Perspektiv-Inversion

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PERSPEKTIVINVERSION

Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation

in: Perspektive und Fiktion, hrsg. von Thomas Hilgers und Gertrud Koch, München 2017, S. 157–177.

Inhalt:

Kapitel I: Perspektivität und Fiktion in der klassischen Repräsentation

Kapitel II: Duchamps Transformationen

Kapitel III: Ästhetische Osmose und Inframince

Kapitel IV: Ein vierfaches Explizitwerden des Sehens

Kapitel V: Auf den Schwellen von Étant donnés

Kapitel VI: Das Bild als Gemälde, als Glas und als Inframince

Duchamp Bild Glas Étant donnés

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PERSPEKTIVINVERSION

Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation

in: Perspektive und Fiktion, hrsg. von Thomas Hilgers und Gertrud Koch, München 2017, S. 157–177.

VI. DAS BILD ALS GEMÄLDE, ALS GLAS UND ALS INFRAMINCE

Um die Sphären des ‚Davor‘ und des ‚Dahinter‘ des Bildes sowie die Sphären des Betrachters und des Kunstwerks in ein osmotisches Austauschverhältnis zu bringen, gab Duchamp um 1913 die Malerei auf und begann die Arbeit am Großen Glas. Während aber das Große Glas trotz allem noch auf einem materiellen Träger basiert – sei dieser auch im Unterschied zu einem Gemälde transparent und sei dieses auch, erneut im Gegensatz zu einem herkömmlichen Bild, inmitten des Raums aufgestellt –, verzichtet Étant donnés nun gänzlich auf ein solches materielles ‚Dazwischen‘. Hier gibt es nur noch ein buchstäbliches Nichts, das die Seiten des ‚Davor‘ und ‚Dahinter‘ trennt: nur noch die Luft in den beiden Löchern der Holztüre. Und während das Große Glas eine antinaturalistische, einem Diagramm angenäherte Abstraktion entwirft, um das Bild von einer herkömmlichen Mimesis und von der Malerei als Sinnenreiz abzulösen, um daraus jenes Andere zu machen, was man mit Leonardo als ‚Discorso mentale‘ bezeichnen kann, schockiert Étant donnés den Betrachter mit dem krassen Naturalismus von Wachsfigurenkabinetten und naturhistorischen Dioramen. Damit maximalisiert Duchamp die Spannung zwischen der Schaustellung tatsächlicher Dinge und der Evokation einer der Wirklichkeit gänzlich entrückten Fiktion. Auf der einen Seite folgt Étant donnés einer Ästhetik des raumzeitlich Aktualen, der Präsenz von Körpern und Materialien sowie der situativen Einbindung des Betrachters. Damit konkurriert jedoch die gegenläufige Strategie, gerade kein Hier und Jetzt zu evozieren, sondern eine räumlich und zeitlich abgeschiedene Welt, einen U-Topos, der sich aus dem Kontext des Museums, in dem er sich befindet, radikal aussondert. Aus diesen beiden heterogenen, ja gegenläufigen Komponenten speist sich jenes ‚Bild‘, das wir beim Blick durch die beiden Löcher sehen und das gänzlich immateriell bleibt, weil es sozusagen im Nichts jener Löcher hängt, in dem sich das Sehen des Betrachters und die Erscheinung des Dioramas kreuzen. Es ist ein ‚Bild‘, das Duchamps Raumkonstruktion zwar hervorbringt, das er aber in einem strengen Sinne nicht geschaffen hat, da es erst in der Erfahrung des Betrachters entsteht: im Zusammenspiel zwischen dem topologischen Dispositiv der Installation mit seiner genau kalkulierten und fixierten Perspektive, in die es den Betrachter zwingt, und der kognitiven Verarbeitung dessen, was sich dem Betrachter unter diesen Bedingungen zeigt. In diesem ‚Bild‘ kippen Realität und Fiktion permanent ineinander um, voneinander geschieden durch eine Inframince-Trennung, einer dünner als dünnen Differenz.

Kapitel I: Perspektivität und Fiktion in der klassischen Repräsentation
Kapitel II: Duchamps Transformationen
Kapitel III: Ästhetische Osmose und Inframince
Kapitel IV: Ein vierfaches Explizitwerden des Sehens
Kapitel V: Auf den Schwellen von Étant donnés
Punkt Duchamp Kapitel VI: Das Bild als Gemälde, als Glas und als Inframince
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Étant donnés Licht Blick Wasserfall

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Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation

in: Perspektive und Fiktion, hrsg. von Thomas Hilgers und Gertrud Koch, München 2017, S. 157–177.

V. AUF DEN SCHWELLEN VON ÉTANT DONNÉS

Inwiefern aber ereignet sich nun jene phantasmatische Überblendung von Realität und Fiktion, die ich als einen wesentlichen Effekt von Étant donnés bezeichnete? Und inwiefern hängt diese Überblendung auch hier mit jener Perspektivinversion zusammen, die ich einleitend an Veroneses Gemälde und an Dürers Holzstich herausarbeitete?

Auf einer ersten Ebene erweist sich die anhand von Veroneses Anbetung der Hirten beschriebene Kreuzung der Sehstrahlen, die ins Bild dringen, mit den Lichtstrahlen, die aus dem Bild heraus den Betrachter treffen, als dasjenige, was hier in buchstäblicher Weise geschieht. Wer durch die Gucklöcher blickt, wird getroffen von einem vielfältigen Leuchten und Glänzen: vom hellen Widerschein der – nicht sichtbaren – Lampen auf der Pergamenthaut der Puppe, vom Schimmern der in die Höhe gehaltenen Gaslampe sowie vom flirrenden Glitzern des Wasserfalls im Landschaftshintergrund. Auch dieses Glitzern ist durch Reproduktionen nicht vermittelbar, insbesondere da es am Rande der eigentümlich stillgestellten, wie aus der Zeit gefallenen Szenerie ein irritierendes zeitliches Moment einführt. Duchamp realisierte den Wasserfall als eine Durchlöcherung des Landschaftshintergrundes, die anschließend mit Klebstoff halbtransparent zugedeckt wurde. Das Glitzern selbst wird hervorgerufen durch eine hinter der Landschaftsdurchlöcherung in einer blechernen Dose eingeschlossene Glühbirne, vor der eine perforierte Metallscheibe langsam rotiert. Auf diese Weise werden in unregelmäßiger Abfolge wandernde Leuchtpunkte rückwärtig auf die Klebstoffkaskade projiziert.

Wie die Aufnahme der – für den Betrachter so nie einsehbaren – Gehäusekonstruktion von Étant donnés zeigt, trägt dieses Gehäuse Züge eines umgekehrten fotografischen Dispositivs. Wenn wir die Arbeit nicht vom Betrachter, sondern vom Raum des Dioramas her denken, dann ähnelt die Art und Weise, wie das im Diorama leuchtende Licht durch die Türlöcher in den halbdunklen Vorraum fällt, der Funktionsweise einer Camera obscura, wobei sich das vom Diorama her durch die Türöffnungen dringende Licht nicht wie bei einer Camera obscura auf der gegenüberliegenden Wand niederschlägt, sondern auf dem Gesicht des vor der Holztüre stehenden Betrachters. Wie um diese (prä)fotografischen Assonanzen zu bestätigen, befindet sich zwischen der durchbrochenen Backsteinmauer und der Holztüre eine dunkel verhangene Passage, die an den Balg historischer Kameras erinnert als jene Passage, die das Licht durchqueren muss, wenn es von der Objektlinse zur fotografischen Platte gelangen will.

