Ästhetische Lebendigkeit Kunst Nicht-Kunst Tradition Moderne

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Zur ästhetischen Lebendigkeit moderner Kunst-Dinge

in: The challenge of the object: 33rd congress of the International Committee of the History of Art/Die Herausforderung des Objekts: 33. Internationaler Kunsthistoriker-Kongress, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 15.-20. Juli 2012, hrsg. von Georg Ulrich Großmann und Petra Krutisch, Nürnberg 2013, S. 1249-1252.

Einleitung

Wie umfassend auch die Kunst seit den historischen Avantgarden jeden vom Alltäglichen abgehobenen Werkcharakter unterlief – es bleibt die Frage, was Objekte der Kunst von Objekten der Nicht-Kunst unterscheidet. Ein traditionsreiches Differenzkriterium scheint mir noch heute relevant zu sein: Objekten der Kunst schreiben wir eine gegenüber Alltagsdingen besondere Lebendigkeit zu. Auf der Objektseite ist diese Lebendigkeit das Ergebnis ästhetischer Strategien, die die tote Materie des Kunstwerks zu beleben scheinen, auf der Seite des Betrachters wirkt sie sich so aus, dass man vom Kunstwerk in eine je besondere Dynamik hineingezogen wird. Diese Dynamik kann unterschiedlich bestimmt werden, beispielsweise im Sinne Kants als ‚Belebung der Gemütskräfte‘, aber auch als Immersion des Betrachters in die fiktionale Welt des Kunstwerks, in der er sich zu bewegen können scheint. Das Urteil, ob etwas Kunst ist oder nicht, lässt sich seit den historischen Avantgarden immer weniger aufgrund von bestimmten, für die entsprechende Qualifikation als notwendig angesehenen Gegenstandseigenschaften fällen. Vielmehr ist es jetzt erfahrungsästhetisch grundiert: Kunstwerke sind Gegenstände, die dadurch von anderen Gegenständen unterschieden sind, dass sie bestimmte Erfahrungen eröffnen – Erfahrungen, zu denen meines Erachtens prominent die einer Lebendigkeit des Objekts beziehungsweise einer Verlebendigung des Betrachters gehören. Was darunter angesichts von Kunstobjekten der Moderne zu verstehen ist, will ich in aller Skizzenhaftigkeit anhand eines einzigen Beispiels – den Gemälden Barnett Newmans – zu umreißen versuchen. Am Beispiel Newmans soll ein Weg aufgezeigt werden, den seit der Antike prominenten Topos der ästhetischen Lebendigkeit für die Moderne so zu reformulieren, dass sowohl die tiefgreifenden Transformationen der modernen Kunst als auch die übergreifenden Konstanten zwischen Vormoderne und Moderne heraustreten können.

Ästhetische Lebendigkeit moderner Kunst-Dinge Einleitung
Ästhetische Lebendigkeit moderner Kunst-Dinge Kapitel 1: Der ältere Topos ästhetischer Lebendigkeit
Kapitel 2: Prolegomena zu einer modernen Fassung ästhetischer Lebendigkeit
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Rezeption Kunst Künstler Picasso Lichtenstein

Rezeption von Kunst durch Künstler als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 4.030 KB)

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Rezeption (von Kunst durch Künstler)

in: Kunst-Begriffe der Gegenwart. Von Allegorie bis Zip, hrsg. von Jörn Schafaff, Nina Schallenberg und Tobias Vogt, Köln 2013, S. 249-254.

Die Sinnproduktion künstlerischer Rezeptionen von Kunst – von der expliziten Hommage bis zur impliziten Orientierung am Werk eines Dritten – lässt sich am bündigsten mit jener Phänomenologie des ‚Aspekts‘ erfassen, die Ludwig Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen entfaltet. Nach Wittgenstein ist ein Aspekt etwas, das unter bestimmten Bedingungen an etwas aufleuchtet, und zugleich das, was man unter bestimmten Bedingungen daran bemerkt. Weder allein eine Eigenschaft des Gegenstands noch allein eine Imaginationsleistung des Subjekts, verdankt er sich dem produktiven Zusammenspiel beider. Solches gilt auch für künstlerische Rezeptionsprozesse. Am Rezipierten werden aufgrund eines bestimmten Blicks darauf Aspekte sichtbar, die keine bloßen Projektionen sind, sondern ein im Rezipierten liegendes Potenzial aktivieren. Umgekehrt wirft das, was jemand am Werk eines Dritten bemerkt, ein Licht auf ihn selbst – auf die Eigenart seines eigenen Blicks. Aus der Position der Außenstehenden wird die Sinnproduktion künstlerischer Rezeptionsprozesse folglich als eine doppelte beobachtbar, indem sie sowohl das Objekt als auch das Subjekt der Rezeption besser verständlich machen. Nicht zuletzt an solchen Rezeptionsprozessen zeigt sich, dass Kunstwerke Entitäten sind, deren Bedeutung nur relativ zu einem bestimmten Standpunkt erläuterbar ist.
Künstlerische Rezeptionsprozesse von Kunst erfolgen im selben Modus wie das Rezipierte, nämlich als Kunst. Ihr Ergebnis ist selbst ein Werk, das ein Spiel von Ähnlichkeit und Differenz zum Rezipierten eröffnet. Angesichts der qua Kunstwerk singulär und spezifisch bleibenden Rezeptionsprozesse, angesichts auch ihrer historischen Diversität – von der Aemulatio älterer Kunst bis zur jüngsten Appropriation art – scheint es wenig ergiebig, eine übergreifende Bestimmung ihrer Verfahren und Resultate vorzunehmen. Stattdessen soll die wechselseitige Perspektivierung von Rezipient und Rezipiertem anhand eines einschlägigen Beispiels veranschaulicht werden; es ist das Beispiel der Picasso-Paraphrasen Roy Lichtensteins.

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Lichtensteins Picasso-Paraphrasen entstanden vor dem Hintergrund von Picassos besonderer Stellung in der amerikanischen Nachkriegskunst. Diese hatte unterschiedliche Gründe, genannt sei hier lediglich einer: das intensive Engagement des MoMA für diesen Künstler – einer Institution, deren Rolle für die Sozialisation der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geborenen amerikanischen Künstler kaum zu überschätzen ist. 1939 eröffnete dort die bis dahin größte Picasso-Schau mit einer eindrücklichen Zahl von Hauptwerken, einschließlich der Demoiselles d’Avignon, deren Ankauf dem MoMA soeben gelungen war, als auch Guernica, das Picasso nach Francos Sieg ins New Yorker Exil geschickt hatte. Die Schau wanderte anschließend in 22 Stationen quer durch die USA, darunter an viele Orte, in denen moderne Kunst noch nie nennenswert zu sehen war – mit der Folge, dass in den USA ‚moderne Kunst‘ und ‚Picasso‘ in einer Weise deckungsgleich wurden, die Life später auf die Formel bringen sollte: „When you understand Picasso, you understand modern art.“ Picasso war in fast allen frühen und einflussreichen thematischen Ausstellungen des MoMA vertreten, zu seinen runden Geburtstagen wurden ihm Retrospektiven eingerichtet, und für den eigenen fünfzigsten Geburtstag beschenkte sich das MoMA mit einer Picasso-Schau, die bis heute die umfangreichste geblieben ist.
Nicht nur für Lichtenstein führte der Weg zur eigenen künstlerischen Handschrift über eine intensive Beschäftigung mit Picasso. Dasselbe gilt, um nur die Prominentesten zu nennen, für Arshile Gorky, Jackson Pollock, Willem de Kooning oder David Smith. Womit sie sich auseinanderzusetzen hatten, lässt sich am leichtesten im Rekurs auf Clement Greenbergs damals maßgeblicher Ansichten zusammenfassen. Für ihn war der analytische Kubismus das entscheidende Ereignis im selbstreflexiven Programm des Modernismus, seit dem es der Malerei nicht mehr um fiktive Projektionen ging, sondern um Bilder, die unauflöslich mit dem verschmolzen, was sie tatsächlich waren. Aufgrund von Picassos in Guernica gipfelnder Entwicklung, das analytische Verfahren des Kubismus mit expressiver Gegenständlichkeit zu verbinden, sah Greenberg die Bedeutung des Kubismus universalisiert. Er habe den Status einer Schule gewonnen – der einzigen, die in der Gegenwart Relevanz besitze. Bis zum Auftritt der sogenannten New York School sei für die amerikanische Avantgarde, so Greenberg, ein Ausbruch daraus nicht denkbar gewesen.
In den späten 1940er und den 1950er Jahren hatte auch Lichtenstein, ähnlich wie der frühe Pollock oder de Kooning, eine Malerei in Picassos Manier betrieben. Er transformierte traditionelle Gemälde, vorzugsweise der amerikanischen Kunst des 19. Jahrhunderts, in ein Gefüge aus monochromen Farbflächen, deren Konturen sich ineinander fortsetzen, so wie es in Picassos Malerei seit den mittleren 1920er Jahren zu beobachten war. Nach einer Zwischenphase ungegenständlicher Malerei gelang ihm 1961 endlich die sein Werk neu ausrichtende Zäsur: Er begann nach Cartoons zu arbeiten. Von diesen übernahm er dabei nicht nur die Motive, sondern auch die Darstellungsweise, indem er sie ebenfalls mit dicken schwarzen Konturen, wenigen grellbunten, flachen Farben und Punktrasterung malte. Pollocks oder de Koonings Wege, sich aus Picassos Schatten herauszuarbeiten, liefen über die Relativierung bzw. Aufgabe der Figürlichkeit, an der Picasso stets festhielt, sowie durch die Überschreitung des Tafelbildformats hin zu wandfüllenden Gemälden. Lichtensteins Weg hingegen verlief anders, indem er weder die Gegenständlichkeit aufgab noch das Konzept des Tafelbildes in Frage stellte. Doch mit der Übernahme des stereotypen Formenvokabulars der Cartoons gelang ihm nicht nur die Emanzipation von Picassos Kubismus, sondern – paradoxerweise – auch der Durchbruch zu seinem individuellen Idiom. Dieses behielt er auch bei, wenn er keine Cartoons malte, sondern anderes, beispielsweise einen Picasso.

