf die Auffassung der damals zeitgenössischen, sondern auch der älteren Kunst aus. Die Durchlässigkeit zwischen den ästhetischen, praktischen und epistemischen Dimensionen, die die vormodernen Zeichenpraktiken prägt, kann inzwischen kaum mehr nachvollzogen werden.

Kapitel I: Ursprünglichkeit(en) der Zeichnung
Kapitel II: Disegno
Kapitel Kapitel III: Autonomie
Kapitel Kapitel IV: Schieles „Weiblicher Akt mit angezogenem linkem Knie“
Kapitel V: Modernität und Tradition in der Zeichenkunst um 1900
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