Das Moment der zu durchmessenden Passage, der überschrittenen Schwelle und des sich öffnenden Intervalls findet sich aber nicht nur in diesem mit schwarzem Samt verhangenen Zwischenraum, sondern es handelt sich dabei um ein grundlegendes und durchgehendes Strukturelement der Installation. Das Sehen wird in Étant donnés als mehrfaches Überschreiten von Grenzen, als eine Hintereinanderstaffelung von Durchlöcherungen und Durchquerungen inszeniert. So führt die erste Passage vom riesigen und hellen Museumsraum, in dem das Große Glas steht, in den niedrigen, zwielichtigen und leeren Raum vor der Holztüre, die zweite Passage ereignet sich beim Blick durch die Gucklöcher, die dritte verläuft durch die verhangene Dunkelkammer, bei der vierten durchqueren wir die Backsteinmauer, die fünfte Passage ist die Vulva der liegenden Frau als Öffnung ins Innere ihres Körpers, die sechste schließlich ist der Wasserfall, der aus einer Höhle in der Hangkante des Landschaftshintergrundes hervorquillt.

Bei dieser letzten und hintersten Passage, dem hervorquellenden Wasserfall, erfolgt nun aber eine entscheidende Richtungsumkehr. Denn das Wasser bricht von hinten, von einem unsichtbaren Jenseits des Dioramas, durch die Landschaft hindurch und ergießt sich zu uns hin in einen See; und das Glitzern des Wasserfalls dringt in umgekehrter Richtung zum Betrachterblick durch all jene Intervalle, die dieser Betrachterblick soeben durchmaß: durch die Backsteinmauer, die verhangene Zwischenzone und die Löcher in der Holztüre, bis er auf das Auge des Betrachters trifft – eines Betrachters, der schließlich selbst umkehren und die Sackgasse des leeren Raums auf jenem Weg, den er gekommen ist, wieder verlassen wird. Die verschiedenen Öffnungen und Durchgänge sind strukturell homolog, indem es sich jeweils um Passagen in beiderlei Richtungen handelt und sie sich sämtlich als Orte eines osmotischen Austauschs erweisen. Zugleich verbinden sie sich aufgrund formaler Ähnlichkeiten, die bei der Öffnung in der Backsteinmauer, der Vulva der Frau und dem Wasserfall besonders auffällig sind. Genauso bedeutsam ist die strukturelle und zugleich atmosphärische Ähnlichkeit zwischen dem Eintritt in den halbdunklen Vorraum von Étant donnésund dem Blick in das dunkle Intervall zwischen der Holztüre und der Backsteinmauer. Im Zuge dieser hintereinandergestaffelten Transgressionen gleiten wir allmählich von der Seite der Realität auf die Seite der Fiktion hinüber, ohne allerdings angeben zu können, wo genau die Grenze zwischen beidem verläuft. Es ist ebenso plausibel, diese Grenze gleich am Anfang, am Türdurchgang zwischen dem hellen Raum des Großen Glasesund dem Halbdunkel des Vorraums von Étant donnés, zu situieren, wie sie in jener Backsteinmauer zu erkennen, hinter der sich der Ausblick auf die Landschaft und die nackte Frau öffnet, oder aber sie ganz am räumlichen Ende der Installation zu verorten, im Wasserfall, dessen optisch-mechanisch illudiertes Glitzern inmitten der stillgestellten Zeit zum vielleicht irrealsten Moment des gesamten Dioramas wird.

Kapitel I: Perspektivität und Fiktion in der klassischen Repräsentation
Kapitel II: Duchamps Transformationen
Kapitel III: Ästhetische Osmose und Inframince
Kapitel IV: Ein vierfaches Explizitwerden des Sehens
Punkt Duchamp Kapitel V: Auf den Schwellen von Étant donnés
Duchamp Kapitel VI: Das Bild als Gemälde, als Glas und als Inframince
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Duchamp Passage Schwelle Étant donnés

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Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation

in: Perspektive und Fiktion, hrsg. von Thomas Hilgers und Gertrud Koch, München 2017, S. 157–177.

IV. EIN VIERFACHES EXPLIZITWERDEN DES SEHENS

Étant donnésscheint mir die werkgewordene Materialisierung des soeben umrissenen Denkfeldes von inframince und ästhetischer Osmose zu sein. Es ist die Realisierung eines Artefaktes als Schwelle, Passage und Intervall, das die beiden Seiten – den Betrachter und das Gesehene – ebenso separiert wie sich berühren lässt, wobei im Zusammenspiel beider Seiten ein ungreifbares, ultradünnes ‚Bild‘ entsteht.

Im Grunde wiederholt die Anlage von Étant donnés diejenige von Dürers Perspektivgrafik – allerdings mit einigen signifikanten Abweichungen. Der Betrachter nimmt die Stelle des Zeichners ein, und die durch den trennenden Schirm hindurch gesehene Welt ist nicht die Wirklichkeit, sondern ein aufwendig gestaltetes Artefakt. Des Weiteren wird Dürers Szenario in eine Ästhetik überführt, die durch den Illusionismus der Wachsfigurenkabinette ebenso hindurchging wie durch die Erfahrung der Fotografie; und insbesondere auf Letzteres, den Fotografiebezug, wird noch genauer einzugehen sein.

Wenn ich mich nun der konkreten Realisierung von Étantdonnés zuwende, muss allerdings einschränkend betont werden, dass dieses Werk sich der Reproduzierbarkeit fast vollständig entzieht. Die Erfahrungen, die in der Begegnung mit diesem Artefakt zu machen sind, lassen sich in keiner Weise an Abbildungen, sondern nur an Ort und Stelle machen. Dies gilt ganz besonders für den hier herauszuarbeitenden Effekt, Wirklichkeit und Fiktion in phantasmatischer Weise zu überblenden und sie dabei in ein Verhältnis der „Inframince-Separation“zu bringen. Um mein Argument dennoch zu plausibilisieren, behelfe ich mir mit einem durchaus problematischen Mittel: Ich greife auf Fotografien zurück, die Ansichten von Étantdonnés zeigen, die dem Museumsbesucher verborgen sind; teilweise handelt es sich um Fotografien, die Duchamp selbst anfertigte, die er aber nicht zur Veröffentlichung bestimmte, sondern für einen detaillierten Leitfaden anfertigte, der es ermöglichen sollte, die überaus komplex konstruierte Arbeit nach seinem Tod in seinem New Yorker Atelier abzubauen und im Philadelphia Museum of Art korrekt wieder zu installieren.

Spätestens 1954 wählte Duchamp den zukünftigen Museumsraum für seine Installation aus. Es ist der letzte im langen nördlichen Seitenflügel des Philadelphia Museum of Art, und man gelangt in den kleinen, halbdunklen Raum von der hellen und hohen Halle aus, in welcher Duchamps Großes Glas installiert ist. Beim Einbau von Étantdonnés in der ersten Jahreshälfte 1969 wurde der Raum durch eine grob verputzte Mauer in zwei gleich große Teilräume unterteilt, wobei diese Mauer im Zusammenspiel mit der verwitterten, von einem Backsteinrahmen gefassten Holztüre dem Betrachter suggeriert, er stünde auf einmal nicht mehr im Inneren des Museums, sondern vor einer Außenwand. Die vordere Raumhälfte, die der Betrachter betritt, ist vollständig leer, lediglich ein Sisalteppich bedeckt den gesamten Boden. In der hinteren Raumhälfte hingegen, die von der eingezogenen Mauer vollständig abgeschlossen wird, ist ein hell beleuchtetes Diorama aufgebaut, in dem hinter einer durchbrochenen Backsteinmauer eine nackte Frau in einem Landschaftszusammenhang liegt und von dem der Betrachter nur genau den Ausschnitt zu sehen bekommt, den zwei auf Augenhöhe vorhandene Löcher in der Holztüre gewähren. Während der leere vordere Raum von Étant donnés kein eigenes Licht aufweist und daher in eigentümlichem Zwielicht liegt, ist das Diorama von unterschiedlichen Lampen sorgfältig ausgeleuchtet wie von hellem, aber sanftem Sonnenlicht. Diese Helligkeit dringt durch die beiden Türlöcher wie ein Versprechen, das man vernimmt, sobald man sich der Tür nähert.