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Zwischen 1962 und 1965 schuf Lichtenstein fünf Picasso-Paraphrasen, darunter als früheste die hier näher betrachtete. Deren Titel sagt, was das Gemälde zeigt: Femme au chapeau – eine Frau mit Hut. Zugleich verdeutlicht der französische, von Picasso übernommene Titel, dass es weniger um die Darstellung einer Frau geht als vielmehr um die Darstellung eines bestimmten Gemäldes von Picasso. Lichtenstein selbst sprach davon, er hätte „einen Picasso“ gemacht. Doch kann man „einen Picasso“ machen, wenn man nicht Picasso ist? Das wäre ein Plagiat oder eben kein Picasso, sondern ein Lichtenstein. Und falls es doch möglich sein sollte, „einen Picasso“ zu machen, auch wenn man Lichtenstein ist – was wäre dieser Picasso mit unbestimmtem Artikel?
Bei den Cartoon-Picassos malte Lichtenstein nicht mehr wie in seinem Frühwerk à la Picasso, sondern kopierte dessen Gemälde unmittelbar, um es zugleich in die neu entdeckte Bildform zu transformieren. Er verleibte den Meister dem eigenen, anonymisierten, die Handschrift verbergenden Idiom ein – mit dem Ergebnis einer bizarren Engführung von Subjektivität und Unpersönlichkeit, Originalität und Klischee.
Die von Lichtenstein paraphrasierten Picassos, vorzugsweise Porträts Dora Maars, gelten für viele als die Picassos schlechthin. In ihnen führt er seine Kunst der Bildschöpfung als Gegenstandszerstörung zu einem Höhepunkt. Obwohl Picassos Maar-Porträts in ihrem Grundentwurf dem Kubismus verpflichtet bleiben, entfernen sie sich vom frühen Kubismus der 1910er Jahre deutlich. Insbesondere kehrt eine recht konventionelle Unterscheidung von Figur und Grund ins Bild zurück. Der Umraum der Figur spannt sich als einheitliche Fläche hinter der Figur auf und schiebt diese nach vorn, zugleich erfährt die Facettierung und Verformung der Figur durch den Umriss eine ästhetische Bändigung. Obschon das Bild aus flächigen Elementen aufgebaut ist, scheint es in einem tieferen Raum entworfen zu sein, als es später ausgeführt wurde. War die Flächigkeit im Kubismus der 1910er Jahre Ausgangspunkt der Darstellung, scheint sie hier wie ein Flachpressen auf die Figur appliziert zu sein.
Diese Eigenarten weisen Ähnlichkeiten zum Darstellungsverfahren von Cartoons auf, und tatsächlich bezeichnete Lichtenstein Picasso als einen Cartoonzeichner, dessen klischeehafte Formfindungen er in seinen Paraphrasen lediglich steigere. Mit Cartoons hat Picassos Spätkubismus gemeinsam, die Figuren klar zu umreißen, innerhalb der Umrisslinien möglichst nur eine Farbe zu verwenden und die einzelnen Farbflächen weitgehend unmoduliert zu lassen. Beide erzeugen Plastizität nicht durch illusionistische Schattierungen, sondern durch Überschneidung und Größenkontraste. Und beide vereinfachen das Darzustellende, etwa ein Auge, zu piktogramm-artigen Formeln.
Aufgrund dieser Schnittmenge ist in Lichtensteins Bild kaum zu bestimmen, wo der Picasso endet und der Cartoon beginnt; und ebenso ungreifbar ist, wo der Picasso endet und der Lichtenstein beginnt. Diese Unschärfen liegen nicht zuletzt daran, dass Lichtenstein Femme au chapeau nicht bloß in Cartoonform nachmalte, sondern Komposition und Farbigkeit modifizierte. Die farblichen Veränderungen und die schärfer gezogenen Linien erhöhen den Figur-Grund-Kontrast. Die Frau sitzt fester im Bildfeld, unter anderem weil die mittlere Hutspitze jetzt beinahe den oberen Bildrand berührt, auch das Ausziehen der Schleierlinie, die zum rechten Arm herunterfällt, wirkt stabilisierend. Der Oberkörper ist kräftiger, der rechte Arm reicht bis zum Bildrand, und die Schulter- und Dekolletee-Partie wird symmetrisch geglättet. Durch den größeren Oberkörper schließlich schiebt sich der Kopf nach oben, was zu einer Intensivierung des Blicks führt.
Insgesamt orientieren sich Lichtensteins Modifikationen an der Gestalt-Theorie, die eine Form nach ihrer raschen Erfassbarkeit beurteilt. Er überführte Picassos Gemälde folglich nicht nur in die Cartoonform, sondern verlieh ihm zugleich eine glatte Perfektion, so als sei es, wie Lichtenstein es formulierte, von einem technischen Zeichner hervorgebracht.

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Indem er an Picassos Gemälde alles Individuell-Malerische auslöschte, wirkt das Gemälde wie ein Bild ohne Ursprung. Damit offenbart sich die Ambivalenz von Lichtensteins Paraphrase. Einerseits entwertet sie Picasso zur billigen Stereotype. Andererseits löscht sie den individuellen Autor Picasso nur aus, um ihn als überindividuelle Autorität zurückkehren zu lassen. Konvention und Klassik seien, so Lichtenstein, dasselbe; doch sprächen wir von Konvention oder Klischee, sei es entwertend, sprächen wir hingegen von Klassik, sei es ein Kompliment. Nur wenigen Künstlern gelang es, ihre Sicht der Realität in eine so prägnante Darstellungsweise zu übersetzen, dass fast jeder sie vor dem inneren Auge abrufen kann. Dabei ist es gut möglich, dass das entstehende Vorstellungsbild eines Picassos etwa so aussieht wie die Picassos von Lichtenstein. Deren Pointe dürfte folglich weniger in der High-Low-Problematik oder in der Kommentierung von Walter Benjamins Thesen zur Reproduzierbarkeit der Kunst liegen, sondern im Ineinanderblenden von Individuellem und Allgemeinem. Lichtensteins Picassos stellen das Paradox eines Picassos dar, der erkannt wird, obschon kaum etwas an ihm Picasso ist, und der ausdrucksstark ist, ohne dass das, was zum Ausdruck kommt, sich bestimmen ließe. Lichtensteins Femme au chapeau ist ein Vexierbild – dem Vexiernamen ‚Picasso‘ ähnlich, der für ein unentwirrbares Knäuel aus Zuschreibungen und Eigenschaften, Mythos und Wirklichkeit steht.

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Je nachdem, worauf der Betrachter sein Augenmerk richtet, zeigen Lichtensteins Paraphrasen anderes: bald erscheinen sie als Analytik von Picassos Sicht- und Malweise, bald als Ausdruck von Lichtensteins Interesse an Zeichenprozessen, bald wiederum als der ungreifbare Punkt, wo die beiden heterogenen künstlerischen Ansätze sich treffen. Damit sind sie ein Musterbeispiel für jenen multiplen Sinn, der in der künstlerischen Rezeption von Kunst entsteht. Doch auch hinsichtlich der historischen und systematischen Varianz von Rezeptionsverhältnissen, auf die einleitend hingewiesen wurde, erzeugen Lichtensteins Picassos ein signifikantes Schillern der Aspekte. Sie sind zugleich bewundernde Aemulatio jenes Künstlers, den Lichtenstein als den größten und erfindungsreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts, ja vielleicht der Kunstgeschichte überhaupt, ansah, kühle Appropriation eines fremden künstlerischen Idioms, aber auch aggressive Attacke gegen jenen Übervater, der das eigene Werk über Jahre epigonal erscheinen ließ – eine Mehrdeutigkeit, die auf die komplexe Psychdynamik verweist, die bei der Auseinandersetzung von Künstlern mit der Kunst anderer im Spiel ist.

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Porträt Tradition Moderne Gegenwart Ähnlichkeit

Porträts wovon? als Druckversion (PDF mit Abb. 1.769 KB)

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Porträts wovon? Zum Wandel einer Kunstgattung in der Moderne

in: Interjekte, Online Publikationsreihe des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), hrsg. von Mona Körte und Judith Elisabeth Weiss, Berlin 2013.

