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Fontanas Schnitte
in: Bild-Riss. Textile Öffnungen im ästhetischen Diskurs, hrsg. von Mateusz Kapustka, Textile Studies, Band 7, Edition Imorde, Emsdetten/Berlin, 2015, S. 25-38.
Ein Gemälde ist kein Bild von irgendetwas vor deinen Augen. Es ist vielmehr ein Angriff auf das Medium, das dadurch etwas ‚bedeutet‘. Das Sujet existiert nicht schon davor. Es entsteht erst in der Interaktion zwischen Künstler und Medium. Deshalb, und nur auf diese Weise, kann ein Gemälde kreativ sein, und deshalb können seine Resultate nicht vorherbestimmt werden. Robert Motherwell
Einleitung: Modernistische ‚flatness‘ und ihr Widerruf
Ein Bild im Lichte seines Aufreißens zu betrachten heißt, es im Lichte seiner Materialität zu betrachten. Ein Riss ist ein Oberflächenmerkmal, zugleich ist er die Spur eines Ereignisses, das als solches womöglich mehr interessiert als das Resultat. Ein Riss im Bild deutet auf Spannungen hin – zwischen Prozess und Werk, aber auch zwischen Materialität und Form. In der Kunst des Modernismus, ungefähr seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, wachsen diese Spannungen erheblich an, bis zu dem Punkt, an dem Prozess und Werk, Materialität und Form im Kunstwerk beständig gegeneinander bestimmt werden müssen: als Aspekte ein und desselben Bildes, die zwar unterscheidbar, aber nicht voneinander zu trennen sind. Ein Riss im Bild führt überdies dazu, dass Augen- und Tastsinn miteinander zu konkurrieren beginnen. Das Bild zeigt sich nicht als immaterielle Fläche, die einen virtuellen Sehraum eröffnet, sondern als reale Oberfläche, deren Beschaffenheit in der Moderne häufig darauf zielt, das Auge nicht in eine imaginäre Tiefe zu ziehen, sondern es die Oberflächenfaktur abtasten zu lassen. Und schließlich weist ein Riss im Bild darauf hin, dass in avantgardistischen Kunstpraktiken Schöpfung und Zerstörung ein und derselbe Akt sein können. Das mögliche Zusammenfallen von Kunstentstehung und Kunstvernichtung bezieht sich dabei nicht nur auf die Konzeption bestimmter Verfahren, beispielsweise der Fotomontage in ihrer Verbindung von Schnitt und Zusammenfügung, sondern zugleich auf das historische Selbstverständnis der Avantgarden, mit jedem Werk den bisherigen Kunstbegriff zu sprengen oder sogar zu versuchen, mit der Setzung eines ‚letzten Werks‘ die Kunst insgesamt zu einem Ende zu bringen.
Alle diese unterschiedlichen Spannungen verdichten sich bei Bildern an einem konkreten Ort, der sich gleichwohl fortwährend entzieht: an ihrer Oberfläche. Bereits das Wort ‚Oberfläche‘ verweist dabei auf die Ambivalenz des Bildes, die sich im Fortschreiten der Moderne immer entschiedener artikuliert. Deren anti-illusionistische Wende lässt das Bild immer ausdrücklicher mit seiner Oberfläche zusammenfallen. Zugleich aber ist es nur sinnvoll, von einer Oberfläche zu sprechen, wenn es auch etwas gibt, was darunter liegt. In der Bildauffassung Clement Greenbergs, des amerikanischen Vordenkers einer formalistischen Deutung des Modernismus, tritt diese Ambivalenz des Bildes in exemplarischer Weise hervor. Auf der einen Seite erhebt Greenberg das Medium des Bildes – den Bildträger und die Malmaterie – zu dessen zentralem Aspekt. Der Modernismus sei das künstlerische Verfahren, sich beständig einer Kritik von innen her zu unterwerfen – einer Kritik, die darauf ziele, die Natur des jeweiligen künstlerischen Mediums zu größtmöglicher Reinheit zu führen und auf diese Weise die einzelnen Künste in ihrem ureigenen Kompetenzfeld zu verankern. Greenberg sieht die modernistische Wendung der Malerei folglich dort als vollzogen an, wo die immanenten und essenziellen Qualitäten dieses Mediums – die plane Oberfläche, der Umriss des Bildträgers und die Eigenschaften der Farbstoffe – offen herauszutreten vermögen. Für Greenberg bedeutet dies jedoch keineswegs das Ende des Illusionismus in der Malerei, sondern lediglich das Ende des klassischen, von haptischen Assoziationen überlagerten Illusionismus, wie ihn als äußerster Fall das Trompe-l’œil zu erzielen versuche. Als der Modernismus das Schattieren und Modellieren und alle anderen herkömmlichen Verfahren in Frage stellte, die in der Malerei an das Skulpturale erinnerten, sei dies, so Greenberg, „im Namen einer rein und ausschließlich optischen Erfahrung“ geschehen. Dadurch erziele das modernistische Bild eine Präsenz, die der traditionellen Kunst verwehrt gewesen sei. Aufgrund des ausschließlich optischen Durchstoßens der Bildfläche wandere das Auge im Trugbild eines Raumes, der nicht mehr jener auf den Körper bezogene Partialraum der herkömmlichen illusionistischen Kunst sei, sondern sozusagen Raum schlechthin: „Die Bildfläche als totales Objekt repräsentiert Raum als ein totales Objekt.“ Greenbergs Kurzschluss zwischen diesen beiden ‚Objekten‘ bringt die Ambivalenz des modernistischen Bildes auf den Punkt. Auf der einen Seite verdinglicht sich das Bild zur materiellen Oberfläche, die dem Realraum angehört wie jeder andere Gegenstand auch – was nach Greenberg dazu führt, dass bereits eine aufgespannte leere Leinwand als Bild aufgefasst werden kann. Andererseits wird die Bildfläche zu einem immateriellen, transzendenten Ort. In Greenbergs Beschreibung erinnert sie an das Aleph in Jorge Luis Borges’ gleichnamiger Erzählung, an jenen magischen Punkt im Raum, der alle Punkte in sich enthält und in dem sich die Totalität des Universums kontemplieren lässt.
