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PERSPEKTIVINVERSION
Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation
in: Perspektive und Fiktion, hrsg. von Thomas Hilgers und Gertrud Koch, München 2017, S. 157–177.
I. PERSPEKTIVITÄT UND FIKTION IN DER KLASSISCHEN REPRÄSENTATION
In der bildenden Kunst sind Perspektivität und Fiktion auf unmittelbare Weise miteinander verbunden. Die Verbindung ist so vielfältig, dass sie die Eigenart eines Knotens hat, bei dem es schwierig ist, zum Zwecke der Analyse einzelne Fäden herauszuziehen. Zur Veranschaulichung ziehe ich daher sogleich ein Kunstwerk heran – allerdings erst einmal nicht Duchamps Étant donnés, sondern ein älteres Kunstwerk, und überdies auch keine Rauminstallation wie Duchamps späte Arbeit, sondern ein Gemälde: Veroneses Anbetung der Hirten in der Cappella del Rosario in Santi Giovanni e Paolo in Venedig aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Das Beispiel ist beinahe beliebig gewählt und soll hier stellvertretend für dasjenige stehen, was Autoren wie Louis Marin oder Michel Foucault unter dem Begriff der ‚klassischen Repräsentation‘ der vormodernen Malerei zusammenfassten.
Auf einer ersten Ebene ist die Perspektive dasjenige, was den Realraum, in dem wir als Betrachter stehen, mit dem Fiktionsraum des Bildes verbindet, und zwar dadurch, dass der Augenpunkt der Perspektive in uns, der Fluchtpunkt hingegen im Fiktionsraum des Bildes liegt. Mühelos gelangt der Blick über die ästhetische Grenze des Bildes hinweg von der einen auf die andere Seite – wobei diese Mühelosigkeit darüber hinwegtäuscht, dass hierbei eine ontologisch unmögliche Topologie entsteht, in welcher der Augenpunkt und der Fluchtpunkt als Pole derselben Perspektive zwei gänzlich heterogenen Ordnungen angehören. In der Mühelosigkeit, mit der im Augenblick der Bilderfahrung der ontologische Abgrund zwischen Realität und Fiktion übersprungen wird, liegt ein wesentlicher Aspekt jenes ‚Zaubers‘ der Kunst, der ihr seit jeher zugesprochen wird.
Die Blickperspektive ins Bild führt aber nicht nur in die Fiktion, sondern ist selbst fiktional. Sie macht uns zu Augenzeugen eines Geschehens, das schon damals, als Veronese es malte, 1500 Jahre zurücklag und das auch nicht in Venedig – wo wir uns beim Anblick des Originalgemäldes befinden – stattfand. Diese unmögliche Augenzeugenschaft lässt auch den realen Standpunkt des Betrachters fiktional werden: Die Fiktionalität des Dargestellten zieht gewissermaßen durch die Art und Weise, wie wir perspektivisch daran teilhaben, die Fiktionalität unseres Betrachterstandpunktes nach sich.
Das ‚Zauberhafte‘ unserer Augenzeugenschaft geht aber noch darüber hinaus. Denn das Bildgeschehen, ja sogar die gesamte Bildanlage, ist in einer ausdrücklichen und bei näherem Hinsehen fast grotesk überzeichneten Weise auf den Betrachterblick hin ausgerichtet. Beispielsweise streckt Maria ihren linken Arm so vom Körper weg, dass sie nicht ihr Kind, sondern vielmehr den Betrachter damit adressiert, so als würde sie ihren Schleier wie einen Vorhang, der sie und vielleicht sogar das Christuskind verhüllte, für uns zur Seite ziehen wollen; oder wendet sich der Körper des Jesuskindes weniger zu Maria hin, als dass er nahezu kopfüber zum Betrachter hin gestülpt erscheint; und vollführt der Hirte links eine überaus seltsame Drehung, die einzig dadurch begründet scheint, dass er zum Jesuskind hinstrebt, ohne aber dem Betrachter den Rücken zuzukehren. Insgesamt ist es höchst unplausibel, dass die Gruppe der Adoranten keinen Kreis um die Krippe formt, sondern diesen Kreis zum Betrachter hin förmlich aufreißen lässt, und es ist ebenso unplausibel, dass die Gruppe sich nicht im Inneren des Stalles aufhält, sondern sich unmittelbar vor diesem an den vordersten Bildrand drängt. Die Engel wiederum vollführen Bewegungen, die vom Betrachterstandpunkt aus einen großartig komponierten Reigen ergeben, während ihre Konfiguration vom Blickpunkt des Jesuskindes, zu dessen Ehrung sie doch herangeflogen kommen, einen weniger attraktiven Anblick bieten dürfte; auch das mitgeführte Schriftband, obschon scheinbar nach unten orientiert, kann von den Personen im Stall kaum gelesen werden, da der Körper des rechten Engel es für ihren Blick verdeckt.