[Abb. 1] Sozusagen als Motto meiner Ausführungen zur Gattung des Porträts bzw. zur Porträtkunst habe ich eine Arbeit von Robert Rauschenberg gewählt. 1961 plante die Pariser Galeristin Iris Clert eine Porträt-Ausstellung und lud Robert Rauschenberg, den amerikanischen Pop-Künstler, zu einem Beitrag ein. Dieser reagierte mit einem aus Stockholm geschickten Telegramm mit dem Inhalt: This is a portrait of Iris Clert if I say so – Robert Rauschenberg. Als Motto zeige ich die Arbeit deshalb, weil das Porträt im Laufe der Moderne und insbesondere im 20. Jahrhundert zu einer umstrittenen, ja in gewisser Hinsicht unmöglichen Gattung wird, und Rauschenbergs Telegramm nun zeigen kann, dass dieses Umstrittene zwei unterschiedliche Dimensionen hat: zum einen ist es der Streit über das, was als legitimes Porträt eines Menschen angesehen werden kann; zum anderen ist es der Streit darüber, was legitimerweise als ein Kunstwerk angesehen werden kann. Was den ersten Streit, denjenigen ums Porträt, betrifft, so haben auf die Frage nach dem angemessenen Bild des Menschen im Zuge der Moderne die Anthropologie, die Psychoanalyse, der Strukturalismus, aber beispielsweise auch die Ökonomie so mannigfaltige wie widersprüchliche Antworten gegeben – denen aber zumindest eines gemeinsam ist: die Auffassung, das Wesen eines Menschen sei gerade nicht über sein Äußeres zu erfassen, sondern müsse an anderer Stelle, sei es im Unbewussten, sei es in übergeordneten Strukturen, gesucht werden. Damit aber erodierte die entscheidende, über Jahrhunderte nicht bezweifelte Voraussetzung des Porträts, nämlich die Korrespondenz von physiognomischer Erscheinung und Persönlichkeit. Hinsichtlich des anderen Streit, demjenigen um die Legitimität oder Illegitimität einzelner Artefakte als Kunst, wurden im Zuge der Moderne ebenfalls ganz unterschiedliche Antworten gegeben, von den einzelnen künstlerischen Strömungen, von der Kunstwissenschaft, aber auch von der philosophischen Ästhetik. Und auch hier zeichnet sich in den divergierenden Auffassungen zumindest eine Gemeinsamkeit ab: die Auffassung, dass die Funktion des Repräsentierens oder bildlichen Darstellens für ein Kunstwerk überhaupt nicht zwingend ist. Etwas kann ein Kunstwerk sein, auch wenn es nichts zeigt – und auch dies, die Relativierung des Abbildparadigmas, ist natürlich für die Porträtkunst von einschneidender Bedeutung. Rauschenbergs witziger Telegramm-Beitrag zu Iris Clerts Porträtausstellung situiert sich am Kreuzungspunkt beider Offenheiten – sowohl der Offenheit, was ein Porträt sein kann, als auch der Offenheit, was ein Kunstwerk sein kann. Die Beantwortung beider Fragen wird von Rauschenberg radikal subjektiviert: Dies ist ein Porträt – und damit implizit ein Kunstwerk –, wenn ich es als ein solches bestimme – „if I say so“. Der Name Robert Rauschenberg, der unter diesem Satz steht, ist zugleich die Unterschrift unter dieses kunstprogrammatische Statement wie auch die Signatur eines Kunstwerks – mit der Folge, dass hier das Porträt und seine Verweigerung, das Kunstwerk und seine Negation ineinander aufgehen.
Setzungen wie diejenige Rauschenbergs machen im Rückblick deutlich, wie viele Voraussetzungen sich in dem bündelten, was wir als die große Tradition der Porträtkunst kennen, die sich zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert insbesondere in Europa entfaltete. Die lexikalische Bestimmung des Porträts ist einfach: Es handelt sich dabei um die bildliche Wiedergabe der körperlichen Erscheinung der Dargestellten, seien sie lebendig oder bereits verstorben, um in dieser Wiedergabe deren Persönlichkeit festzuhalten. Sie gründen auf der Abbildbeziehung des Gemäldes zu dem Menschen, der darin aufscheinen soll.
[Abb. 2] Dass auch in der Vormoderne das Porträt im Kreuzungspunkt beider Auffassungen stand – sowohl derjenigen, was ein Mensch sei, als auch derjenigen, was ein Kunstwerk sei, zeigt sich gerade im klassischen Porträt. Allerdings nicht so, dass sich die beiden Auffassungen wechselseitig unterlaufen wie bei Rauschenberg, sondern so, dass sie sich wechselseitig stützen. Die frühe Neuzeit begann, den Menschen als ein unverwechselbares, idealerweise in sich gerundetes Individuum zu begreifen – und diese Gerundete kann man bei Raffaels Castiglione wörtlich nehmen, wenn Sie darauf achten, wie das Bildnis aus lauter Kreisformen aufgebaut ist.
Zugleich entwickelte sich zur selben Zeit die Idee des autonomen Tafelbildes, das – und das meint der Begriff der Autonomie –, etwas zu zeigen vermag, das in sich stimmig und aus sich heraus verständlich sein sollte. Während das Gesicht eines Porträtierten aus überindividuellen Elementen besteht, die in der jeweiligen Physiognomie gleichwohl zu einer einmaligen und unwiederholbaren Konstellation zusammentreten, stellt das Tafelbild eine Darstellungsleistung dar, die durch Gesetze der Komposition, der Farbgebung und der inhaltlichen wie formalen Angemessenheit zwar stark reguliert war, innerhalb dieses Rahmens aber gleichwohl auf Singularität, auf ein so nur hier vorfindliches individuelles Gelingen, angelegt war. Und wenn das klassische Porträt in der Überzeugung entstand, im Äußeren eines Menschen spiegele sich sein Inneres, dann paart sich dies mit der Überzeugung, in der ästhetischen Organisation des Bildes spiegele sich der politische und soziale Organismus der Welt als ganzer. Die harmonischen Rundungen von Raffaels Castiglione beziehen sich auf beides: sie sind ebensosehr Erfassungen genau dieses Individuums als auch die Teilhabe dieses Bildnisses an übergreifenden Ordnungsvorstellungen.
[Abb. 3 u. 4] Eine analoge Korrespondenz zeigt sich auf metaphorischer Ebene. In der Gründungszeit des Tafelbildes setzte sich die Metapher durch, es sei ein „Fenster zur Welt“, zugleich finden wir die Metapher vom Auge als „Fenster zur Seele“. Den Zusammenhang der Metaphern finden wir bei Dürer, zum einen die Porträtierung vor einem Fensterausblick wie in seinem Selbstbildnis (Abb. 3), zum anderen die Fensterspiegelung im Auge wie im Porträt des Hieronymus Holzschuher (Abb. 4).
Der Fenstervergleich von Bild wie von Auge führt zu einer sinnfälligen Verschränkung von inneren und äußeren Räumen, zur Behauptung der Kontinuität über die jeweilige Schwelle hinweg. An all dem wird deutlich, wie fest und zugleich vielschichtig das traditionelle Porträt in einer bestimmten Idee der Repräsentation verankert war: Repräsentation – als Zeigen von etwas, das nicht nur für sich selbst, sondern zugleich für etwas anderes steht – ist sowohl ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der vormodernen Vorstellung des Individuums als auch der vormodernen Auffassung des Bildes.
[Abb. 5] Am Übergang zur Moderne hatte Hegel diese Verankerung der vormodernen Kunst in der Idee der Repräsentation in seinen Vorlesungen über die Ästhetik zwingend beschrieben. In den großen Themen der klassischen und der neuzeitlichen Kunst – im griechischen Helden, in der Gestalt Christi sowie im weltlichen Fürsten – erkannte Hegel die Vermittlung des Individuellen mit dem Allgemeinen, und zwar in Gestalt eines sinnlichen und zugleich übersinnlichen Körpers. Der Körper des Helden, des Gottessohnes und des Fürsten stellten, in je unterschiedlicher Weise, eine Konkretwerdung des Absoluten dar. Gerade dadurch wurden sie zum privilegierten Thema der Kunst, deren Leistung für Hegel ebenfalls, genau analog zur Leistung dieser sinnlich-übersinnlichen Körper, in der sinnlichen Vergegenwärtigung ideeller Grundüberzeugungen bestand. Velázquez’ Las meninas zeigt genau diesen Repräsentationszusammenhang, der hier sozusagen im Augenblick seiner Verfertigung gezeigt wird – als Ineinanderschachtelung von – erstens – künstlerischer Repräsentation – Velázquez malt auf jenem rückseitig gesehenen Riesenbild das Doppelporträt des spanischen Herrscherpaars, das wir im Spiegel im Hintergrund sehen –, zweitens höfischer Repräsentation – die Prinzessin und Thronfolgerin zeigt sich inmitten ihres Hofstaates – und schließlich drittens staatlich-juristische Repräsentation – insofern als Velázquez’ Bild die dynastische Erbfolge inszeniert, d.h. den die einzelnen Repräsentanten übergreifenden Zusammenhang des Königtums. Michel Foucault hat diese Facetten des Repräsentationsbegriffs, der hier ins Spiel kommt, in seiner berühmten Deutung des Bildes in einer zwingenden Deutung dargelegt.
Für unseren Zusammenhang des Porträts ist daran wichtig, dass hier ein Zusammenhang deutlich wird, der die neuzeitliche europäische Porträtkunst sozusagen physisch-metaphysisch stabilisierte: nämlich der ebenso plastische wie ungreifbare Zusammenhang zwischen dem leiblichen Körper des Dargestellten und dem materiellen Bildkörper. Hegel umreißt diesen Repräsentationszusammenhang allerdings nur, um zu beschreiben, wie er in seiner eigenen Gegenwart, also am Beginn der Moderne, zerfällt. In der Zeit um 1800 begannen, so Hegels Diagnose, das Allgemeine und das Individuelle, also jene beiden Dimensionen jener Körper, die bei Velázquez auftreten, auseinanderzutreten. Ersteres, das Allgemeine wurde zum abstrakten Gesetz – sei es im Verfassungsstaat, sei es in der Wissenschaft –, letzteres, das Individuelle, partikularisierte sich zur jeweiligen Subjektivität von Gemüt und Charakter, die keine überpersonale Gültigkeit mehr beanspruchen kann. Die Vermittlung, die sich in jenen neuzeitlichen Körpern – der Dargestellten und des Bildes – vollzogen hatte, brach entzwei. Damit verlor die Kunst, so Hegel, nicht nur den zu vermittelnden Gegenstand; zugleich wurde ihre im künstlerischen Medium angelegte Vermittlungsleistung selbst in Frage gestellt – woraus Hegel ja den berühmten Schluss zog, die Kunst sei, gemessen an dieser einstmaligen Bestimmung, ein nun Vergangenes.
Diese Vergangenheitsform zeichnet seither auch das Porträt aus. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Porträtgeschichte, dass genau dann, als der Mensch seine bürgerlichen Rechte erwirbt, sich demokratische Verfassungen durchzusetzen beginnen, der Idee der Gleichheit unter den Menschen propagiert wird, der Mensch also im juristischen Sinne zum autonomen Subjekt wird, die Porträtkunst in eine Krise gerät, aus der sie sich nie mehr erholen sollte; wenn Hegels Diagnose eines Vergangenseins der Kunst überhaupt Geltung hat, dann für das Porträt, das in der Moderne seine ehedem einzigartige Rolle für die Bestimmung des Menschen einbüßt. Die Art und Weise, wie Hegel sein Argument anlegt, enthüllt dabei einen der Gründe, warum dem so war. Es war eine zutiefst aristokratische, aufs exemplarische, auf besonders bildwürdige Individuum ausgerichtete Kunst, und gerade nicht eine, die von den Ideen der Gleichheit der Menschen lebte.
[Abb. 6] Nicht nur das moderne Ende der Kunst wurde verkündet, sondern auch das moderne Ende des Menschen, ersteres wie erwähnt durch Hegel, letzteres unter anderem durch den ebenfalls bereits genannten Michel Foucault, der dasselbe Buch, das er mit seiner Deutung von Velázquez’ Meninas beginnt, mit jenem berühmten Satz beschließt, demzufolge der Mensch in der Moderne verschwinde „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Die neuen Leitwissenschaften, die Foucault unter anderem in der Sprachwissenschaft und in der Psychoanalyse erblickte, festigten weniger das Bild des Menschen, als dass sie, so Foucault, dessen Grenzen erkundeten. Sie fragten nach den Gesetzen, denen er unterworfen sei, und den Strukturen, die durch ihn sprächen. Die Moderne entdeckte das Individuum – was ja wörtlich ‚das Unteilbare‘ heißt – als Kompositum verschiedener Schichten, die in komplexer, nie ganz aufhellbarer Weise zusammenwirken, sowie als dynamisches Prozesswesen, dessen Selbst- und Fremdwahrnehmung beständigen Wandlungen unterworfen ist.