Die Installation erweist sich als eine Art Gehäuse, in welchem der Augenblick des Sehens als ein expliziter Akt erfahrbar wird. Genau genommen wird der Akt des Sehens in mindestens vierfacher Hinsicht explizit. Auffällig wird erstens dessen Körpergebundenheit, da man sich an eine ganz bestimmte Stelle bewegen und sich genau positionieren muss, um überhaupt etwas sehen zu können. Zweitens zeigt er sich in seiner optischen Dimension, weil die Topologie von Étantdonnés das Sehen als perspektivisch gerichtetes Sehen, aber auch als ein Konnex von Sehen und Licht inszeniert. Die dritte Dimension ist die kognitive – und bedarf einer etwas ausführlicheren Explikation: Die kleinen Gucklöcher gestatten aufgrund der eingeschränkten und festgezurrten Perspektive keine befriedigende Übersicht über das dargebotene Sehfeld. Oder mit dem zu Beginn eingeführten Begriff der perspicuitas formuliert: Indem die ‚Durchsicht‘ durch die Türlöcher auf die dahinter befindliche Szenerie dergestalt eingeschränkt und fixiert ist, unterläuft sie die perspicuitas im Sinne der ‚Deutlichkeit‘ und der ‚Durchdringung‘ des Wahrgenommenen. Was wir sehen – oder zu sehen meinen –, zeigt sich als irreduzibles Zusammenspiel von Wahrnehmung und konstruierender Vorstellung. Die kognitive Dimension des Sehens wird zudem in einer ganz basalen Art und Weise explizit: Da jedes Auge nur einzeln durch das jeweilige Türloch schauen kann, ist der einzige Modus, das Diorama zu erblicken, derjenige zweier distinkter Einzelbilder. Wir können nun – und das gehört zu den überraschendsten Erfahrungen von Étantdonnés – sozusagen unserem Hirn zusehen, wie es diese beiden Bilder zu einem plastisch-dreidimensionalen Bild synthetisiert. Doch da die Gucklöcher jede seitliche Verschiebung unserer Blickperspektive verhindern, werden wir trotz dieser Synthese zweier leicht voneinander unterschiedener Einzelbilder der tatsächlichen Tiefe des Dioramas nie wirklich habhaft; beispielsweise lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, in welchem Abstand die Gaslampe und der Landschaftshintergrund sich befinden oder in welcher Relation die durchbrochene Backsteinmauer zum Reisigfeld steht, in welchem die Frau liegt. Obschon wir in einen tatsächlich gebauten Raum blicken, ähnelt der Blick durch die Türlocher dem Blick in ein Stereoskop, also in einen jener kleinen Apparate, die durch zwei in ihrer Aufnahmeperspektive des Gegenstands geringfügig abweichende Fotografien den Eindruck einer Tiefe erzeugen, die physikalisch nicht vorhanden ist. Während jedoch ein Stereoskop anhand zweier Bilder eine physikalisch nicht vorhandene Tiefe vortäuscht, erzeugt Étantdonnésanhand zweier Blickperspektiven in einen tatsächlichen Raum einen Seheindruck, in welchem das Sichtbare unentscheidbar zwischen realer und bloß illudierter Tiefe schillert. Gerade diese phantasmatische (Un)Tiefe des Sehfeldes, die das Gesehene zwischen zweidimensionalem Bild und dreidimensionalem Raum oszillieren lässt, prägt die Erfahrung von Étant donnés entscheidend – doch gerade dies lässt sich an Abbildungen nicht einmal ansatzweise nachvollziehen. Duchamp verstärkte diese (Un)Tiefe dadurch weiter, dass der Betrachter dazu neigt, den Landschaftshintergrund als parallel zur Türe und zu der Backsteinmauer verlaufend anzunehmen, obschon er doch tatsächlich schräg verläuft, wie an Duchamps Faltmodell der Installation ablesbar ist. Und schließlich, als erzeugten die drei bislang benannten Aspekte des Sehaktes, die hier explizit werden – die somatisch-performative, die optische und die kognitive –, noch nicht genug an Komplexität, wird das Sehen hier auch in seiner Begehrensdimension thematisch: als ein Sehenwollen, dem ein nicht – oder zumindest nicht ganz – Sehenkönnen antwortet. Denn in irritierender Weise bleiben wesentliche Teile des hinter der Türe und der Backsteinmauer Befindlichen dem Blick entzogen, insbesondere der Kopf der Frau, von dem lediglich ein paar Strähnen ihres blonden Haares zu sehen sind. Dieses begehrende Sehen schlägt überdies von einem einsamen Voyeurismus in Ungemach um, sobald eine weitere Person den Raum betritt, wodurch wir selbst zu Objekten für einen anderen Blick werden, der uns von hinten beobachtet, wie wir durch die Türlöcher starren.

Kapitel I: Perspektivität und Fiktion in der klassischen Repräsentation
Kapitel II: Duchamps Transformationen
Kapitel III: Ästhetische Osmose und Inframince
Punkt Duchamp Kapitel IV: Ein vierfaches Explizitwerden des Sehens
Duchamp Kapitel V: Auf den Schwellen von Étant donnés
Kapitel VI: Das Bild als Gemälde, als Glas und als Inframince
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Duchamp Perspektive Étant donnés Inframince

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Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation

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III. ÄSTHETISCHE OSMOSE UND INFRAMINCE

Eine topologische Inszenierung des mediumistischen ‚Dazwischen‘ des Bildes ist aber auch – wenn auch ganz anders realisiert – die installationsartige Arbeit Étant donnés. Es ist jene Arbeit Duchamps, die er über die letzten zwanzig Jahre seines Lebens konzipierte und realisierte, als künstlerisches Vermächtnis, das erst posthum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden durfte, und zugleich als Summa seiner lebenslangen Reflexion über den Status des Kunstwerks, über die dynamischen Prozesse zwischen Betrachter und Kunstwerk sowie über die Eigenart des Sehens.

Bevor ich mich dieser Arbeit als solcher zuwende, seien hinführend zwei Konzepte genannt, die für Duchamps Auffassung vom Kunstwerk wichtig sind. Im vielleicht programmatischsten Text, den Duchamp verfasste – dem Vortrag „Der kreative Akt“, den er 1957, inmitten der Arbeit an Étant donnés, hielt –, spricht er von einer „ästhetischen Osmose“, die sich zwischen Künstler und Betrachter durch das Medium des Kunstwerks hindurch ereigne. Im Zuge dieser Osmose erfahre der Betrachter eine Verwandlung von inerter Materie in ein Kunstwerk. Duchamp benutzt für diese Verwandlung den alchemistischen Begriff der „Transmutation“ sowie, parallel dazu, den christologischen Begriff der „Transsubstantiation“. Wie Duchamps Ausführungen verdeutlichen, verwandelt sich in der Kunsterfahrung qua ästhetischer Osmose beides, sowohl das materielle Ding, das vor Augen liegt, als auch der Betrachter. Die inerte, passive Materie aktiviert sich zum Kunstwerk, das als solches auf den Betrachter zurückwirkt und auch diesen verwandelt.