All dies verdeutlicht, dass die Bildordnung sowie die Haltungen und Gesten der Figuren nicht allein der inneren Logik des gezeigten Anbetungsgeschehens folgen, sondern gerade in ihren auffälligsten Zügen nur verständlich werden, wenn wir sie in ihrer Orientierung auf den Betrachter hin begreifen. Wessen wir im Bild ansichtig werden, ist nicht allein eine Szene, die sich notwendigerweise in einer bestimmten Perspektive zeigt, sondern zugleich eine Szenerie, die sich in ebenso überraschender wie expliziter Weise auf uns hin öffnet. Durch diese Extravertierung des gesamten Bildes wird das dargestellte Geschehen perfekt einsehbar, während umgekehrt die alleinige Orientierung an der internen Geschehenslogik dazu geführt hätte, dass beispielsweise die Hauptfigur des Jesuskindes hinter den Rücken der Adoranten verschwände. Stattdessen aber platzt die Szene förmlich zu uns hin auf – auf dass wir sehen können. Die Fiktionalität der Darstellung liegt also nicht bloß darin, dass es sich bei Veroneses Anbetung der Hirten um eine Imagination im Medium der Malerei handelt, sondern entscheidend auch darin, dass sie uns die dargestellte Szene so darbietet, wie sie unter alltäglichen Wahrnehmungsbedingungen nie zu sehen sein würde, nämlich als ein in umfassender Weise auf uns hin ausgerichtetes Geschehen, als ein Geschehen für uns.
Zur Fiktionalität des Bezugs zwischen Betrachter und dargestellter Szene gehört allerdings wesentlich dazu, dass diese Orientierung auf den Betrachter hin durch dessen ‚Unsichtbarkeit‘ ausbalanciert wird. Wir sehen die Szene zwar aus nächster und überaus privilegierter Nähe, ohne indes gesehen zu werden. Keine einzige Figur im Bild adressiert uns oder reagiert in einer ausdrücklichen Weise auf unsere Gegenwart. Michael Fried nannte dies „the supreme fiction“ der Malerei: „the supreme fiction that the beholder does not exist“.
Ein Gemälde wie dasjenige Veroneses erreicht mit diesen Mitteln eine komplette Überblendung der optischen Perspektive mit einer fiktionalen Perspektivität, die nicht unter einem optischen, sondern vielmehr unter einem rhetorischen Regime steht. Dieser Regimewechsel bedeutet zugleich eine Umkehrung der Perspektive: Es geht nun nicht mehr allein um ein ins Bild führendes Sehen, sondern zugleich um ein aus dem Bild heraus den Betrachter adressierendes Zeigen.
Ebendieses doppelte Regime wird im rhetorischen Topos der perspicuitas erfasst. Perspicuitas heißt zum einen ‚Durchsicht‘, meint jedoch zugleich die ‚Klarheit‘ und ‚Deutlichkeit‘ des rhetorischen Artefaktes, sei dieses eine Rede oder ein Gemälde, und umfasst schließlich auch die ‚Durchdringung‘ und das ‚Einsichtigwerden‘ des Gesagten oder Dargestellten als die beim Hörer oder Betrachter erzielte Wirkung. Der Begriff der perspicuitas verbindet folglich die perspektivische Sehbewegung vom Subjekt zum Objekt – als ‚Durchsicht‘ – mit der gegenläufigen Bewegung der Wirkung – als ‚Einsichtigwerden‘ –, die sozusagen in umgekehrter Richtung vom Objekt auf das Subjekt zuläuft. Der im Titel dieses Aufsatzes verwendete Begriff der Perspektivinversion meint genau diese Gegenläufigkeit. Inmitten dieser gegenläufigen Dynamik situiert sich das Bild als ein durchsichtiges ‚Nichts‘, das von beiden Seiten her durchquert wird.