Dennoch verschwindet das Porträt in der Moderne keineswegs. Im Gegenteil: Nachdem im 19. Jahrhundert die technische Bildproduktion aufkam und im 20. Jahrhundert die Möglichkeit massenmedialer Kommunikation hinzutrat, wurde das Bild des Menschen sogar in einer Weise zugänglich, billig zu haben, ja, inflationär, dass der Mensch zuweilen hinter seinen Bildern zu verschwinden droht. Was den engeren Fall des künstlerischen Porträts betrifft, so lässt sich beobachten, wie seither die verschiedenen Elemente, die in der klassischen Repräsentation so überaus kunstvoll ineinandergeflochten waren, sich verselbständigen, um sich in je besonderer Weise zu äußerst singulären Lösungen zu konstellieren. Denn was ein Bild respektive ein Kunstwerk sein kann, multipliziert sich in der Moderne in ebenso dramatischer Weise wie die Auffassungen, was der Mensch sei und woran sich seine Eigenart festmachen lasse. Entsprechend unberechenbar wird die Gattung des Porträts, die beides – die Variabilität des Bildes und die Variabilität des Menschen – in ein je besonderes Mischungsverhältnis bringt – sozusagen als Lösung einer Formel mit zwei Unbekannten. Mit diesem dynamisierten und entgrenzten Subjekt- und Kunstbegriff ist das offene Feld einer Porträtkunst jenseits des klassisch repräsentierenden Bildnisses markiert. Sobald offensichtlich wurde, dass das Subjekt in seinen körperlichen Repräsentationen nicht aufgeht, sondern beides vielmehr in einem permanenten Spannungsverhältnis zueinander steht, wandelte sich das Porträt von einem Medium der individuellen wie zugleich gesellschaftlichen Konsolidierung des Subjekts zu einem Medium der Suche nach ebendiesem Subjekt, wobei sich in den einzelnen Ergebnissen gar nicht trennen lässt, wo die Reflexion auf den Menschen in die Reflexion aufs Medium der Kunst übergeht, so wie wir dies bereits an Robert Rauschenbergs Telegramm sehen konnten. Dass die stabilen Relationen, welche die klassische Porträtkunst regulierten, fehlen, wird jetzt zum produktiven Prinzip, das immer neue Porträtverfahren hervorbringt, in der sich der Mensch aber eher in den Formen seines Verschwindens anzeigt. Bestimmte das klassische Porträt den Platz des Individuums, indem es ihm einen Körper und ein Gesicht gab, vergegenwärtigt die Porträts der Moderne diesen Platz als unbestimmbar, ja vielleicht sogar als leer.
Es ist eine Unbestimmtheit oder gar Leere, wie sie in hintergründiger Weise hier, bei diesem Porträt von Andy Warhol aufblitzt, wenn er die Dargestellte, eine neureiche Unternehmersgattin und Kunstsammlerin im damaligen New York, im Spiel ihrer Selbst-Performanz festhält – wobei das Hintergründige des Porträts dadurch zustande kommt, dass Warhol bestimmte der Passbild-Aufnahmen wiederholt. Tatsächlich verwendete Warhol für die 36 Tafeln von Ethel Scull lediglich 25 Fotografien sowie 25 Farben. Die Wiederholungen werden aber dadurch maskiert, dass die Motive teils seitenverkehrt, immer aber auf anderem farblichen Grund auftreten. Die Selbstperformanz der Dargestellten wird in ein subtiles Spiel von Variation und Stereotypie einzelner Gesten verwandelt, die die Vitalität der Porträtierten zu untergraben beginnt.
Ein paar weitere Beispiele seien angetippt, wobei ich mich insbesondere dem Zeitraum ab ca. 1960 zuwenden werde. Die Beispiele können dabei die Fülle des Möglichen keinesfalls repräsentieren, sondern sie lediglich andeuten. Denn im Unterschied zur älteren Porträtkunst, die, bei aller Unterschiedlichkeit, durch das paradigmatische Begriffsdreieck von Körper, Organismus und Repräsentation gerahmt wird, fehlt dem Porträt der Moderne ein solcher paradigmatischer Rahmen – weswegen nurmehr Singularitäten ohne Oberbegriff verbleiben.
[Abb. 7] Ich fange mit einem Beispiel an, das wie Warhol auf Abbildähnlichkeit setzt, diese Abbildähnlichkeit, die übrigens auch hier fotografisch realisiert wurde, zugleich aber problematisiert. Ruff verfremdet die identifizierende Porträtfoto-Ästhetik dadurch, dass er sie auf ein sehr großes Format hochzieht – zu technisch-medial perfekt aufgelösten Gesichtern. Ruffs Werktitel markieren jeweils, dass es sich bei dem Bild um ein Porträt handelt, zugleich wird deutlich gesagt, wer dies ist – hier also: Anna Giese. Durch die Einklammerung des Namens wird jedoch gerade der Zusammenhang zwischen dem Bild als Porträt und dieser bestimmten Person in Frage gestellt, zumindest relativiert, durch die Einklammerung unterbrochen – so als wäre Vorsicht angezeigt, dieses Bild tatsächlich als Porträt von Anna Giese zu verstehen, in jenem vollen Sinne, wie er durch die Gattungstradition bestimmt war. Tatsächlich verschmelzen hier, um es mit französischen Begriffen zu sagen, „face“ und „effacement“, die Sichtbarkeit des Gesichtes und die Auslöschung der Person. In diesem Gesicht, gerade weil es uns in allen Details zugänglich ist, können wir auf paradoxe Weise kaum lesen, bei voller Beleuchtung kippt es ins Opake. Und so ist es vielleicht auch nicht zufällig, dass in den Augen der von Ruff porträtierten Menschen nicht wie bei Dürer kleine Fenster sich spiegeln, die die Öffnung in einen anderen Raum anzeigen, sondern lediglich die Blitzlichtschirme, die auf das fotografische Dispositiv zurückverweisen.
[Abb. 8] Das Ähnlichkeitsparadigma von Bild und Abgebildetem wird auch von Julian Opie ins Spiel gebracht – allerdings in ganz anderer, geradezu umgekehrter Weise, nämlich in einer, die an der Problematik visueller Zeichen interessiert ist, indem Opie die Frage aufzuwerfen scheint, wie weit ich diese Zeichen reduzieren kann, ohne die Porträtfunktion zu verspielen. Wenn das Verstehen visueller Zeichen bedeutet, ‚etwas als etwas’ zu erkennen, dann dehnen Opies Porträts jene Operation des ‚Sehens-als‘ bis zu dem Punkt, wo es als Vorgang sichtbar wird. Die Zeichen werden dafür nicht nur quantitativ reduziert, sondern auch anonymisiert, sodass der Umschlag in ein Auge oder in einen Mund, sondern mehr noch, in das Auge und den Mund eines bestimmten Menschen, überraschend ist – überraschend, weil wir auf die Stellen, an denen die unpersönlichen Bildzeichen ins Singuläre eines bestimmten Gesichts umschlagen, nicht zeigen können. Da sich das Gesicht von den Zeichen, aus denen es besteht, allerdings nicht emanzipieren kann, wird der Kippeffekt auf Dauer gestellt und dem Betrachter seine Deutungsaktivität, dies als ein Porträt anzusehen, zu Bewusstsein gebracht. Denn aus den unterschiedlichen Zeichen bildet sich nur dann ein Porträt heraus, wenn der Betrachter sie im in entsprechender Weise für ‚bedeutend‘ hält – beispielsweise jene schwarzen Punkte als ein Auge, ja, als ein ganz bestimmtes Auge, auffasst, obschon sie diese Bestimmtheit eigentlich nicht aufweisen.
[Abb. 9] Bei Felix Gonzalez-Torres kehren wir zum Feld jener antlitzlosen und unähnlichen Porträts zurück, in dem wir uns bereits mit Rauschenberg Telegramm befanden. Bei Gonzalez-Torres’ Porträt handelt es sich um einen Bonbonhaufen, der zum Mitnehmen und Lutschen der Bonbons einlädt und damit mit seiner potenziellen Auflösung, zumindest seiner Schrumpfung, spielt, womit metaphorisch auch der gemeinte Mensch schrumpft, während er sich in die lutschenden Menschen hinein zerstreut. Das Bildnis wird, in Verkehrung seiner ehemaligen Gedenkfunktion, die Dargestellten über ihren Tod hinaus präsent zu halten, zum Sinnbild eines Verschwindens, das es an sich selbst vollzieht. Und doch ist das Porträt bei Gonzalez-Torres auch ein Sinnbild des Überdauerns. Die Ähnlichkeit zwischen dem Dargestellten und dem Bild liegt hier nämlich nicht in einer formalen Ähnlichkeit beider, sondern im Gewicht. Untitled (Portrait of Marcel Brient) hat ein Idealgewicht von 90 Kilogramm, das dem Gewicht des Dargestellten entspricht – ein Gewicht, das vom Besitzer der Arbeit, der in diesem Fall der Porträtierte selbst ist, immer wieder durch das Hinzufügen neuer Bonbons zu halten ist, sodass Gonzalez-Torres’ Porträt ebenso mit der Zeit spielt wird wie mit der Aufhebung der Zeit.
[Abb. 10] Das Motiv der Hineinnahme eines Körpers in einen anderen, das durch den Verzehr der Bonbons virulent wird, gewinnt in Untitled (Lover Boys) eine weitere Dimension. Es handelt sich um eine überraschende Neudeutung der alten Gattung des Doppelporträts als Porträt zweier Liebender. Untitled (Lover Boys) ist das Selbstbildnis des Künstlers zusammen mit seinem Partner Ross Laycock. Das für die Arbeit vorgeschriebene Idealgewicht von 161 Kilogramm addiert das Körpergewicht beider, und da es auch nur eine Bonbon-Sorte für beide gibt, werden die beiden Körper vollständig ineinander entgrenzt.
[Abb. 11 u. 12] Mit einer letzten Porträtvariante möchte ich schließen. Das klassische Porträt war ikonisch grundiert, d.h. es basierte auf der visuellen Ähnlichkeit zwischen dem Dargestellten und dem Bild. Bei Armans Portrait-robots – das französische Wort für Phantombilder –, begegnen wir Werken, die die versammelnde Mitte eines Körper-Ichs aussparen und das Subjekt sozusagen von seiner Peripherie her zu begreifen suchen. Der Körper wird zu einem Plexiglas-Kasten, der in der Höhe die Maße des Porträtierten besitzt, und der verschiedene, in Kunstharz eingegossene Gegenstände des Gemeinten, des Fotografen Charles Wilp, enthält. Inneres und Äußeres werden seltsam verkehrt, indem der Körper des Dargestellten, für den der Kasten einsteht, mit Dingen gefüllt ist, die eigentlich außerhalb dieses Körpers waren: mit seinen Kleindern, Arbeitsutensilien und diversen Abfällen. Das Band, das das Porträt mit dem Gemeinten verbindet, ist nicht ikonisch, es basiert nicht auf Ähnlichkeit, sondern ist indexikalisch: Es versammelt jene Spuren, die der Dargestellte in der Dingwelt hinterließ, als er mit diesen Dingen umging. Wie immer bei indexikalischen Zeichen schlagen Abwesenheit und Anwesenheit ineinander um. Einerseits gewinnt das Porträt eine unmittelbare, ja existenzielle Dimension, da die gezeigten Objekte die wirkliche Existenz dessen, der darin seine Spur hinterließ, bezeugen, ähnlich wie es Reliquien tun. Andererseits ist dieses Leben in seinen Spuren gerade nicht mehr präsent, vielmehr wird es durch die Präsentation seiner Reste ebenso verdinglicht wie banalisiert.
[Abb. 13] Eine etwas andere Variante dieses indexikalischen Verfahrens finden wir in Hans-Peter Feldmanns Alle Kleider einer Frau. Was Arman zu einem Containter-Block verdichtet, breitet Feldmann aus. Das Bildnis – als das eine charakteristische Bild eines Menschen – vermehrt sich zu einer Bilder-Folge, in die sich das Subjekt zerstreut – in insgesamt 70 Fotografien – von denen Sie hier 11 sehen –, die 70 Mal den Körper jener Person evozieren, die diese Kleider trägt oder getragen hat. Zugleich wird die totalisierende Angabe, es handle sich um alle Kleider einer Frau, von der Anonymität ebendieser Frau konterkariert, die lediglich mit unbestimmtem Artikel, als ›eine‹ Frau, benannt wird. Die Gemeinte dieses Porträts wird zu einer imaginären Größe, die wir aus den textilen Signifikanten eines Lebens zusammenlesen müssen, ohne es zu können. Das Porträt, als Bild eines Menschen, verlässt das Kunstwerk und siedelt sich neu an, irgendwo zwischen der Abbildung jener Kleider und der Einbildung der Betrachter.
Alle diese verstreuten Beispiele, die ich Ihnen hier zeigte, erweisen den Menschen als weder festgestellt noch feststellbar. Diese Porträts, die ihre eigene Gattung fortlaufend auf die Probe stellen, erzeugen einen paradoxen Raum, in dem stets etwas fehlt oder unsichtbar bleibt. Die Selbstspiegelung des Subjekts im Bild wird verunmöglicht, verweigert, zumindest irritiert. Umkreist wird ein Gemeintes, das stets verschwindet oder sich zerstreut, aber nicht, weil es dieses Gemeinte, diesen Menschen, nicht gäbe, sondern weil er sich nicht verbildlichen lässt. Diese eigentümliche Bildlosigkeit des Menschen ist die untergründige Dynamik des modernen Porträts, das versucht, dem Menschen wenigstens indirekt ein Minimum an Substanz zu verschaffen.