Ein weiterer Begriff Duchamps erlaubt es, seine Auffassung der Medialität des Kunstwerks als jenes ‚Zwischen‘, das den Betrachter und das Sichtbarwerdende zugleich trennt und verbindet, genauer zu erfassen. Es ist der seit der Mitte der 1930er-Jahre entwickelte Begriff des inframince – ein unübersetzbarer Begriff, einzudeutschen etwa als das ‚Ultradünne‘ oder das ‚Dünner als Dünne‘; wörtlich meint er das ‚Unterhalb des Dünnen‘. In den zahlreichen Notaten zu diesem Begriff, die erst posthum veröffentlicht wurden, definiert ihn Duchamp nie, sondern gibt dafür lediglich Beispiele. Diese kreisen jeweils um etwas, das im Kontakt zwischen zwei Dingen entsteht und doch ungreifbar bleibt. Das einzige zu Lebzeiten Duchamps publik gemachte Beispiel wurde auf dem rückwärtigen Umschlag einer 1945 erschienenen Ausgabe der Zeitschrift View abgedruckt. Hier ist – in deutscher Übersetzung – zu lesen: „Wenn der Tabakrauch auch nach dem Mund riecht, der ihn ausatmet, vermählen sich die beiden Gerüche durch inframince“. Eine andere Notiz lautet: „Die Wärme eines Stuhls (der soeben frei wurde) ist inframince“, und eine weitere bezeichnet die Reibung zweier Samthosenbeine beim Gehen als „Inframince-Separation“, die durch das entstehende Geräusch angezeigt werde. Inframince, so darf man vorsichtig verallgemeinern, ist ein paradoxales Zugleich von Vermischung und Scheidung: eine Trennung, die erst im Kontakt entsteht. Der Begriff des inframince ist nicht überraschend mit demjenigen eng verwandt, was Duchamp im Vortrag „Der kreative Akt“ als „ästhetische Osmose“ zwischen Künstler und Betrachter bezeichnet. Gerade im Hinblick auf Étantdonnés mit seiner das Werk und dessen Erfahrung dominierenden, den Blick verstellenden und doch durchlassenden Holztüre ist überdies die Nähe signifikant, die das inframince zu den Phänomenen von Schwellen, Passagen und Intervallen unterhält. So heißt es in einer weiteren Note, der Begriff der „séparation inframince“ sei besser als derjenige der ‚Trennwand‘, da er ebenso sehr ‚Intervall‘ meine wie ‚Trennung‘.

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Punkt Duchamp Kapitel III: Ästhetische Osmose und Inframince
Duchamp Kapitel IV: Ein vierfaches Explizitwerden des Sehens
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Duchamp Malerei Geist Perspektive Glas

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II. DUCHAMPS TRANSFORMATIONEN

An eine solche Auffassung des Bildes als dreistellige Relation von sehendem Subjekt, sich zeigendem Objekt und einem medialen ‚Dazwischen‘ schließt Marcel Duchamp an – freilich unter den gewandelten künstlerischen und technischen Bedingungen seiner Zeit. „Je voulais remettre la peinture au service de l’esprit“– „Ich wollte die Malerei wieder in den Dienst des Geistes stellen“, so lautet die berühmte Selbstbeschreibung Duchamps. Es ist dabei nicht zufällig, dass er diese Mission als Gegensatz zu dem beschreibt, was seiner Ansicht nach mit der Malerei seit dem 19. Jahrhundert, insbesondere seit Courbet und den Impressionisten, geschah. Duchamp erkannte darin einen verhängnisvollen Zug zur ‚Physikalisierung‘ des Bildes und des Sehens, die dazu geführt habe, dass die Malerei nun ausschließlich auf die Erregung sinnlich-visueller Reize zielte. Für Duchamp obsiegte, so könnte man seinen Einspruch paraphrasieren, der Gegenbegriff der perspicuitas, nämlich obscuritas, und diese ‚Dunkelheit‘ obsiegte genau in jener doppelten Bedeutung, die auch den Begriff der perspicuitas prägt: einerseits indem sich die Durchsichtigkeit des Bildes immer mehr trübte, von der impressionistischen ‚Flecken‘ bis zum Extremfall der monochromen, tiefenlosen Farbwand, andererseits indem die Malerei die Ambition aufgab, nicht nur die Sinne, sondern den Geist zu beleben – jener „discorso mentale“zu sein, den Leonardo da Vinci in der Malerei erkannte. Ob Duchamps Diagnose zutrifft – sie trifft wohl eher nicht zu –, braucht uns an dieser Stelle nicht weiter zu kümmern. Entscheidend ist, dass sie Duchamps lebenslanges künstlerisches Wollen befeuerte, das in seinen einzelnen Realisaten eigentümliche Verzweigungen und scharfe Brüche kennt und dennoch im Rückblick auf konzeptueller Ebene geschlossen wirkt.

Um dem selbst gesteckten Ziel zuzuarbeiten, griff er in seinen Hauptwerken jene topologische Bildordnung auf, die ich mithilfe des Veronese-Gemäldes und darauf aufbauend anhand der Dürer-Grafik umriss. So ist beim Großen Glas das Bild tatsächlich ein in den Raum gestellter ‚Bildschirm‘, in welchem sich die Dinge wie auch die Blicke zu verfangen scheinen und das wie Dürers Gitterrahmen keine eindeutige Vorder- und Rückseite aufweist. Durch die heterogene Gestaltung der auf dem Glas sichtbar werdenden Elemente wird ungewiss, wofür jene Glasscheibe eigentlich steht. Denn was sich auf dieser Scheibe abzeichnet, gleicht einmal mehr einem zur Flächigkeit tendierenden Querschnitt durch ein Objekt, in anderen Fällen wiederum handelt es sich um plastisch-perspektivische Darstellungen dreidimensionaler Dinge, sodass die Glasscheibe bald eher in die Dinge zu schneiden, bald eher vor oder hinter den Dingen zu liegen scheint. Indem wir auf diese Weise keiner räumlich kohärenten Szenerie begegnen, dementiert das Große Glas die alte, von Leon Battista Alberti in die Metapher des „geöffneten Fensters“ gekleidete Auffassung, das Bild sei als Ausblick in einen fiktiven Raum zu verstehen, wobei es zu den Pointen des Großen Glases gehört, dieses Dementi in Gestalt eines transparenten Durchblicks zu präsentieren. Was sich auf dem Großen Glasdarbietet, gleicht in seiner Mischung aus anschaulicher Darstellung und nur kognitiv zu erfassender Zeichenkonstellation eher einem Diagramm. Es ist das Diagramm eines ‚undarstellbaren‘, da in wesentlichen Aspekten ‚unsichtbaren‘ transformativen Geschehens: der durch das Begehren zwischen Mann und Frau initiierten psycho-physischen Interaktion – womit sich das Große Glas nicht nur in seiner Eigenart als im Raum stehendes ‚Dazwischen‘, sondern auch hinsichtlich seines Sujets nicht allzu weit von Dürer entfernt.

Kapitel I: Perspektivität und Fiktion in der klassischen Repräsentation
Punkt Duchamp Kapitel II: Duchamps Transformationen
Duchamp Kapitel III: Ästhetische Osmose und Inframince
Kapitel IV: Ein vierfaches Explizitwerden des Sehens
Kapitel V: Auf den Schwellen von Étant donnés
Kapitel VI: Das Bild als Gemälde, als Glas und als Inframince
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Perspektive Fiktion Repräsentation Veronese Dürer

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Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation

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I. PERSPEKTIVITÄT UND FIKTION IN DER KLASSISCHEN REPRÄSENTATION

In der bildenden Kunst sind Perspektivität und Fiktion auf unmittelbare Weise miteinander verbunden. Die Verbindung ist so vielfältig, dass sie die Eigenart eines Knotens hat, bei dem es schwierig ist, zum Zwecke der Analyse einzelne Fäden herauszuziehen. Zur Veranschaulichung ziehe ich daher sogleich ein Kunstwerk heran – allerdings erst einmal nicht Duchamps Étant donnés, sondern ein älteres Kunstwerk, und überdies auch keine Rauminstallation wie Duchamps späte Arbeit, sondern ein Gemälde: Veroneses Anbetung der Hirten in der Cappella del Rosario in Santi Giovanni e Paolo in Venedig aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Das Beispiel ist beinahe beliebig gewählt und soll hier stellvertretend für dasjenige stehen, was Autoren wie Louis Marin oder Michel Foucault unter dem Begriff der ‚klassischen Repräsentation‘ der vormodernen Malerei zusammenfassten.