Im Hinblick auf ein Gemälde wie dasjenige Veroneses kann diese Perspektivinversion auch als ein Kreuzen von Strahlen begriffen werden: des Sehstrahls, der ins Bild eindringt, und des Lichtstrahls, der uns aus diesem heraus entgegenkommt. Tatsächlich ist für das Begriffsfeld der perspicuitas nicht nur der Konnex von ‚deutlich sehen‘ und ‚einsichtig werden‘ wichtig, sondern überdies die im westlichen Denken tief verankerte Verbindung von Erkenntnis und Licht, der zufolge das ‚Verstehen‘ als ein ‚Sehen‘ und ‚Ideen‘ als ‚Lichtquellen‘ aufgefasst werden – mit der Folge, dass Einsicht zu gewinnen bedeutet, vom Licht der Idee erfasst zu werden. Dieser Konnex wird bei Veronese christlich gewendet. Wir treten ins Licht des Gotteskindes, womit dessen Herausdrehung zum Betrachter in einer nochmals neuen Akzentuierung erscheint: als würde das Jesuskind von seiner Erlösungsmission für die Menschen, die vor dem Bild stehen, geradezu physisch erfasst werden. Ähnliches gilt für das auf Christi Passion vorausweisende Lämmchen, das gleichermaßen von der doppelten Dynamik der Perspektivflucht ins Bild hinein und eines aus dem Bild Herausdrängens erfasst zu werden scheint.
An dieser Stelle wird schließlich einsichtig, dass bereits Veroneses Organisation der Perspektivgeometrie das optische und das rhetorische Regime ineinanderfließen lässt. Auch wenn der geometrische Fluchtpunkt nicht exakt zu bestimmen ist, scheint er auf jeden Fall ungefähr auf der vertikalen Mittelachse des Gemäldes und nahe am unteren Bildrand zu liegen. Diese Fluchtpunktposition hat zur Folge, dass insbesondere die stürzenden Linien der Stallarchitektur den Blick weniger in die Bildtiefe führen, sondern vielmehr ganz nach vorne, zur Figurengruppe im Bildvordergrund, hinlenken, in einer erneuten Inversion der Raumdynamik, die es möglich werden lässt, dass der Fluchtpunkt des Bildes und der Aufmerksamkeitsmittelpunkt der Adoranten – das Jesuskind – zusammenzufallen scheinen. Der geometrisch-optische Fluchtpunkt transformiert sich zum inhaltlichen Fokus des Gemäldes und des darin verbildlichten Geschehens.
Dürers Holzschnitt des Zeichners der liegenden Frau von 1525, der einige Jahre später in Dürers Perspektiv- und Proportionstraktat publiziert wurde, wendet das soeben an Veroneses Gemälde beschriebene Szenario einer doppelten und dabei gegenläufigen Perspektivität sozusagen um 90 Grad. Auf diese Weise wird die dreistellige Relation von Betrachter, Bild und Dargestelltem, die wir analysieren müssen, wenn wir die Beziehung von Perspektivität und Fiktion in der bildenden Kunst erfassen wollen, besonders einsichtig. Denn nun befindet sich der Betrachter – der in Dürers Holzschnitt zugleich der zeichnende Künstler ist – nicht länger außerhalb des Bildes, sondern innerhalb. Durch die Erotisierung des Sujets wird das dreistellige Kräftespiel zugleich dramatisiert. Im ‚Bildschirm‘, der zwischen dem Künstler und der darzustellenden Frau steht, kreuzen sich das Sehen des Künstlers und das Sich-Zeigen des Darstellungsobjektes. Die Fensteröffnung hinter dem Zeichner lässt sich vielleicht als Metapher dafür auffassen, was in diesem wechselseitigen Prozess als Bild entsteht. Wir erblicken hier zwei Gefäße – von denen das eine prekär an der Grenze des Fensterrahmens balanciert –, die ebenso sehr dadurch bestimmt sind, dass ihre Rundungen perspektivisch in die Tiefe führen, wie auch dadurch, dass sich diese Rundungen zum Betrachter hin wölben; es ist ein kraftvolles Nachvornewölben, das auch bei der liegenden Frau unübersehbar hervorgehoben ist, etwa bei dem das Gitternetz beinahe berührenden Knie und in anderer Weise bei ihren Brüsten.