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Porträts wovon? als Druckversion (PDF mit Abb. 1.769 KB)

Manet Porträt Kinderbildnis Blick Schwelle

Auf der Schwelle der Zeit als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 122 KB)

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Auf der Schwelle der Zeit
(Édouard Manet: Kinderbildnis, 1862)

in: Unter vier Augen. Sprachen des Porträts, Ausstellungskatalog Staatliche
Kunsthalle Karlsruhe, Bielefeld/Berlin 2013, S. 258-263.

„Es ist möglich, dass Ernest heute noch lebt: doch wo? wie? welch ein Roman!“ Mit diesen Worten begleitet Roland Barthes in seinem Fotografie-Essay Die helle Kammer André Kertész’ Bild eines kleinen Jungen, der uns direkt in die Augen sieht. Bei allen Unterschieden zwischen Fotografie und Malerei sowie dem Unterschied, dass der von Manet porträtierte Junge heute keinesfalls mehr lebt – Barthes’ Kommentar zu Kertész’ Bild erfasst in prägnanter Weise auch die Anmutung von Manets Porträt. Denn Barthes’ Emphase ist die Reaktion auf den rückhaltlosen Blick, der uns über den Abgrund von Raum und Zeit hinweg trifft, und an dem entscheidend ist, dass es derjenige eines Kindes ist. Aus der Vergangenheit erreicht uns ein Blick, der in die Zukunft gerichtet ist – eine Zukunft, die nicht nur der Betrachter des Bildes, sondern auch das Kind nicht kennt.
Wer ist das von Manet gemalte Kind? Auf die Spur seiner Identität führt die Widmung, die das Gemälde einer Mme h. (?) Lange zueignet. Sie legt nahe, im Dargestellten den Sohn jener adressierten Mme Lange zu erkennen, und tatsächlich verkehrten die Manets mit einer Familie dieses Namens. Der Vater des Kindes wäre demnach Daniel Adolphus Lange, ein Mitglied der Kommission, die den Bau des Suezkanals vorantrieb. Genaueres ließ sich trotz Recherchen nicht in Erfahrung bringen, noch nicht einmal, um welchen der Lange-Söhne es sich handelt. Diese biografische Ungewissheit erschwert auch die Datierung des Gemäldes, das nun aufgrund stilistischer Argumente den frühen 1860er Jahren zugeordnet wird. Der eminente Rang von Manets Porträt folgt also nicht aus der Prominenz des Jungen, sondern allein aus der stupenden Qualität des Gemäldes selbst.
Den vielleicht fünfjährigen Jungen malte Manet in Lebensgröße, was das Bildnis zugleich monumental und klein erscheinen lässt. Breitbeinig, den vorderen Arm leicht angewinkelt, steht er in der Mitte des Bildes. Bei strikt frontaler Ausrichtung von Füßen und Kopf hat er die Hüfte und den Oberkörper geringfügig ins Dreiviertelprofil weggedreht, was dem ruhigen Stehen Spannung und dem flächigen Körper eine gewisse Raumtiefe verleiht. Bekleidet ist er mit einem graubraunen, ins Grüne spielenden Anzug aus Kniebundhose und Paletot, kombiniert mit hohen grauen Gamaschen. Der schwere Stoff umhüllt den kleinen Körper so vollständig, dass er als Physiognomie darunter verschwindet. Die Farben der Kleidung kehren wieder in den leicht gewellten Haaren, die die Symmetrie der ernsten Gesichtszüge zumindest ein wenig auflockern. Dasselbe Farbspektrum, in ein helleres Braun gewendet, behält Manet auch für den Umraum bei, womit die nebelschwadengleiche Umgebung zum Echoraum des Jungen wird – ein Effekt, den die helle Zone hinter dem Kopf des Jungen noch verstärkt. In der Kopfpartie steigern sich die Kontraste. Dem weißen Hemdkragen antwortet ein aureolenartiger Hut aus einem Schwarz, das Manet wie eine strahlende Farbe zu inszenieren weiß und das auch die großen Augen des Jungen leuchten lässt. Im Gesicht mit seinen großen Ohren, das plastischer ausgearbeitet ist als jede andere Stelle im Bild, findet sich endlich auch ein Anflug von Buntwerten, mit denen Manet ansonsten geizt. Lediglich das ziegelrote Zaumzeug, das der Junge unschlüssig in der Hand hält, als hätte er vergessen, weswegen er es bei sich trägt, bringt einen zweiten Farbakzent ins Bild, der mit den Rosatönen des Gesichts konkurrieren kann.
Manets Porträt prägt eine auf verschiedenen Ebenen sich aufbauende Spannung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Da ist zunächst die unebenmäßige malerische Ausführung. Zwischen der Präzision der Augenpartie und dem lediglich Hingeworfenen der Gamaschen, des Zaumzeugs oder der fast hinter die Hüfte zurückgezogenen Hand klaffen Unterschiede, als gehöre das alles nicht zu derselben Figur. Bestimmt-unbestimmt ist weiterhin die Art und Weise, wie der Junge vor uns tritt. So selbstbewusst die eingenommene Haltung ist, so offen bleibt der Ort, an dem sich sein Auftritt vollzieht. Manet löst die Figur aus jedem Zusammenhang, sodass wir nicht einmal sagen können, ob sie sich in einem Innen- oder Außenraum aufhält, ja selbst die Standfläche ist durch den fleckartigen Schattenwurf lediglich vage markiert. In diesem Nicht-Raum ist der Junge so weit nach vorne getreten, dass es insbesondere in der oberen Bildhälfte so wirkt, als stünde er weniger im als vielmehr vor dem Bild. Einen solchen Ort gibt es nur in der Malerei – womit eine der Differenzen zu Kertész’ Bild benannt ist: Le petit Lange steht auf der Schwelle zwischen Bildraum und Betrachterraum, keinem der beiden Räume ganz zugehörig. Sein Standort bleibt genauso unfassbar wie die Oberfläche des Gemäldes selbst. Für diese gilt ebenfalls, weder zum Bildraum noch zum Raum des Betrachters zu gehören, sondern jene ungreifbare Grenze zu sein, an der beide sich berühren. Die Grenze zwischen Bildraum und Betrachterraum, auf der sich der Junge aufhält, wird von Manet dadurch akzentuiert, dass sie von beiden Seiten her überschritten wird. Aus dem Bild heraus führt der Blick des Jungen; ins Bild hinein indes führt das Licht, das den Jungen frontal aus jenem Raum heraus beleuchtet, in dem der Betrachter steht – so als sei es, wie Michel Foucault die Parallelität von Betrachterblick und Lichtführung auf den Punkt brachte, der Blick des Betrachters, der die Figur beleuchte.
Zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit aber schillert insbesondere dasjenige, worauf in Manets Gemälde alles zuläuft: der Blick. Dieser ist ebenso unverwandt wie unfokussiert – was auch daran liegt, dass die Sehachsen der beiden Augen leicht voneinander abweichen. Worauf ist er gerichtet? Die Antwort, es sei der ihn porträtierende Maler, relativiert sich durch seine Stummheit, die nicht auf eine Interaktion zwischen zwei Menschen hindeuten will. Ebenso plausibel wäre zu sagen, dieser Blick richte sich gar nicht auf ein Äußeres, sondern sei vielmehr nach innen gerichtet. Der Umraum wird nicht nur aufgrund der Farben und der Valeurs zum Echoraum des Jungen; in seiner Untiefe hallt auch das Unauslotbare dieses Blicks wider. Und während Manets Bildraum in seinen Dimensionen vage bleibt, dehnt sich der Augenblick, in dem der Junge erfasst ist, zu unbestimmter Dauer. Das füllige Gesicht und die herausfordernde Haltung lassen jedoch keinen Zweifel an der Lebendigkeit dieses Jungen aufkommen, was sich auf die Art und Weise auswirkt, wie diese Abwesenheit vom Hier und Jetzt erscheint. In ihr manifestiert sich keine Blässe oder Schwäche, sondern Eigensinnigkeit. Le petit Lange ist nicht ganz ‚da‘, weil er ganz bei sich ist.
Viele der von Manet gemalten Menschen treten in einer vergleichbaren Weise vor uns. Doch bei einem Kind gewinnt diese mehrfache – räumliche, zeitliche und psychische – Schwellensituation einen besonderen Charakter. Im Blick der Erwachsenen scheinen Kinder ganz in der Gegenwart aufzugehen und dennoch im Licht einer Zukunft zu stehen, auf die sie gerichtet sind. Diese Zukunft, in die Le petit Lange blickt und von der her er beleuchtet wird, liegt außerhalb dessen, was das Bild uns zu sehen gibt. Was ist aus dem Jungen geworden? Welches Leben hat er geführt? Welch ein Roman!

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Unverfügbares Kunst Bildfläche Bildordnung Unsichtbarkeit

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Drei Dimensionen des Unverfügbaren im künstlerischen Bild

in: Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung, hrsg. von Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch und Daniel Tyradellis, Zürich/Berlin 2013, S. 211-228.

Schluss

Abschließend sei angedeutet, wie die drei Dimensionen des Unverfügbaren ineinanderspielen. Denn da es sich um Dimensionen eines je einzigen Kunstwerks handelt, sind sie notwendig miteinander verwoben. So verbinden sich beispielsweise Bildfläche und Bildordnung darin, dass die Bildfläche den notwendigen Rahmen bereitstellt, damit sich eine Bildordnung etablieren kann, während umgekehrt die Bildordnung garantiert, dass die Rahmensetzung dem Gezeigten gegenüber nicht bloß äußerlich bleibt, sondern zum Teil seiner Form wird. Bildfläche und Bildordnung stützen sich wechselseitig – was zur Folge hat, dass die Unverfügbarkeit des einen diejenige des anderen zwingend nach sich zieht. Bildfläche und Unsichtbarkeit des Bildes wiederum verschränken sich, um ein anderes Beispiel zu geben, darin, dass die Bildfläche nicht nur jene ›Naht‹ ist, wo die Betrachterrealität und die Bildfiktion sich ›berühren‹, sondern auch jenes ›Zwischen‹, das als ›image‹ einen Durchblick eröffnet und ihn als intransparenter ›écran‹ zugleich blockiert. Als ungreifbar erweisen sich dabei nicht nur diese jeweils unterschiedlichen Aspekte der Bildfläche selbst, sondern genauso auch der Punkt, wo sie ineinander umschlagen. Nicht zuletzt aufgrund dieser unklaren Übergänge zwischen dem hier einzeln und nacheinander Analysierten stößt die Absicht, das Unverfügbare des künstlerischen Bildes möglichst genau zu bestimmen, an jene Grenze, auf die sie notwendig trifft, sofern das Unverfügbare zur Substanz von Kunstwerken gehören soll.

Einleitung
Kapitel I: Die Bildfläche
Kapitel II: Die Bildordnung
Kapitel III: Das Unsichtbare im Bild
Punkt Schluss
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Unverfügbares Bild Sichtbarkeit Wiesing Lacan

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Drei Dimensionen des Unverfügbaren im künstlerischen Bild

in: Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung, hrsg. von Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch und Daniel Tyradellis, Zürich/Berlin 2013, S. 211-228.