Auf einer ersten Ebene ist die Perspektive dasjenige, was den Realraum, in dem wir als Betrachter stehen, mit dem Fiktionsraum des Bildes verbindet, und zwar dadurch, dass der Augenpunkt der Perspektive in uns, der Fluchtpunkt hingegen im Fiktionsraum des Bildes liegt. Mühelos gelangt der Blick über die ästhetische Grenze des Bildes hinweg von der einen auf die andere Seite – wobei diese Mühelosigkeit darüber hinwegtäuscht, dass hierbei eine ontologisch unmögliche Topologie entsteht, in welcher der Augenpunkt und der Fluchtpunkt als Pole derselben Perspektive zwei gänzlich heterogenen Ordnungen angehören. In der Mühelosigkeit, mit der im Augenblick der Bilderfahrung der ontologische Abgrund zwischen Realität und Fiktion übersprungen wird, liegt ein wesentlicher Aspekt jenes ‚Zaubers‘ der Kunst, der ihr seit jeher zugesprochen wird.

Die Blickperspektive ins Bild führt aber nicht nur in die Fiktion, sondern ist selbst fiktional. Sie macht uns zu Augenzeugen eines Geschehens, das schon damals, als Veronese es malte, 1500 Jahre zurücklag und das auch nicht in Venedig – wo wir uns beim Anblick des Originalgemäldes befinden – stattfand. Diese unmögliche Augenzeugenschaft lässt auch den realen Standpunkt des Betrachters fiktional werden: Die Fiktionalität des Dargestellten zieht gewissermaßen durch die Art und Weise, wie wir perspektivisch daran teilhaben, die Fiktionalität unseres Betrachterstandpunktes nach sich.

Das ‚Zauberhafte‘ unserer Augenzeugenschaft geht aber noch darüber hinaus. Denn das Bildgeschehen, ja sogar die gesamte Bildanlage, ist in einer ausdrücklichen und bei näherem Hinsehen fast grotesk überzeichneten Weise auf den Betrachterblick hin ausgerichtet. Beispielsweise streckt Maria ihren linken Arm so vom Körper weg, dass sie nicht ihr Kind, sondern vielmehr den Betrachter damit adressiert, so als würde sie ihren Schleier wie einen Vorhang, der sie und vielleicht sogar das Christuskind verhüllte, für uns zur Seite ziehen wollen; oder wendet sich der Körper des Jesuskindes weniger zu Maria hin, als dass er nahezu kopfüber zum Betrachter hin gestülpt erscheint; und vollführt der Hirte links eine überaus seltsame Drehung, die einzig dadurch begründet scheint, dass er zum Jesuskind hinstrebt, ohne aber dem Betrachter den Rücken zuzukehren. Insgesamt ist es höchst unplausibel, dass die Gruppe der Adoranten keinen Kreis um die Krippe formt, sondern diesen Kreis zum Betrachter hin förmlich aufreißen lässt, und es ist ebenso unplausibel, dass die Gruppe sich nicht im Inneren des Stalles aufhält, sondern sich unmittelbar vor diesem an den vordersten Bildrand drängt. Die Engel wiederum vollführen Bewegungen, die vom Betrachterstandpunkt aus einen großartig komponierten Reigen ergeben, während ihre Konfiguration vom Blickpunkt des Jesuskindes, zu dessen Ehrung sie doch herangeflogen kommen, einen weniger attraktiven Anblick bieten dürfte; auch das mitgeführte Schriftband, obschon scheinbar nach unten orientiert, kann von den Personen im Stall kaum gelesen werden, da der Körper des rechten Engel es für ihren Blick verdeckt.

All dies verdeutlicht, dass die Bildordnung sowie die Haltungen und Gesten der Figuren nicht allein der inneren Logik des gezeigten Anbetungsgeschehens folgen, sondern gerade in ihren auffälligsten Zügen nur verständlich werden, wenn wir sie in ihrer Orientierung auf den Betrachter hin begreifen. Wessen wir im Bild ansichtig werden, ist nicht allein eine Szene, die sich notwendigerweise in einer bestimmten Perspektive zeigt, sondern zugleich eine Szenerie, die sich in ebenso überraschender wie expliziter Weise auf uns hin öffnet. Durch diese Extravertierung des gesamten Bildes wird das dargestellte Geschehen perfekt einsehbar, während umgekehrt die alleinige Orientierung an der internen Geschehenslogik dazu geführt hätte, dass beispielsweise die Hauptfigur des Jesuskindes hinter den Rücken der Adoranten verschwände. Stattdessen aber platzt die Szene förmlich zu uns hin auf – auf dass wir sehen können. Die Fiktionalität der Darstellung liegt also nicht bloß darin, dass es sich bei Veroneses Anbetung der Hirten um eine Imagination im Medium der Malerei handelt, sondern entscheidend auch darin, dass sie uns die dargestellte Szene so darbietet, wie sie unter alltäglichen Wahrnehmungsbedingungen nie zu sehen sein würde, nämlich als ein in umfassender Weise auf uns hin ausgerichtetes Geschehen, als ein Geschehen für uns.

Zur Fiktionalität des Bezugs zwischen Betrachter und dargestellter Szene gehört allerdings wesentlich dazu, dass diese Orientierung auf den Betrachter hin durch dessen ‚Unsichtbarkeit‘ ausbalanciert wird. Wir sehen die Szene zwar aus nächster und überaus privilegierter Nähe, ohne indes gesehen zu werden. Keine einzige Figur im Bild adressiert uns oder reagiert in einer ausdrücklichen Weise auf unsere Gegenwart. Michael Fried nannte dies „the supreme fiction“ der Malerei: „the supreme fiction that the beholder does not exist“.

Ein Gemälde wie dasjenige Veroneses erreicht mit diesen Mitteln eine komplette Überblendung der optischen Perspektive mit einer fiktionalen Perspektivität, die nicht unter einem optischen, sondern vielmehr unter einem rhetorischen Regime steht. Dieser Regimewechsel bedeutet zugleich eine Umkehrung der Perspektive: Es geht nun nicht mehr allein um ein ins Bild führendes Sehen, sondern zugleich um ein aus dem Bild heraus den Betrachter adressierendes Zeigen.

Ebendieses doppelte Regime wird im rhetorischen Topos der perspicuitas erfasst. Perspicuitas heißt zum einen ‚Durchsicht‘, meint jedoch zugleich die ‚Klarheit‘ und ‚Deutlichkeit‘ des rhetorischen Artefaktes, sei dieses eine Rede oder ein Gemälde, und umfasst schließlich auch die ‚Durchdringung‘ und das ‚Einsichtigwerden‘ des Gesagten oder Dargestellten als die beim Hörer oder Betrachter erzielte Wirkung. Der Begriff der perspicuitas verbindet folglich die perspektivische Sehbewegung vom Subjekt zum Objekt – als ‚Durchsicht‘ – mit der gegenläufigen Bewegung der Wirkung – als ‚Einsichtigwerden‘ –, die sozusagen in umgekehrter Richtung vom Objekt auf das Subjekt zuläuft. Der im Titel dieses Aufsatzes verwendete Begriff der Perspektivinversion meint genau diese Gegenläufigkeit. Inmitten dieser gegenläufigen Dynamik situiert sich das Bild als ein durchsichtiges ‚Nichts‘, das von beiden Seiten her durchquert wird.

