Manet Petit Lange Balcon Serveuse de bocks

Die Wendung des Blicks als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 471 KB)

Die Wendung des Blicks

in: Manet – Sehen. Der Blick der Moderne, hrsg. von Hubertus Gaßner und Viola Hildebrandt-Schat, Ausstellungkatalog Hamburger Kunsthalle, Petersberg 2016

Kapitel II: Drei Beispiele

Das bislang Umrissene sei an drei Exponaten der Ausstellung genauer untersucht – sowohl in seiner je individuellen Realisierung als auch in den jeweiligen Folgen für das Sehen der Gemälde. Bewusst wurden Beispiele ausgewählt, die drei unterschiedliche, im Oeuvre häufig wiederkehrende Bildtypen repräsentieren: das Einzelporträt, das zwischen Porträt und Genre oszillierende Mehrfigurenbild sowie das Genrebild ohne Porträtabsicht.

1861, im für Manet noch frühen Alter von 29 Jahren, entsteht das Porträt eines etwa fünfjährigen Jungen, über den mehr Vermutungen als gesicherte Daten vorliegen. Le petit Lange (Kat. 14) – wie er aufgrund einer ins Bild geschriebenen Widmung genannt wird – ist in Lebensgröße gemalt, was beim Ganzfigurenbildnis eines Kindes den Effekt hat, es zugleich monumental und klein erscheinen zu lassen. Breitbeinig, den vorderen Arm etwas angewinkelt, steht der Junge in der Mitte des Bildes. Bei strikt frontaler Ausrichtung der Füße und des Kopfes hat er die Hüfte und den Oberkörper leicht ins Dreiviertelprofil weggedreht, was dem ruhigen Stehen Spannung und dem flächigen Körper eine gewisse Raumtiefe verleiht. Die schwere Kleidung umhüllt den kleinen Körper so vollständig, dass die Physiognomie darunter zu verschwinden droht. Auffällige Attribute sind der aureolenartige Hut, gemalt mit einem Schwarz, das Manet wie eine strahlende Farbe zu inszenieren weiß und welches auch die großen Augen des Jungen leuchten lässt, sowie das ziegelrote Zaumzeug, das der Junge so unschlüssig in der Hand hält, als hätte er vergessen, weswegen er es bei sich trägt.

So selbstbewusst der Auftritt ist, so offen bleibt der Ort, an dem er sich vollzieht. Manet löst den Jungen aus jedem Zusammenhang, sodass nicht einmal klar ist, ob er sich in einem Innen- oder Außenraum aufhält. In diesem Nicht-Raum ist er so weit nach vorne getreten, dass es in der oberen Bildhälfte so wirkt, als stünde er gleichsam vor dem Bild. Le petit Lange balanciert auf der Grenze zwischen Bildraum und Betrachterraum, keinem der beiden Räume ganz zugehörig. Aus dem Bild heraus führt der Blick des Jungen; ins Bild hinein indes nicht nur der Blick des Betrachters, sondern auch das Licht, das den Jungen frontal beleuchtet – als sei es der Blick des Betrachters, der die Figur beleuchte.

Unbestimmt erscheint nicht nur der Aufenthaltsort des Jungen, sondern auch dasjenige, worauf alles zuläuft: der Blick. Dieser ist ebenso unverwandt wie unfokussiert – was auch daran liegt, dass die Sehachsen der beiden Augen leicht voneinander abweichen. Worauf ist er gerichtet? Die Antwort, es sei der ihn porträtierende Maler, relativiert sich durch seine Stummheit, die nicht auf eine Interaktion zwischen zwei Menschen hindeuten will. Ebenso plausibel wäre zu sagen, der Blick richte sich auf nichts Äußeres, sondern sei nach innen gerichtet. Der Umraum wird, auch aufgrund der Farben und der Valeurs, zum Echoraum des Jungen; in seiner Untiefe hallt das Unauslotbare dieses Blicks wider. Und während Manets Bildraum in seinen Dimensionen vage bleibt, dehnt sich der Augenblick, in dem der Junge erfasst ist, zu unbestimmter Dauer. Das füllige Gesicht und die herausfordernde Haltung lassen keinen Zweifel an der Lebendigkeit des Jungen aufkommen. In der Reglosigkeit manifestiert sich keine Schwäche, sondern Eigensinnigkeit. Wenn dieser Junge nicht ganz da zu sein scheint, dann deswegen, weil er ganz bei sich ist.

Viele der von Manet gemalten Menschen treten in einer vergleichbaren Weise vor uns. Doch bei einem Kind gewinnt diese räumliche, zeitliche und psychische Schwellensituation einen besonderen Zug. Manet malt den Jungen, wie er ganz in der Gegenwart aufgeht, zugleich aber in eine Zukunft blickt, von der her er beleuchtet wird. Manets Petit Lange ist nicht nur das Porträt eines bestimmten Jungen, sondern weitet sich zum Porträt von Kindheit überhaupt.