Kapitel 3: Das Unsichtbare im Bild

Ebenso wie das Vorhandensein einer Bildfläche gehört auch die Sichtbarkeit zu den unbezweifelbaren Eigenschaften eines Kunstwerks. Aus phänomenologischer Perspektive ist die Sichtbarkeit des Bildes – wie in jüngerer Zeit Lambert Wiesing herausgearbeitet hat – sogar dessen mediales Alleinstellungsmerkmal. Sichtbarkeit ist der Modus, in den das Bild dasjenige, was es zeigt, überführt, unter Preisgabe aller anderen Eigenschaften, beispielsweise Materialität oder Geruch. Während Sichtbarkeit normalerweise keine substanzielle, sondern eine den Dingen bloß ›anhängende‹ Eigenschaft ist, wird sie im Bild zu einer eigenständigen Form des Seins. Das Bild zeichnet sich nach Wiesing durch ›reine Sichtbarkeit‹ aus, wobei sich das Attribut der ›Reinheit‹ sowohl darauf bezieht, dass vom Ding hier nur seine Sichtbarkeit berücksichtigt wird, als auch darauf, dass das Ding zwar zu sehen, jedoch als solches abwesend ist.
Wiesing wurde häufiger vorgeworfen, eine auf ›Sichtbarkeit‹ fokussierte Bildtheorie verkenne andere Bildaspekte, die insbesondere im Falle von Kunstwerken gleichermaßen wesentlich seien, beispielsweise deren Materialität, Bedeutungshaftigkeit oder Historizität. Meine Infragestellung von Wiesings Argument ist anderer Art. Das bildtheoretische Definiens der ›Sichtbarkeit‹ relativiere ich nicht mit dem Hinweis auf andere substanzielle Aspekte künstlerischer Bilder. Vielmehr möchte ich zeigen, dass beim künstlerischen Bild die ›reine Sichtbarkeit‹ selbst unterminiert wird. Erneut geht es mir darum, auf ein Unverfügbares inmitten des Verfügbaren, auf eine inhärente Negativität hinzuweisen, und das heißt in diesem Falle, auf das Unsichtbare im Sichtbaren. Dieses Unsichtbare wird akut, sobald wir nicht die begriffliche Bestimmung von Bildlichkeit, sondern die konkrete Erfahrung von Kunstwerken ins Auge fassen.
Zwei unscheinbar wirkende Bemerkungen können uns auf die Spur des Gemeinten führen. Die erste stammt von Walter Benjamin, der in der Einbahnstraße notiert, der Ausdruck der Menschen, die sich in Gemäldegalerien bewegten, zeige eine schlecht verhehlte Enttäuschung darüber, dass dort nur Bilder hingen. Benjamins Bemerkung lässt sich in zweierlei Hinsicht deuten. Die Enttäuschung kann darin gründen, dass die ›Sichtbarkeit‹ der Bilder notwendig mit der Abwesenheit dessen verknüpft ist, was sie zeigen. Sie kann aber ebensogut daraus resultieren, dass die Bilder gerade dies und nichts anderes zeigen. Die zweite Bemerkung fällt im Zusammenhang einer Studie von Louis Marin über das Verhältnis von Bild und Betrachter. Marin spricht hier vom rätselhaften Tausch-Zeremoniell, das sich vollziehe, wenn ein Galeriegänger scheinbar grundlos vor einem Bild stehenbleibe und es betrachte. Benjamin und Marin lenken den Blick von der phänomenologischen Bestimmung von Bildlichkeit auf die kommunikative Situation, die in Kunstwerken angelegt ist. Sie sind Orte eines Austauschs, wo sich die Absicht des Betrachters, etwas zu sehen, mit der künstlerischen Absicht kreuzt, etwas zu zeigen. Und genau im Augenblick dieses Kreuzens von Sehenwollen und Zeigenwollen wird das Moment des Unsichtbaren virulent.
Eine erste Manifestation dieses Unsichtbaren kam bereits im Zuge der Betrachtung von Manets Balcon ins Spiel. Die ›Begegnung‹ von Bild und Betrachter wird im Balcon entscheidend dadurch geprägt, dass wir in Augen blicken, auf etwas schauen, was uns verborgen bleibt. Inmitten des Sichtbaren klafft ein Mangel: die Unsichtbarkeit dessen, was die Figuren sehen. Worauf ihr Blick ruht, liegt unsichtbar in unserem Rücken. Es ließe sich nur erkennen, wenn wir die Seite wechseln und die Welt aus der Perspektive der Bildfiguren betrachten könnten. Da dies unmöglich ist, wird das Sichtbare vom Unsichtbaren gleichsam ›durchlöchert‹.
Diese Durchdringung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ereignet sich nicht nur im singulären Fall des Balcon, sondern in all jenen ›transitiven‹ Bildern, in denen sich das Bildgeschehen zwischen einem Pol innerhalb des Bildes und einem Pol außerhalb des Bildes entfaltetet, beispielsweise in einer Darstellung Christi unter den Schriftgelehrten, bei der Christus weniger die Schriftgelehrten als vielmehr den Betrachter zu lehren scheint, oder bei einem Verkündigungsbild, in dem wir die vom Engel angesprochene Maria frontal erblicken, nicht aber den Engel, der sozusagen neben dem Betrachter stehend zu imaginieren ist. Das Sujet ist hier jeweils darauf angelegt, sich diesseits des Bildes, im Raum des Betrachters, zu vollenden – eine Vollendung, die aufgrund des Fehlens eines Pols nicht gelingen kann. Das Bildgeschehen nimmt die Form einer Ellipse an, deren Brennpunkte ›Sichtbarkeit‹ und ›Unsichtbarkeit‹ sind.
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verschränken sich in Kunstwerken jedoch nicht allein aufgrund gewisser Bildsujets, sondern in einer allgemeineren, vom jeweiligen Sujet unabhängigen Art und Weise, und es ist zweifellos jenes Allgemeinere, das Benjamin und Marin im Blick haben, wenn sie den Austausch zwischen Bild und Betrachter als eigentümlich grundlos und rätselhaft sowie von Enttäuschung durchzogen bestimmen. Um diesem Allgemeineren näher zu kommen, ziehe ich, ähnlich wie im vorherigen Abschnitt Wittgenstein, erneut eine Autorität zu Rate. Diesmal ist es Jacques Lacan, der in seinem Seminar über die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse einige für unseren Zusammenhang einschlägige Hinweise gibt.
Lacan thematisiert Gemälde nicht als Artefakte, deren verborgene Bedeutung es zu entschlüsseln gilt. Die kunstwissenschaftliche Frage, was ein bestimmtes Kunstwerk bedeute, ersetzt er vielmehr durch die grundsätzliche Frage, was den Maler dazu bewegt, Bilder zu produzieren, und was umgekehrt dem Betrachter widerfährt, wenn er Bilder anschaut. ›Bedeutung‹ erhält die Struktur eines Ereignisses: Sie ist ein Geschehen, das sich nicht auf die Denotation innerbildlicher Gegebenheiten oder außerbildlicher Kontexte historischer, soziologischer oder individualpsychologischer Art zurückbringen lässt. Selbst den ästhetischen Charakter des Kunstwerks ordnet Lacan einer Funktionsbestimmung des Bildes unter – einer Funktionsbestimmung in Bezug auf das Subjekt, das sich im Feld des Sehens und der Sichtbarkeit positioniert und artikuliert. Lacan geht sogar so weit zu betonen, Sinn und Zweck eines Bildes lägen nicht in dem, was auf ihm dargestellt sei. Wenn das Subjekt am Sichtbaren hänge, dann weniger wegen dem, was es dort sehe. Den intensivsten Bezug zwischen Subjekt und Sehfeld stiften vielmehr, so Lacan, die Stellen, wo es etwas nicht sieht. Dabei handelt es sich um eine strikte Negativität, »unbefriedigt, unmöglich, verkannt« – um ein »Rendez-vous«, zu dem man stets gerufen ist und das man dennoch immer verpasst. Wie ist das zu verstehen?
Auf den begehrenden Blick des Betrachters, sehen zu wollen, reagiert der Maler, so Lacan, mit der Gabe des Gemäldes, das ein Teil seiner selbst ist und doch nicht er selbst, sondern vielmehr eine Art Schild oder Maske, die ihn zugleich zeigt und verbirgt: »Der Maler gibt dem, der sich vor sein Bild stellt, etwas, das […] in der Formel zusammenzufassen wäre – Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das!« Der Schautrieb des Betrachters soll durch diese Gabe so weit zufrieden gestellt werden, dass er seinen »gefräßigen« Blick darin deponiert, so wie man »Waffen deponiert«. Für Lacan ist das Gemälde ein Medium, das buchstäblich ›zwischen‹ Maler und Betrachter steht, und als ein solches ›Zwischen‹ hat es zwei ineinander verwobene Funktionen. Als ›image‹ (Abbild) eröffnet es einen imaginären Ausblick von der einen auf die jeweils andere Seite, als ›écran‹ (Schirm) hingegen trennt es beide Seiten voneinander. Der ›hinter‹ der Leinwand stehende Maler trägt auf die Leinwand jene Farbmarkierungen auf, die er dem Betrachterblick als ›Gabe‹ darbietet, die ihn aber zugleich, als ›Trübung‹ des Mediums, vom Betrachterblick abschirmen. Auf der anderen Seite steht der Betrachter, der im Bild zweierlei (nicht) sieht: das auf dem Bild Dargestellte sowie den das Bild hervorbringenden Maler. ›Image‹ und ›écran‹ sind konkurrierende Funktionen derselben Leinwand, weswegen sie fortlaufend ineinander umkippen. Das Gemälde ist das Medium einer Kommunikation, in deren Zentrum der begehrende, ›gefräßige‹ Blick steht – aber als einer, den es qua Bild auszusperren gilt, und zwar mit einer ›Sichtbarkeit‹, die mit ihrem Zeigen zugleich anderes verdeckt.
Dem Spiel der Malerei zwischen Schein und Sein, Täuschung und Enttäuschung gibt Lacan folglich eine überraschende Wendung. Für ihn liegt das Täuschende der Malerei nicht darin, dass das Dargestellte nur scheinhaft anwesend ist, und die Enttäuschung wiederum liegt nicht darin, dass die Scheinhaftigkeit durchschaut und das Sichtbare in seiner bloßen Bildlichkeit erkannt wird. Das Scheinhafte der Kunst begründet für Lacan sogar deren »pazifizierende, apollinische Wirkung«: Hinter dem Schein lauert nicht das Reale, sondern der Schein des Bildes ist hier bereits alles, was es zu sehen gibt, weswegen ein Gemälde gefahrlos und mit ›friedlichem‹ Blick betrachtet werden kann. Die eigentliche Enttäuschung in der Malerei liegt in etwas anderem: nämlich darin, dass das Bild mir nie das zeigt, was ich sehen will. Jener von Lacan imaginierte Satz des Malers: »Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das!«, fordert eine implizite Antwort des Betrachters heraus: Warum das – und nicht etwas anderes? Warum Menschen auf einem Balkon, warum eine stellare Konstellation? Eine unaufhebbare Asymmetrie des Begehrens macht die Begegnung von Bild und Betrachter ›grundlos‹: entzieht ihr den Grund, der eine erfüllende Reziprozität garantierte. Zwischen Bild und Betrachter öffnet sich eine kommunikative Lücke, die die Rede von der ›Selbstbezüglichkeit‹ des Kunstwerks nur notdürftig verdeckt.
Mit Wittgenstein habe ich von der Anerkennung des Bildes gesprochen, die vonnöten sei, um die Jeweiligkeit seiner Ordnung erkennen zu können. Bei Lacan gewinnt das Argument eine weitere Dimension. Wenn ich ein Gemälde betrachte, muss ich anerkennen, dass es mir gerade dies zeigt, auch wenn ich vielleicht anderes sehen möchte, und ich muss anerkennen, dass es mir gerade so gezeigt wird, auch wenn ich es vielleicht anders sehen möchte. Darin liegt die immanente Ambivalenz der ›reinen Sichtbarkeit‹ des Bildes. Sie stabilisiert sich nicht zu jener strahlenden Präsenz, die ihr Wiesings Phänomenologie zuschreibt. Stattdessen wird sie von der ebenso ungreifbaren wie hartnäckigen Negativität durchzogen, uns anstelle von dem dargeboten zu werden, was uns nicht gezeigt wird. Soll dies nicht zu jener Enttäuschung führen, die Benjamins Galeriegänger empfinden, muss die ›Grundlosigkeit‹ dessen, was ich sehe, als jener Grund anerkannt werden, auf dem Bild und Betrachter sich begegnen.

Einleitung
Kapitel I: Die Bildfläche
Kapitel II: Die Bildordnung
Punkt Kapitel III: Das Unsichtbare im Bild
Pfeil Schluss
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Unverfügbares Bildordnung Stimmigkeit Organisation Wittgenstein

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Drei Dimensionen des Unverfügbaren im künstlerischen Bild

in: Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung, hrsg. von Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch und Daniel Tyradellis, Zürich/Berlin 2013, S. 211-228.