Im Hinblick auf ein Gemälde wie dasjenige Veroneses kann diese Perspektivinversion auch als ein Kreuzen von Strahlen begriffen werden: des Sehstrahls, der ins Bild eindringt, und des Lichtstrahls, der uns aus diesem heraus entgegenkommt. Tatsächlich ist für das Begriffsfeld der perspicuitas nicht nur der Konnex von ‚deutlich sehen‘ und ‚einsichtig werden‘ wichtig, sondern überdies die im westlichen Denken tief verankerte Verbindung von Erkenntnis und Licht, der zufolge das ‚Verstehen‘ als ein ‚Sehen‘ und ‚Ideen‘ als ‚Lichtquellen‘ aufgefasst werden – mit der Folge, dass Einsicht zu gewinnen bedeutet, vom Licht der Idee erfasst zu werden. Dieser Konnex wird bei Veronese christlich gewendet. Wir treten ins Licht des Gotteskindes, womit dessen Herausdrehung zum Betrachter in einer nochmals neuen Akzentuierung erscheint: als würde das Jesuskind von seiner Erlösungsmission für die Menschen, die vor dem Bild stehen, geradezu physisch erfasst werden. Ähnliches gilt für das auf Christi Passion vorausweisende Lämmchen, das gleichermaßen von der doppelten Dynamik der Perspektivflucht ins Bild hinein und eines aus dem Bild Herausdrängens erfasst zu werden scheint.

An dieser Stelle wird schließlich einsichtig, dass bereits Veroneses Organisation der Perspektivgeometrie das optische und das rhetorische Regime ineinanderfließen lässt. Auch wenn der geometrische Fluchtpunkt nicht exakt zu bestimmen ist, scheint er auf jeden Fall ungefähr auf der vertikalen Mittelachse des Gemäldes und nahe am unteren Bildrand zu liegen. Diese Fluchtpunktposition hat zur Folge, dass insbesondere die stürzenden Linien der Stallarchitektur den Blick weniger in die Bildtiefe führen, sondern vielmehr ganz nach vorne, zur Figurengruppe im Bildvordergrund, hinlenken, in einer erneuten Inversion der Raumdynamik, die es möglich werden lässt, dass der Fluchtpunkt des Bildes und der Aufmerksamkeitsmittelpunkt der Adoranten – das Jesuskind – zusammenzufallen scheinen. Der geometrisch-optische Fluchtpunkt transformiert sich zum inhaltlichen Fokus des Gemäldes und des darin verbildlichten Geschehens.

Dürers Holzschnitt des Zeichners der liegenden Frau von 1525, der einige Jahre später in Dürers Perspektiv- und Proportionstraktat publiziert wurde, wendet das soeben an Veroneses Gemälde beschriebene Szenario einer doppelten und dabei gegenläufigen Perspektivität sozusagen um 90 Grad. Auf diese Weise wird die dreistellige Relation von Betrachter, Bild und Dargestelltem, die wir analysieren müssen, wenn wir die Beziehung von Perspektivität und Fiktion in der bildenden Kunst erfassen wollen, besonders einsichtig. Denn nun befindet sich der Betrachter – der in Dürers Holzschnitt zugleich der zeichnende Künstler ist – nicht länger außerhalb des Bildes, sondern innerhalb. Durch die Erotisierung des Sujets wird das dreistellige Kräftespiel zugleich dramatisiert. Im ‚Bildschirm‘, der zwischen dem Künstler und der darzustellenden Frau steht, kreuzen sich das Sehen des Künstlers und das Sich-Zeigen des Darstellungsobjektes. Die Fensteröffnung hinter dem Zeichner lässt sich vielleicht als Metapher dafür auffassen, was in diesem wechselseitigen Prozess als Bild entsteht. Wir erblicken hier zwei Gefäße – von denen das eine prekär an der Grenze des Fensterrahmens balanciert –, die ebenso sehr dadurch bestimmt sind, dass ihre Rundungen perspektivisch in die Tiefe führen, wie auch dadurch, dass sich diese Rundungen zum Betrachter hin wölben; es ist ein kraftvolles Nachvornewölben, das auch bei der liegenden Frau unübersehbar hervorgehoben ist, etwa bei dem das Gitternetz beinahe berührenden Knie und in anderer Weise bei ihren Brüsten.

Punkt Manet Velazquez Kapitel I: Perspektivität und Fiktion in der klassischen Repräsentation
Manet Velazquez Kapitel II: Duchamps Transformationen
Kapitel III: Ästhetische Osmose und Inframince
Kapitel IV: Ein vierfaches Explizitwerden des Sehens
Kapitel V: Auf den Schwellen von Étant donnés
Kapitel VI: Das Bild als Gemälde, als Glas und als Inframince
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Perspektivinversion als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 9.700 KB)

Manet Malerei Autonomie Tradition Sehen

Die Wendung des Blicks als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 471 KB)

Die Wendung des Blicks

in: Manet – Sehen. Der Blick der Moderne, hrsg. von Hubertus Gaßner und Viola Hildebrandt-Schat, Ausstellungkatalog Hamburger Kunsthalle, Petersberg 2016

Kapitel III: Zum bildgeschichtlichen Zusammenhang

Zu Beginn wurde gesagt, die Ausstellung verzichte auf eine Stil- oder motivgeschichtliche Eingliederung Manets, um stattdessen die doppelte Thematisierung des Sehens in den Mittelpunkt zu rücken. Gerade diese Akzentsetzung ermöglicht jedoch auf ihre Weise eine kunst- und bildgeschichtliche Situierung von Manets Malerei. Diese sei abschließend in knapper Form umrissen.

Setzt man, wie es die Ausstellung vorschlägt, den Akzent auf das Sehen, lässt sich die gängige Auffassung konkretisieren, Manet sei einer der entschiedensten Verfechter malerischer Autonomie. Im Hinblick darauf sind im Frankreich des 19. Jahrhunderts zwei Schritte der Autonomisierung zu unterscheiden. Zunächst, nach dem Ende des Ancien régime in der Französischen Revolution und verstärkt durch die Kunstauffassung der Romantik, ging es darum, die Malerei von der Aufgabe zu entbinden, eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen – einem Auftrag zu gehorchen oder einer Sache zu dienen, beispielsweise der Sache der Kirche oder des Staates. Der zweite Schritt war entschieden radikaler. Manet – wie nach ihm so mancher Künstler der klassischen Avantgarden – wies die Verpflichtung zurück, in den eigenen Bildern überhaupt etwas Bestimmtes aussagen zu müssen. Die Ausdifferenzierung eines autonomen malerischen Feldes vollzog sich vor allem durch die Abwehr alles Literarischen im weitesten Sinne. War es in der Romantik, etwa bei Eugène Delacroix, noch allgegenwärtig, wurde es jetzt als aufzusprengende Umklammerung empfunden. Das Bild sollte keinen externen Vorgaben folgen, sondern alleine der eigenen malerischen Aufgabenstellung. Daraus resultierte die Tendenz zu Offenheit und Selbstbezüglichkeit, die auch Manets Gemälde prägte. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass jede Aussage, die dem Bild entnommen werden konnte, an dessen Eigenlogik rückgekoppelt blieb.

Manet aber destruierte nicht nur bestehende, als beengend empfundene Bindungen, sondern schuf zugleich neue. Orientierung suchte er bei künstlerischen Vorbildern jenseits der damaligen offiziellen Malerei, und er fand sie in gewissen vormodernen Meistern, in Tizian und Rubens, vor allem aber in Velázquez, in denen er Wahlverwandte erkannte – gerade auch was die Betrachterorientierung ihrer Bilder betraf. Diese malerische Rückversicherung ist für das Verständnis Manets, der zu Recht als letzter Alter Meister und zugleich erster Modernist gilt und dessen Gemälde wie ein Scharnier zwischen Tradition und Moderne erscheinen, wesentlich.