Tagträumerei mag beim Porträt eines einzelnen Menschen nicht überraschen, ja sogar eine malerische Chiffre sein, die zur notwendigen Vereinzelung der Figur im Bild passt. Rätselhafter wird diese Gemütslage, wenn sie sich in einer Ansammlung mehrerer Menschen wiederholt. Das zweite hier zu betrachtende Beispiel ist von ebendieser Art.

Le balcon, 1868/69 gemalt (Kat. 21), organisiert sich als Hintereinanderstaffelung von parallel zur Bildebene verlaufenden Raumsegmenten. Hinter den Figuren öffnet sich jenseits der Balkontüre die Tiefe des Raums, die allerdings durch die Dunkelheit beinahe ausgelöscht wird. Gerade noch erkennen wir schemenhafte Reflexe verschiedener Gegenstände und die Gestalt eines Jungen. In diesen großen, leer wirkenden Raum jenseits der Balkontür dringt der Blick kaum vor; gleiches gilt für das Licht, das vom Standpunkt des Betrachters aus hell und frontal auf die Figuren trifft. In genau entgegengesetzter Richtung sind die Figuren aus dem Dunkel ins Licht getreten und befinden sich jetzt im schmalen Bereich zwischen dem Balkongitter und der Balkontür, hinter der das Bild ins Dunkel verschwindet. Auf diese Weise balancieren sie auf der Schwelle zwischen Innen und Außen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Von hier aus blicken sie in den Raum, woher das Licht sie beleuchtet und woher der Betrachter sie anschaut. Ausdruckslos blicken sie in unterschiedlicher Richtung auf etwas, was wir nicht sehen können, da es in unserem Rücken liegt.

Das Zusammenspiel von Raumgefüge, Lichtführung und Blickrichtungen erzeugt eine dramatische Umkehrung der Raumenergien. Der Raum fluchtet nicht in die Tiefe wie bei einem zentralperspektivischen Bild, vielmehr wird das Bild konsequent zum Betrachter hin ausgerichtet. Diese Herauswendung des Bildes zum Betrachter führt zu einer Verklammerung von Bild- und Betrachterraum, mit der Folge, dass die wechselseitige Überschreitung der Bildgrenze durch den Blick – der Figuren aus dem Bild sowie des Betrachters ins Bild hinein – zum eigentlichen Geschehen der ansonsten wie arretiert erscheinenden Szene wird. Manet betont das beidseitige Überschreiten der Bildgrenze durch das auffällige Detail des Balkongitters, das ebendiese Grenze dinglich repräsentiert. All dies lässt die Menschen auf dem Balcon in irritierender Weise präsent und doch nicht präsent sein. In der Begegnung mit ihnen spitzt sich zu, was Gemälde insgesamt charakterisiert: keine Illusion der Wirklichkeit zu sein, sondern ein Unwirkliches, das es außerhalb des Bildes nicht gibt.

Die Figuren des Balcon sind namentlich bekannt: die sitzende Malerkollegin und künftige Schwägerin Berthe Morisot, dahinter die Musikerin Fanny Claus und der Maler Antoine Guillemet, im dunklen Hintergrund Manets Sohn Léon – eine Freundes- und Familienkonstellation. Doch die Bildstruktur lässt sowohl den inneren Zusammenhang dieser Gruppe als auch deren Außenbezug unbestimmt, ja rätselhaft werden. Die innere und äußere Zusammenhanglosigkeit zersetzt den Porträtcharakter und lässt den Balcon zum Experimentalbild eines neuartigen, die Salon-Besucher des Jahres 1869 höchst befremdenden Bild-Betrachter-Verhältnisses werden, an dem die Dargestellten bloß wie Statisten mitzuwirken scheinen.

Als letztes Beispiel für Manets Spiel mit dem Sujet des Sehens sei das kleinere Gemälde La serveuse de bocks von 1879 gestreift (Kat. 1). Die Verflechtung der ins Bild und aus dem Bild führenden Blicke wird hier wieder anders realisiert, und zwar vor allem dadurch, dass nicht nur der – überaus lebendige – Blick der Kellnerin aus dem Bild herausführt, sondern drei Besucher des Café-Concert gezeigt werden, die in umgekehrter Richtung ins Bildinnere blicken. Die drei Figuren, die sich teils zwischen dem Betrachter und der Kellnerin, teils neben ihr befinden, werden zu Stellvertretern des Betrachters, indem sie dessen Blickrichtung innerhalb des Bildes wiederholen. Während die Kellnerin den Betrachter auf Distanz hält, ziehen ihn die drei Cafégäste ins Bild hinein – ein Push-and-pull-Effekt der Ab- und Zuwendung, den man als Betrachter beinahe physisch erlebt. Das Innere des Cafés, das Manet nur mit knappen Anschnitten andeutet, wird zu einem dynamischen, von einem polyperspektivischen Sehen strukturierten Raum. Gerade dadurch wird das Gemälde zum prägnanten Berufsbild einer Kellnerin, die ihren in beständigem Fluss befindlichen Tätigkeitsbereich souverän unter Kontrolle hält.

Kapitel I: Sehen
Manet - Sehen Kapitel II: Drei Beispiele
Manet - Sehen Kapitel III: Zum bildgeschichtlichen Zusammenhang
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