Kapitel 2: Die Bildordnung

Wird das Bild, unter dem Aspekt formaler Kohärenz betrachtet, ›verfügbarer‹? Die im letzten Kapitel verwendeten Begriffe dieser Kohärenz wie ›dynamisch ausbalanciert‹ oder ›leitmotivisch wiederkehrende Dreiecksformen‹ verweisen in ihrer Unschärfe eher auf das Gegenteil. Die formale Ordnung von Manets Bild erscheint zwar durchaus als ein »geregelter (d.h. nicht beliebiger) Zusammenhang von diesem und jenem«. Doch in ihrer Singularität ist sie von Manets Gemälde nicht ablösbar, ebenso wie das Gemälde keine Anwendung außerbildlicher Ordnungsschemata darstellt.
Das bekannte Bilderbuch Kunst aufräumen des Schweizer Kabarettisten und Künstlers Ursus Wehrli macht das Gesagte schlagartig klar. Jede Doppelseite des Buches stellt einem Kunstwerk, beispielsweise Mirós L’or de l’azur, eine von Wehrli ›aufgeräumte‹ Variante gegenüber. Diese Variante folgt einer kalkulatorisch-klassifikatorischen Logik, der zufolge die Bildelemente nach Größe, Farbe und Form sortiert werden. Allerdings erscheint Mirós Gemälde gegen Wehrlis Behauptung keineswegs ›unaufgeräumt‹. Doch für diese andere Ordnung lassen sich nur unscharfe Kriterien anführen. So mögen wir von der ›Stimmigkeit‹ oder dem ›Passen‹ von Mirós Formenkonstellationen überzeugt sein, ohne aber deren Regeln angeben zu können. Außerdem ist der Eindruck von ›Stimmigkeit‹ an eine bestimmte Auffassungsweise des Sichtbaren gebunden, die in ihrer Richtigkeit ebenfalls nicht beweisbar ist. So könnten wir, wenn wir das Bild beispielsweise als Himmelskonstellation auffassen, vom ›Gravitationsfeld‹ der großen blauen Form sprechen, demgegenüber die kleineren Formen wie ›Trabanten‹ wirken, und wir könnten diese Auffassung dadurch stützen, dass wir auf die ›himmelwärts‹ von links unten nach rechts oben führende Bildbewegung verwiesen. Eine solches ›Passen‹ der einzelnen Bildelemente gehört zur Kategorie spontaner Ordnungen, die im Bild als spezifische Organisation seiner Teile erfahren wird, wobei diese Organisation der Teile durch die Art und Weise, das Sichtbare zu deuten, angestoßen wird.
Nicht erst die ›offenen Kunstwerke‹ der Moderne, zu denen Mirós Gemälde gezählt werden kann, verdeutlichen, dass eine solche ›Stimmigkeit‹ einem Untergrund der Unbestimmtheit entspringt – mit der Folge, dass Mirós L’or de l’azur nicht nur jenen Akt der Organisation des Bildganzen erfahrbar werden lässt, sondern zugleich die Unvorhersehbarkeit, dass und wie sie sich vollzieht. Indem ein Kunstwerk seine je besondere Ordnung als deren überraschende Genese vorführt, können wir sie nicht dadurch erschließen, dass wir bekannte Schemata darauf anwenden, sondern allein durch einen mimetischen Nachvollzug, in dem wir uns die Bildordnung allmählich erschließen. Dieses Erschließungsgeschehen kann auch scheitern. In einem solchen Fall ist die Bildordnung jedoch nicht ›falsch‹, so wie es für normative Ordnungen gilt, sondern vielmehr ›nicht gelungen‹ – womit wir uns erneut in jenem Feld notwendig unscharfer ästhetischer Begriffe befinden. Entsprechend schwer ist es zu entscheiden, ob das Misslingen, eine Ordnungsstruktur zu erkennen, objektive, im Kunstwerk liegende, oder subjektive, im Betrachter liegende Gründe hat. All dies verdeutlicht, dass der Eindruck der ›Stimmigkeit‹ kein passives Registrieren ist, sondern sich als Organisation des sinnlichen Materials dem produktiven Zusammenspiel von Bild und Betrachter verdankt. Dies aber ist gerade bei Mirós ›kosmischem‹ Bild nicht ohne Pointe, gilt doch der Kosmos von Sternen und Planeten als ein Bereich ›ewiger‹ Ordnung, die vom Menschen zwar in ihrer Regularität erkennbar, ja errechenbar ist, jedoch von ihm nicht miterschaffen wird.
Der Erfahrung des ›Passens‹ angesichts von Kunstwerken widmete Ludwig Wittgenstein einige Schlüsselpassagen der Philosophischen Untersuchungen und benachbarter Textkonvolute. Wittgenstein beschreibt das ›Passen‹ deshalb als entscheidende ästhetische Erfahrung am Kunstwerk, weil sie sowohl dessen immanente Ordnung als auch dessen Weltbezüge kenntlich werden lässt. Mirós Bild ist – zumindest in der hier vorgeschlagenen Deutungsperspektive – für dieses doppelte ›Passen‹ ein gutes Beispiel. Denn die Auffassung als ›Gravitationsfeld von Himmelskörpern‹ bringt einerseits die interne Organisation des Bildes auf einen metaphorischen Begriff, andererseits verbindet sie das ungegenständliche Gemälde mit der außerbildlichen Wirklichkeit. Wittgenstein betont allerdings, das Kriterium dieses ›Passens‹ sei »dunkel«, und an anderer Stelle schreibt er: »Stets aufs Neue benutzen wir dieses Bild des Klickens oder Passens, wo es in Wirklichkeit nichts gibt, was klickt oder was irgendwo hineinpasst.“ Wittgenstein illustriert dieses ›Dunkle‹ der Bildordnung und ihrer Verbindung mit der Wirklichkeit mit einem plastischen Beispiel. Er stellt sich vor, er beschreibe jemandem ein Zimmer und lasse ihn aufgrund dieser Beschreibung ein »impressionistisches Bild« malen. Die als grün beschriebenen Stühle male dieser nun dunkelrot, und was ihm als gelb genannt wurde, male er blau – denn das sei der Eindruck, den er von dem Zimmer erhalten habe. »Und nun sage ich: ›Ganz richtig; so sieht es aus.‹« Die Bildelemente ›passen‹ und geben das Zimmer ›richtig‹ wieder, weil – so lässt sich Wittgensteins Argument verstehen – ihre interne Organisation stimmig ist. Als ästhetische Konfiguration, nicht aber aufgrund einer formalen Richtigkeit der Darstellung, sieht das gemalte Zimmer wie jenes aus, das dem Malenden beschrieben wurde. Dasselbe gilt, mutatis mutandis, auch für die ›Ähnlichkeit‹ des Miró zu einer stellaren Konstellation. Die ›Stimmigkeit‹ des Bildes wie auch die ›Ähnlichkeit‹ zu etwas Außerbildlichem blitzen auf, ohne dass wir im Bild zeigen könnten, woraus sie entspringen.
Wittgenstein betont aber nicht nur die Unverfügbarkeit bildnerischer Ordnungen, sondern ebenso deutlich, dass sich darüber erfolgreich kommunizieren lässt. Auch wenn das Paradigma des ›Passens‹ ›dunkel‹ bleibt, gelingt es doch immer wieder, andere von unseren Urteilen zu überzeugen, auch wenn dies, wie aus dem Gesagten folgt, nicht als deduktive Beweisführung, sondern allein in der Form rekursiver Erschließungen erfolgen kann. Die Dialog-Fragmente, die Wittgensteins Argumentation durchziehen – »Du musst es so sehen, so ist es gemeint« oder »Wenn ich es so sehe, so paßt es wohl dazu, aber nicht dazu« – paraphrasieren, was wir tun, um andere von der eigenen Wahrnehmungsweise zu überzeugen. Wittgenstein fasst solche Unternehmungen folgendermaßen zusammen: »Ich wollte dies Bild vor seine Augen stellen, und seine Anerkennung dieses Bildes besteht darin, daß er nun geneigt ist, einen gegebenen Fall anders zu betrachten […]. Ich habe seine Anschauungsweise geändert.«
Das Unverfügbare bildnerischer Ordnungen – als zweite Konkretion des Unverfügbaren im künstlerischen Bild – liegt demnach nicht nur darin, dass deren Regeln nicht vom jeweiligen Werk ablösbar und verallgemeinerbar sind. Sie liegt genauso am substanziellen Anteil, den das Subjekt an der Emergenz bildlicher Ordnung hat. Wer sich bemüht, die Ordnung eines Bildes zu entdecken, hat es bereits als Bild anerkannt, das einer entsprechenden Aufmerksamkeit würdig ist, und wem sich die Bildordnung erschließt, dem ist gelungen, das Wahrnehmbare und die eigenen Anschauungen einander anzupassen.

Einleitung
Kapitel I: Die Bildfläche
Punkt Kapitel II: Die Bildordnung
Pfeil Kapitel III: Das Unsichtbare im Bild
Schluss
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Unverfügbares Bildfläche Rahmen Fenster Naht

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Drei Dimensionen des Unverfügbaren im künstlerischen Bild

in: Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung, hrsg. von Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch und Daniel Tyradellis, Zürich/Berlin 2013, S. 211-228.

Kapitel 1: Die Bildfläche

Die Fläche eines Bildes ist unzweifelhaft gegeben – als jene vom Maler bearbeitete Oberfläche eines Objektes, das an die Wand gehängt wird, ein bestimmtes Gewicht hat und je besondere Maße aufweist. Sobald die Bildfläche aber nicht als jene materielle Oberfläche, sondern ästhetisch in den Blick genommen wird, erweist sie sich als irritierend ungreifbar – eine Ungreifbarkeit, die akuter wird, je länger wir ein Bild betrachten.
Zwei Komponenten bestimmen die Fläche eines Bildes: einerseits die Bildebene, die virtuell in alle Richtungen weitergehend zu denken ist, andererseits die Bildgrenzen, die aus dieser virtuell unendlichen Ebene ein bestimmtes Geviert ausgrenzen. Sowohl die Ebene als auch die Begrenzungen haben, wie Derrida es formulierte, parergonalen Charakter, gehören zum ›ergon‹, zum Werk, dazu und bleiben doch außerhalb seiner. Das Bildgeviert ist nicht Teil des Erscheinenden, sondern lediglich dessen Grenze. Doch es gehört auch nicht der Ordnung der außerbildlichen Wirklichkeit an. Aus beiderlei Gründen ist die geläufige Bildmetapher des ›Fensters‹ irreführend. Sie suggeriert eine ontologische Kontinuität zwischen der im Bild gezeigten Welt und der außerbildlichen Wirklichkeit, so wie sie bei einem tatsächlichen Fenster besteht, das sich inmitten eines raumzeitlichen, das Davor und das Dahinter übergreifenden Zusammenhangs befindet. Doch die Rahmung des Bildfeldes hat kein gegenständliches Korrelat, weder in der Welt des Bildes noch in der außerbildlichen Wirklichkeit. Gleiches gilt für die Bildebene. Ihre Ungreifbarkeit wird schon daran ersichtlich, dass unentscheidbar bleibt, ob sie als Bildgrund hinter dem Raum liegt und diesen aus sich heraus entspringen lässt, oder ob sie wie ein durchsichtiger Schirm vor dem Raum liegt, durch den hindurch sich das Sichtbare zeigt.
Die Bestimmung der Bildfläche als ›Kompositionsfeld‹ ist aus anderen Gründen problematisch. Hier wird das Bildgeviert zu direkt mit der immanenten zweidimensionalen Ordnung des Bildes verknüpft. Unterschlagen wird dabei, dass das Bild, selbst die flächigste ungegenständliche Malerei, nur dann zum Bild wird, wenn es sich von der Bildfläche abstößt und eine virtuelle Tiefe gewinnt. Der parergonale Charakter des Bildfeldes, ebenso zum Werk zu gehören wie außerhalb seiner zu sein, gilt daher nicht minder für das ungegenständliche Bild. Was es zeigt, bleibt auch hier konstitutiv von der Bildfläche geschieden, auf (oder hinter) der es erscheint.
Kennzeichnend für die Bildfläche ist demzufolge, dass sie sich zwischen zwei ontologischen Ordnungen situiert: zwischen der fiktiven Welt des Bildes einerseits und der außerbildlichen Wirklichkeit, in der der Betrachter sich befindet, andererseits. Sie ist auf beide Ordnungen bezogen, als faktisches Ding gehört sie zur Welt des Betrachters, als Erscheinungsort der Bildwelt indessen zu jenem Fiktionalen, das der Betrachter lediglich sehen, nicht aber betreten kann. Gerade weil in ihr zwei ontologisch unvereinbare Bereiche aneinanderstoßen, bleibt sie selbst ungreifbar. Berühren können wir die Bildfläche nur als materielle Bildoberfläche, nicht aber als jene im Imaginären liegende Kontaktfläche; ja, gerade im Augenblick der Berührung eines Bildes wird die Differenz von materieller und ästhetischer Bildfläche offenbar. Mit welcher Metapher ließe sich die Eigenart dieses ›Zwischen‹ besser erfassen als mit den irreführenden Metaphern des ›Fensters‹ oder des ›Kompositionsfeldes‹? Am ehesten scheint die Bildfläche mit einer ›Naht‹ vergleichbar zu sein, die die Welt des Bildes und die Betrachterrealität zugleich trennt und verbindet. Die Metapher der ›Naht‹ verweist auf den eigentümlichen Charakter der Bildfläche als ein ›Nichts‹, das weder zur einen noch zur anderen Seite gehört, sondern die unfassliche Stelle ist, an der sie sich ›berühren‹.
An einem Gemälde – Edouard Manets Le Balcon – sei das Dargelegte veranschaulicht. Manets Gemälde bietet sich dafür an, weil es jene ›Naht‹-Funktion der Bildfläche zu seinem eigentlichen Sujet macht. Überdies enthält es mit der gemalten Fenstertüre und dem Balkongitter Elemente, die nach der doppelten Logik der différance die Bildfläche wiederholen und zugleich deren Andersartigkeit zu Bewusstsein bringen. Die Thematisierung der ›Naht‹ zwischen Bildwelt und Betrachterwirklichkeit ist in Manets Œuvre kein Einzelfall; immer aufs Neue wird hier der Blick ins Bild und der Blick aus dem Bild als ›Begegnung‹ über den ontologische Abgrund zwischen Realität und Fiktion hinweg inszeniert – bis zum finalen Meisterstück der Bar aux Folies-Bergère, in dem sich der Betrachter im innerbildlichen Spiegel als Anderer entdeckt.
Le Balcon ist als eine Hintereinanderstaffelung bildebenen-parallel verlaufender Raumsegmente organisiert. Hinter den Figuren eröffnet sich durch den Rahmen der geöffneten Balkontüre hindurch ein Einblick in die Tiefe des Raums. Gleichzeitig wird die Tiefe durch die Dunkelheit dieses Raums fast vollständig ausgelöscht. Gerade noch erkennen wir die schemenhaften Reflexe verschiedener Gegenstände und die Gestalt eines Jungen. In diesen großen, leer wirkenden Raum jenseits der Balkontür dringt der Blick kaum vor – so wie auch das Licht, das vom Standpunkt des Betrachters aus frontal auf die Figuren fällt, kaum in diesen rückwärtigen Raum einzudringen vermag. Das innerbildliche Fenster verspricht einen Einblick und vereitelt ihn zugleich. In genau entgegengesetzter Richtung sind die Figuren aus dem Dunkel ins Licht getreten. Sie befinden sich jetzt im schmalen Bereich zwischen dem Balkongitter, das mit der Grenze des innerbildlichen Raums zusammenfällt, und der Balkontür, hinter der das Bild ins Dunkel verschwindet. Damit halten sie sich genau auf der Schwelle zwischen Innen und Außen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit auf. Von diesem Punkt aus blicken sie in den Raum hinaus, aus welchem das Licht sie beleuchtet und in welchem auch der Betrachter steht. Ausdruckslos schauen sie in unterschiedliche Richtungen auf etwas, was der Betrachter nicht sehen kann. Das Zusammenspiel von Raumgefüge, Lichtführung und Blickrichtungen erzeugt eine dramatische Umkehrung der Raumenergien. Der Raum fluchtet nicht mehr in die Tiefe wie bei einem zentralperspektivischen Bild, sondern schießt gleichsam auf den Betrachter zu. Durch diese Umkehrung werden Bild- und Betrachterraum nicht nur direkt aufeinander bezogen, so wie es für die zentralperspektivische Relation von Augenpunkt und Fluchtpunkt gilt, sondern greifen ineinander. Damit aber ist der Schauplatz von Manets Bild weniger der Raum innerhalb des Bildes, sondern vielmehr jener Raum, der zwischen den Figuren und dem Betrachter liegt und in dessen Mitte die ›Naht‹ der Bildfläche liegt. Deren wechselseitige Überschreitung erweist sich als die eigentliche ›Handlung‹ des Balcon, wo ansonsten alles stillzustehen scheint. Die ontologische Ungreifbarkeit der Bildfläche zeigt sich dabei besonders deutlich anhand des Balkongitters. Dass es zum Bildraum gehört, wird durch den aufgestützten Arm der hier porträtierten Berthe Morisot deutlich. Gleichwohl scheint es in eigentümlicher Weise auch vor dem Bild zu liegen. Gerade anhand des Gitters, das die Bildfläche zu umspielen scheint, wird deren fortwährender Entzug beinahe körperlich spürbar.
Das Trennende und zugleich Verbindende der Bildfläche zeigt sich noch unter einem weiteren Aspekt: Sie ›vernäht‹ die Autonomie mit der Heteronomie des Kunstwerks, oder anders formuliert, das ›für sich‹ mit dem ›für uns‹ des Bildes. Hegel, von dem die letzteren Begriffe stammen, äußert sich dazu in den Vorlesungen über die Ästhetik folgendermaßen:

»Wie sehr das Kunstwerk eine in sich übereinstimmende und abgerundete Welt bilden mag, so ist das Kunstwerk selbst doch als wirkliches, vereinzeltes Objekt nicht für sich, sondern für uns, für ein Publikum, welches das Kunstwerk anschaut und es genießt. Die Schauspieler z.B. bei der Aufführung eines Dramas sprechen nicht nur untereinander, sondern mit uns, und nach beiden Seiten hin sollen sie verständlich sein.«

An Hegels Bemerkung zeigt sich, dass wir Bilder unter zwei unterschiedlichen Aspekten betrachten können, die die Auffassung der Bildfläche jeweils unmittelbar affizieren. Entweder beziehen wir das Dargestellte in einem situativ-räumlichen Sinne auf unseren eigenen Standpunkt vor dem Bild – wofür Hegel den Begriff des ›für uns‹ gebraucht. In dieser Perspektive entmaterialisiert sich die Bildfläche zu einer transparenten Durchsicht und wird für das Bildverständnis weitgehend irrelevant. Blicken wir diesbezüglich erneut auf Manets Balcon, zeigt sich allerdings, dass hier Hegels Forderung der ›Verständlichkeit‹ kaum erfüllt wird. Weder lässt sich mit Bestimmtheit sagen, wo wir als Betrachter stehen (können wir deshalb in der gezeigten Weise auf den Balkon schauen, weil wir in der Luft schweben?), noch lässt sich angeben, in welcher Situation die untereinander isolierten Figuren erfasst sind. Einen ganz anderen Eindruck hingegen gewinnen wir von Manets Gemälde, wenn wir das Gezeigte nicht auf unseren Standpunkt vor dem Bild, sondern vielmehr auf die Bildfläche beziehen, das Bild also als autonomes, immanent geregeltes Objekt ›für sich‹ auffassen. Dann nämlich zeigt sich das situativ inkohärente Geschehen unter dem Aspekt formaler Kohärenz. Zwei Aspekte der Kohärenzstiftung seien hier herausgegriffen. Zum einen werden Bildformat und Bildordnung eng aufeinander bezogen, indem die Horizontalen und Vertikalen der Architekturelemente und der Figuren die Bildgrenzen wiederholen und in ihrem Zusammenspiel eine ebenso rigide wie offene, insgesamt dynamisch ausbalancierte Bildarchitektur errichten. Zum anderen erweisen sich die spitz- und stumpfwinkligen Dreiecke des Balkongitters als eine Art ›Leitmotiv‹, das an den unterschiedlichsten Stellen des Bildes wiederkehrt. Sie zeigen sich zunächst in der pyramidalen Konstellation der drei Figuren sowie in der Konstellation ihrer Köpfe. Die spiegelsymmetrisch verlaufenden Schrägen des Fächers und des Schirms bilden ein nach oben geöffnetes Dreieck, dessen Spitze, wenn man die Linie des Schirms verlängert, genau auf der vertikalen Mittelachse des Bildes liegt. Ein weiteres Dreieck hat seine Spitze im Ellbogen Berthe Morisots. Dessen Schenkel werden zum einen durch die Horizontale des Balkongitters gebildet, zum anderen durch die schräg aufsteigende Linie, die über die Oberarm- und Schulterkontur Berthe Morisots und die beiden Hände des stehenden Mannes zum Blumenschmuck am Hut der Frau rechts führt. Dreiecksformen zeigen sich aber selbst in den Details: in der Gabelung des Hortensienstiels, im Schnurrbart des Mannes, im Halsausschnitt am Kleid der rechten Frau oder in den beiden Doppelkordeln an ihrem Schirm.
In unserem Zusammenhang ist nun entscheidend, dass eine Betrachtungsweise, die das Sichtbare nicht räumlich-situativ auf den eigenen Standpunkt vor dem Bild bezieht, sondern es in seinen formalen Relationen zur Bildfläche auffasst, die Funktion der Bildfläche radikal verändert. Von einer irrelevanten, in ihrer Transparenz verschwindenden Größe wird sie zur maßgeblichen, ordnungsstiftenden Instanz. Die Erfahrung ist paradox: Während die Auffassung der Bildfläche als transparentes ›Fenster‹ eine sowohl in sich als auch in ihrem Betrachterbezug unverständliche Szenerie erscheinen lässt, erschließt sich der zwingende Zusammenhang des Sichtbaren, sobald wir die Bildfläche als ›absolute‹, von jedem gegenständlichen Korrelat losgelöste und ungreifbare Instanz begreifen. Dass allerdings die Erfahrung bildlicher Kohärenz an der ontologisch ungreifbaren Instanz der Bildfläche hängt, ist die erste Dimension – anders formuliert: die erste Konkretion – des Unverfügbaren im künstlerischen Bild.

Einleitung
Punkt Kapitel I: Die Bildfläche
Pfeil Kapitel II: Die Bildordnung
Kapitel III: Das Unsichtbare im Bild
Schluss
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Kunst Unverfügbares Unbestimmtheit Paradoxie Offenheit

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Drei Dimensionen des Unverfügbaren im künstlerischen Bild

in: Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung, hrsg. von Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch und Daniel Tyradellis, Zürich/Berlin 2013, S. 211-228.

»Das Rätsel lösen ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben: der Blick, mit dem die Kunstwerke den Betrachter anschauen.« (Theodor W. Adorno)

Einleitung

Dass Kunstwerke unverfügbar seien, gerade auch in dem, was sie zu solchen mache, ist ein Topos, der die Geschichte der Kunst durchzieht, bald dominanter, bald hintergründiger. Die philosophische Ästhetik schreibt den Topos fort, von Kants Bestimmung der Kunst als Allgemeines ohne Begriff über Schlegels Auffassung des Kunstwerks als strukturell unendlicher Prozess bis zu Adornos negativer oder Derridas dekonstruktiver Ästhetik. Das Unverfügbare des Kunstwerks nimmt dabei immer neue Namen an: je ne sais quoi, Unbestimmtheit, Paradoxie, Offenheit und andere mehr. Im Folgenden geht es mir aber nicht um diesen Topos selbst, weder um seine Geschichte noch um seine möglichen Funktionen, etwa zur Stilisierung der Kunst als Kompensation einer Wirklichkeit, die als überdeterminiert erfahren wird. Vielmehr möchte ich etwas auf den ersten Blick Widersprüchliches versuchen, nämlich das Unverfügbare des künstlerischen Bildes möglichst genau zu bestimmen. Dafür nehme ich drei Dimensionen dieses Unverfügbaren in den Blick: die Bildfläche, die Bildordnung und das Unsichtbare im Bild. Diese drei Dimensionen lassen sich zum Zweck der Analyse zwar unterscheiden, jedoch nicht scharf voneinander trennen – worauf am Schluss des Textes einzugehen sein wird. Überdies weisen sie ein gemeinsames Merkmal auf: Das Unverfügbare manifestiert sich jeweils inmitten des Verfügbaren und bleibt in konstitutiver Negativität darauf bezogen. Ich bestreite weder, dass die Fläche eines Bildes vorhanden ist, noch dass Kunstwerke Ordnungsstrukturen aufweisen, noch auch dass Bilder sichtbar sind. Wie aber in diesen Positivitäten ein Unverfügbares aufbricht, möchte ich in den drei folgenden Abschnitten zeigen.

Punkt Einleitung
Pfeil Kapitel I: Die Bildfläche
Kapitel II: Die Bildordnung
Kapitel III: Das Unsichtbare im Bild
Schluss
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Drei Dimensionen des Unverfügbaren als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.356 KB)