Die andere Orientierung indes betraf den Betrachter, dem sich Manets Bilder nicht nur metaphorisch, sondern wortwörtlich zuwandten, um mit ihm in einen Dialog von bislang unbekannter Unmittelbarkeit zu treten. Diese Zuwendung gewinnt nun, so die These, ihre eigentliche Pointe erst vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Strebens nach künstlerischer Autonomie.

Dieses Streben löste einen tiefgreifenden Wandel aus, der sowohl die Produktion wie auch die Rezeption der Kunst betraf und in dem historische, soziologische und ästhetische Aspekte kaum zu trennen sind. Als die herkömmlichen Brücken zwischen Kunst und Publikum – die literarisch fundierte Motivwelt, das Ensemble von geteilten Normen und Werten, die Auftraggeberverhältnisse – nicht mehr trugen, entwickelten die Künstler halb freiwillig, halb gezwungenermaßen ein Selbstverständnis, das jeden außerästhetischen Nutzen der Kunst ablehnte und den absoluten Primat künstlerischer Form gegenüber jeglichem Inhalt behauptete. Mit einiger Verzögerung veränderte sich auch die Einstellung der Rezipienten. Auch sie waren zunehmend davon überzeugt, Kunst sei nicht für externe Zwecke geschaffen – etwa zur staatlichen Repräsentation oder zur sittlichen Erbauung –, sondern in erster Linie zum Zwecke ästhetischer Erfahrung.

Damit waren die Voraussetzungen für eine Malerei gegeben, die das reine, absolute Sehen zum Ausgangspunkt und zum Ziel der Kunst erklärte, ein solches Sehen aber umgekehrt auch vom Betrachter forderte. Wollte man diese Verabsolutierung eines reinen Sehens mit einem Namen verbinden, wäre im Umfeld Manets wohl am ehesten Paul Cézanne zu nennen, der sein Leben an eine Malerei gab, deren Referenz ausschließlich die eigenen Sinneseindrücke sein sollten. Bei Manet hingegen gewann diese neuartige Kommunikation zwischen Künstler und Betrachter eine Form, die in gewisser Weise naheliegen konnte, aber bis heute nichts von ihrer provokanten Radikalität einbüßte: Manet ließ das reine Sehen, jene neue Basis der Kunst, mit einem konkreten Blick zusammenfallen, der sich aus dem Bildes heraus auf den Betrachter richtete. Das reine Sehen ist folglich nicht wie in Cézannes Fleckenmalerei ein ungreifbarer malerischer Blick, der sozusagen überall und nirgends ist. Es ist ein inkarnierter und individualisierter Blick, der die Macht des Zurückblickens besitzt.

Gerade deshalb aber bleibt die Begegnung von Bild und Betrachter zutiefst ambivalent. Im Blickwechsel mit der Bierkellnerin, dem kleinen Jungen oder den Menschen auf dem Balkon verweben sich Intimität und Anonymität. Die dem Betrachter zugekehrten Gesichter bleiben inselhaft, die Blicke scheinen gleichermaßen aus dem Nichts zu kommen und ins Nichts zu gehen. Wer ist ihr Adressat? Alle und niemand zugleich. Es sei die »Menge«, so Benjamin in seinem Aufsatz über Baudelaire, die im 19. Jahrhundert nicht nur zum Gegenstand, sondern vor allem auch zum Publikum der Kunst werde. Doch die Menge, so heißt es dort weiter, sei eine ambivalente Textur. Ihre Erfahrung werde immer wieder durch unvermittelte Begegnungen punktiert, deren Protagonisten sich fremd blieben und auch gleich wieder verlören. Baudelaire hat diesen genuin modernen Zusammenprall von Intimität und Anonymität, dem der Betrachter auch bei Manet begegnet, in der berühmten dritten Strophe des Gedichts An eine Passantin beschrieben: »Ein Blitz … und dann die Nacht! – Flüchtige Schönheit, / von deren Blick ich plötzlich neu geboren war, / soll ich dich in der Ewigkeit erst wiedersehen?«

Auf dem schwankenden Boden einer Zeit, in der die Kunst angesichts schwindender gesellschaftlicher und ästhetischer Gewissheiten nach einem neuen Ort, einer neuen Aufgabe und einem neuen Publikum suchte, schuf Manet eine Malerei von Angesicht zu Angesicht, die den in der Menge anonymisierten Betrachter direkt zu adressieren versuchte. Seine Malerei ist kein Abbild der Welt, sondern ein Abbild der immer nur punktuellen, nicht fixierbaren Beziehung des Menschen zu seiner Welt. Die Begegnungen, die Manets Gemälde provozieren, verschränken das Rätsel, das jeder einzelne Mensch für sein Gegenüber darstellt, mit dem Rätsel der Kunst.

»Das Rätsel lösen«, heißt es in Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie, »ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben: der Blick, mit dem die Kunstwerke den Betrachter anschauen.«

Kapitel I: Sehen
Kapitel II: Drei Beispiele
Manet - Sehen Kapitel III: Zum bildgeschichtlichen Zusammenhang
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Die Wendung des Blicks als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 471 KB)

Manet Petit Lange Balcon Serveuse de bocks

Die Wendung des Blicks als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 471 KB)

Die Wendung des Blicks

in: Manet – Sehen. Der Blick der Moderne, hrsg. von Hubertus Gaßner und Viola Hildebrandt-Schat, Ausstellungkatalog Hamburger Kunsthalle, Petersberg 2016

Kapitel II: Drei Beispiele

Das bislang Umrissene sei an drei Exponaten der Ausstellung genauer untersucht – sowohl in seiner je individuellen Realisierung als auch in den jeweiligen Folgen für das Sehen der Gemälde. Bewusst wurden Beispiele ausgewählt, die drei unterschiedliche, im Oeuvre häufig wiederkehrende Bildtypen repräsentieren: das Einzelporträt, das zwischen Porträt und Genre oszillierende Mehrfigurenbild sowie das Genrebild ohne Porträtabsicht.

1861, im für Manet noch frühen Alter von 29 Jahren, entsteht das Porträt eines etwa fünfjährigen Jungen, über den mehr Vermutungen als gesicherte Daten vorliegen. Le petit Lange (Kat. 14) – wie er aufgrund einer ins Bild geschriebenen Widmung genannt wird – ist in Lebensgröße gemalt, was beim Ganzfigurenbildnis eines Kindes den Effekt hat, es zugleich monumental und klein erscheinen zu lassen. Breitbeinig, den vorderen Arm etwas angewinkelt, steht der Junge in der Mitte des Bildes. Bei strikt frontaler Ausrichtung der Füße und des Kopfes hat er die Hüfte und den Oberkörper leicht ins Dreiviertelprofil weggedreht, was dem ruhigen Stehen Spannung und dem flächigen Körper eine gewisse Raumtiefe verleiht. Die schwere Kleidung umhüllt den kleinen Körper so vollständig, dass die Physiognomie darunter zu verschwinden droht. Auffällige Attribute sind der aureolenartige Hut, gemalt mit einem Schwarz, das Manet wie eine strahlende Farbe zu inszenieren weiß und welches auch die großen Augen des Jungen leuchten lässt, sowie das ziegelrote Zaumzeug, das der Junge so unschlüssig in der Hand hält, als hätte er vergessen, weswegen er es bei sich trägt.