Die extreme Spannung zwischen der planen Leinwand einerseits und der eröffneten (oder zumindest angestrebten) Totalitätserfahrung andererseits führt allerdings zu einer erheblichen Verminderung der semantischen, syntaktischen und pragmatischen Möglichkeiten der Malerei. Deren Spielfeld verengt sich auf die Oberfläche – eine Oberfläche zumal, deren Erfahrungspotenzial umgekehrt proportional zur Intensität ihrer Bearbeitung zu stehen scheint, wie Greenbergs Verweis auf die leere Leinwand als Bild nahe legt. Es ist offensichtlich, dass die ‚essenzialisierende‘ Askese der Malerei – die Beschränkung auf die Oberfläche und die Minimierung der malerischen Bearbeitung – nicht nur von den Betrachtern, sondern auch von den Künstlern als Verlust empfunden werden kann. So spricht Kandinsky beispielsweise vom „Annageln der Möglichkeiten an eine reale Fläche der Leinwand“ – und empfindet dies eindeutig als Beschränkung. Diese Kehrseite des Modernismus ist auch Greenberg bewusst. Während man, so Greenberg, bei der klassischen Malerei durch die Fläche wie durch ein Proszenium auf eine Bühne geblickt habe, sei diese Bühne im Modernismus immer flacher geworden, bis schließlich die Kulisse mit dem Vorhang zusammengefallen sei. Doch ganz gleich wie reich und verschiedenartig die Künstler nun diesen Vorhang, der ihnen als Einziges übrig geblieben sei, bearbeiteten und falteten, ein Gefühl des Verlusts sei unausweichlich. Was den Betrachter an der gegenwärtigen, abstrakt oder sogar ungegenständlich gewordenen Kunst kümmere, sei weniger die Verzerrung oder gar die Abwesenheit von wiedererkennbaren Bildern. Es sei vielmehr die Aufhebung jener räumlichen Rechte („spacial rights“), welche die Maler dem Betrachter gewährten, als sie noch Illusionen desjenigen Raumes schufen, in dem auch unsere Körper sich bewegten.
Dieses Schwinden des Raumes bildet den historischen und systematischen Hintergrund der folgenden Ausführungen, die sich ausschließlich einer einzigen Position zuwenden: derjenigen Lucio Fontanas. Fontanas Bildpraxis steht hier exemplarisch für die vielfältigen Versuche, angefangen mit der kubistischen Collage, Wege zu finden, den zunehmenden Druck auf die Oberfläche des Bildes aufzufangen und zu brechen, um die verlorene ‚Bühne‘ wiederzugewinnen, auf der sich der Akt des Bildermachens wie auch die Vorstellungskraft des Betrachters neu entfalten können. Es geht dabei nicht zuletzt um die Rückeroberung jenes körperlichen Handlungsraumes, den die modernistische ‚flatness‘ und Greenbergs ästhetische Maxime ‚reiner Optikalität‘ ausschließen. Fontanas Schnitt in die Leinwand ist eine jener Varianten, dem Bild unter modernistischen Bedingungen das zu erhalten, was Frank Stella den „working space“ der Kunst nennt. Nach Stella besteht das Ziel der Kunst darin, Raum zu schaffen – einen Raum, in dem nicht nur sich die Dinge entfalten können, sondern in dem die Kunst selbst agieren kann. Da Fontana die modernistische Verflächigung und Materialisierung des Bildes nicht rückgängig machen kann und will, sucht er diesen Raum nicht wie in der klassisch-illusionistischen Malerei hinter, sondern im Inneren der Bildoberfläche, um dort einen buchstäblichen, aber überaus paradoxen Raum zu finden.