So selbstbewusst der Auftritt ist, so offen bleibt der Ort, an dem er sich vollzieht. Manet löst den Jungen aus jedem Zusammenhang, sodass nicht einmal klar ist, ob er sich in einem Innen- oder Außenraum aufhält. In diesem Nicht-Raum ist er so weit nach vorne getreten, dass es in der oberen Bildhälfte so wirkt, als stünde er gleichsam vor dem Bild. Le petit Lange balanciert auf der Grenze zwischen Bildraum und Betrachterraum, keinem der beiden Räume ganz zugehörig. Aus dem Bild heraus führt der Blick des Jungen; ins Bild hinein indes nicht nur der Blick des Betrachters, sondern auch das Licht, das den Jungen frontal beleuchtet – als sei es der Blick des Betrachters, der die Figur beleuchte.

Unbestimmt erscheint nicht nur der Aufenthaltsort des Jungen, sondern auch dasjenige, worauf alles zuläuft: der Blick. Dieser ist ebenso unverwandt wie unfokussiert – was auch daran liegt, dass die Sehachsen der beiden Augen leicht voneinander abweichen. Worauf ist er gerichtet? Die Antwort, es sei der ihn porträtierende Maler, relativiert sich durch seine Stummheit, die nicht auf eine Interaktion zwischen zwei Menschen hindeuten will. Ebenso plausibel wäre zu sagen, der Blick richte sich auf nichts Äußeres, sondern sei nach innen gerichtet. Der Umraum wird, auch aufgrund der Farben und der Valeurs, zum Echoraum des Jungen; in seiner Untiefe hallt das Unauslotbare dieses Blicks wider. Und während Manets Bildraum in seinen Dimensionen vage bleibt, dehnt sich der Augenblick, in dem der Junge erfasst ist, zu unbestimmter Dauer. Das füllige Gesicht und die herausfordernde Haltung lassen keinen Zweifel an der Lebendigkeit des Jungen aufkommen. In der Reglosigkeit manifestiert sich keine Schwäche, sondern Eigensinnigkeit. Wenn dieser Junge nicht ganz da zu sein scheint, dann deswegen, weil er ganz bei sich ist.

Viele der von Manet gemalten Menschen treten in einer vergleichbaren Weise vor uns. Doch bei einem Kind gewinnt diese räumliche, zeitliche und psychische Schwellensituation einen besonderen Zug. Manet malt den Jungen, wie er ganz in der Gegenwart aufgeht, zugleich aber in eine Zukunft blickt, von der her er beleuchtet wird. Manets Petit Lange ist nicht nur das Porträt eines bestimmten Jungen, sondern weitet sich zum Porträt von Kindheit überhaupt.

Tagträumerei mag beim Porträt eines einzelnen Menschen nicht überraschen, ja sogar eine malerische Chiffre sein, die zur notwendigen Vereinzelung der Figur im Bild passt. Rätselhafter wird diese Gemütslage, wenn sie sich in einer Ansammlung mehrerer Menschen wiederholt. Das zweite hier zu betrachtende Beispiel ist von ebendieser Art.

Le balcon, 1868/69 gemalt (Kat. 21), organisiert sich als Hintereinanderstaffelung von parallel zur Bildebene verlaufenden Raumsegmenten. Hinter den Figuren öffnet sich jenseits der Balkontüre die Tiefe des Raums, die allerdings durch die Dunkelheit beinahe ausgelöscht wird. Gerade noch erkennen wir schemenhafte Reflexe verschiedener Gegenstände und die Gestalt eines Jungen. In diesen großen, leer wirkenden Raum jenseits der Balkontür dringt der Blick kaum vor; gleiches gilt für das Licht, das vom Standpunkt des Betrachters aus hell und frontal auf die Figuren trifft. In genau entgegengesetzter Richtung sind die Figuren aus dem Dunkel ins Licht getreten und befinden sich jetzt im schmalen Bereich zwischen dem Balkongitter und der Balkontür, hinter der das Bild ins Dunkel verschwindet. Auf diese Weise balancieren sie auf der Schwelle zwischen Innen und Außen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Von hier aus blicken sie in den Raum, woher das Licht sie beleuchtet und woher der Betrachter sie anschaut. Ausdruckslos blicken sie in unterschiedlicher Richtung auf etwas, was wir nicht sehen können, da es in unserem Rücken liegt.

Das Zusammenspiel von Raumgefüge, Lichtführung und Blickrichtungen erzeugt eine dramatische Umkehrung der Raumenergien. Der Raum fluchtet nicht in die Tiefe wie bei einem zentralperspektivischen Bild, vielmehr wird das Bild konsequent zum Betrachter hin ausgerichtet. Diese Herauswendung des Bildes zum Betrachter führt zu einer Verklammerung von Bild- und Betrachterraum, mit der Folge, dass die wechselseitige Überschreitung der Bildgrenze durch den Blick – der Figuren aus dem Bild sowie des Betrachters ins Bild hinein – zum eigentlichen Geschehen der ansonsten wie arretiert erscheinenden Szene wird. Manet betont das beidseitige Überschreiten der Bildgrenze durch das auffällige Detail des Balkongitters, das ebendiese Grenze dinglich repräsentiert. All dies lässt die Menschen auf dem Balcon in irritierender Weise präsent und doch nicht präsent sein. In der Begegnung mit ihnen spitzt sich zu, was Gemälde insgesamt charakterisiert: keine Illusion der Wirklichkeit zu sein, sondern ein Unwirkliches, das es außerhalb des Bildes nicht gibt.

Die Figuren des Balcon sind namentlich bekannt: die sitzende Malerkollegin und künftige Schwägerin Berthe Morisot, dahinter die Musikerin Fanny Claus und der Maler Antoine Guillemet, im dunklen Hintergrund Manets Sohn Léon – eine Freundes- und Familienkonstellation. Doch die Bildstruktur lässt sowohl den inneren Zusammenhang dieser Gruppe als auch deren Außenbezug unbestimmt, ja rätselhaft werden. Die innere und äußere Zusammenhanglosigkeit zersetzt den Porträtcharakter und lässt den Balcon zum Experimentalbild eines neuartigen, die Salon-Besucher des Jahres 1869 höchst befremdenden Bild-Betrachter-Verhältnisses werden, an dem die Dargestellten bloß wie Statisten mitzuwirken scheinen.

Als letztes Beispiel für Manets Spiel mit dem Sujet des Sehens sei das kleinere Gemälde La serveuse de bocks von 1879 gestreift (Kat. 1). Die Verflechtung der ins Bild und aus dem Bild führenden Blicke wird hier wieder anders realisiert, und zwar vor allem dadurch, dass nicht nur der – überaus lebendige – Blick der Kellnerin aus dem Bild herausführt, sondern drei Besucher des Café-Concert gezeigt werden, die in umgekehrter Richtung ins Bildinnere blicken. Die drei Figuren, die sich teils zwischen dem Betrachter und der Kellnerin, teils neben ihr befinden, werden zu Stellvertretern des Betrachters, indem sie dessen Blickrichtung innerhalb des Bildes wiederholen. Während die Kellnerin den Betrachter auf Distanz hält, ziehen ihn die drei Cafégäste ins Bild hinein – ein Push-and-pull-Effekt der Ab- und Zuwendung, den man als Betrachter beinahe physisch erlebt. Das Innere des Cafés, das Manet nur mit knappen Anschnitten andeutet, wird zu einem dynamischen, von einem polyperspektivischen Sehen strukturierten Raum. Gerade dadurch wird das Gemälde zum prägnanten Berufsbild einer Kellnerin, die ihren in beständigem Fluss befindlichen Tätigkeitsbereich souverän unter Kontrolle hält.

Kapitel I: Sehen
Manet - Sehen Kapitel II: Drei Beispiele
Manet - Sehen Kapitel III: Zum bildgeschichtlichen Zusammenhang
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Die Wendung des Blicks als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 471 KB)