Andy Warhol. Thirty Are Better Than One

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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One

Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)

Inhalt:

Einleitung

Der Anlaß

Mona Lisas Reise – Kalter Krieg – Ein janusköpfiger Ruhm

Die Vorläufer

Die Rezeption der Mona Lisa – Warhols Meta-Paraphrase

Die Einordnung

Der Star – Das Beispiel der Marilyns – Mona Lisa als Star

Die reproduzierte Mona Lisa

Walter Benjamins These vom Verlust der Aura – Die Verschlingung von Original und Reproduktion – Eine zweite Leonardo-Paraphrase

Pictorial Design

Entkontextualisierung – Kombinatorik – Serialität – Sixteen Jackies

Das Dilemma des Malens

Anmerkungen (nur in der PDF-Druckversion)

Lebensdaten (nur in der PDF-Druckversion)

Ausgewählte Literatur (nur in der PDF-Druckversion)

Abbildungsverzeichnis (nur in der PDF-Druckversion)

Abbildungsnachweis (nur in der PDF-Druckversion)

Andy Warhol Pop Art Fotografie Massenmedien

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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One

Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)

Kapitel VI: Das Dilemma des Malens

»Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als die lediglich scheinbaren Unterscheidungen zwischen einer Ausbreitung von Bildern und der Ausbreitung von Gegenständen oder Körpern außer acht zu lassen.« (Paul Virilio)

Warhols Thema ist die technische, industrielle Zivilisation. Deren Erzeugnisse sind seine Motive: die Konsumgüter als Produkte der Warenindustrie, die Stars und die fetischisierten Kunstwerke als Produkte der Kultur und Vergnügungsindustrie, die Autounfälle als Folgen unbeherrschter Technik, der elektrische Stuhl (Abb. 30) als Instrument der mechanisierten Tötung. Warhols lnspirationsquellen sind der Supermarkt, die Massenmedien, die Treffpunkte der New Yorker Society. Und der Ort, an dem die Bilder entstehen, ist nicht ein Atelier, sondern die Factory.
Warhol versteht die Pop Art als künstlerische Antwort auf die moderne Massenkultur. Er grenzt sie damit scharf vom Abstrakten Expressionismus ab, der mit Malern wie Jackson Pollock, Willem de Kooning, Barnett Newman, Franz Kline u.a. die amerikanischen 50er Jahre bestimmte.
»The Pop artists did images that anybody walking down Broadway could recognize in a split second – comics, picnic tables, men’s trousers, celebrities, shower curtains, refrigerators, Coke bottles – all the great modern things that the Abstract Expressionists tried so hard not to notice at all.« [»Die Pop-Künstler machten Bilder, die jeder, der den Broadway hinunterging, im Bruchteil einer Sekunde erkennen konnte – Comics, Campingtische, Herrenhosen, Berühmtheiten, Duschvorhänge, Kühlschränke, Colaflaschen – all die großartigen modernen Dinge, die zu ignorieren sich die Abstrakten Expressionisten so große Mühe gaben.«]
Gegen den »introspective stuff« [das »introspektive Zeug«] des Abstrakten Expressionismus bestimmt Warhol: „Pop comes from the outside.« [»Pop kommt von außen.«] Und wenn die künstlerische Selbstbeschreibung Jackson Pollocks lautet: »Ich arbeite von innen nach außen, wie die Natur«, so antwortet Warhol mit seinen Wunsch: »I want to be a machine.« [»Ich möchte eine Maschine sein.«]
Doch die Technisierung, die in Warhols Werk ihren Niederschlag findet, reicht weiter. Sie betrifft zugleich auch die menschliche Wahrnehmung, die zunehmend von massenmedialen Bildern bestimmt wird. Warhols Welt ist in doppelter Weise technisch zugerichtet: nicht nur ist sie zum größten Teil industriell produziert, sondern zugleich ist ihre Wahrnehmung durch die Druckmedien und den Fernseher technisch organisiert. Um nur einen Vergleich zu nennen: 1950 steht in elf Prozent der amerikanischen Haushalte ein Fernseher; 1960 sind es 88 Prozent. Der durchschnittliche Fernsehkonsum beträgt zu diesem Zeitpunkt bereits zwischen vier und fünf Stunden pro Tag. Über die Konsequenzen dieser Veränderungen für das Bewußtsein und das Handeln hat sich seit den 60er Jahren eine reiche medientheoretische Diskussion entfaltet, in letzter Zeit und mit dem Blick auf neue mediale Techniken unter den Stichworten »virtuelle Realität« und »Simulation«. Die Debatte als solche hier aufzugreifen, ist weder sinnvoll noch möglich, obgleich Warhol in ihr hin und wieder (v.a. von Jean Baudrillard) als Zeuge für die zunehmende Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion angeführt wird. Doch einige der hier diskutierten Tendenzen lassen sich an Warhols Bildern ablesen.
Es ist ein zentrales Kennzeichen von Warhols Werk, eine fast unübersehbare, enzyklopädische Themenfülle zu zeigen, eine Fülle, die auch alle traditionellen Gattungen der Malerei umgreift: vom Historienbild über das Porträt, das Genre, das Interieur bis zur Landschaft und zum Stilleben. Das ist eine im 20. Jahrhundert erstaunliche und einzigartige Leistung. Trotz der Themen- und Gattungsvielfalt präsentiert sich Warhols Werk jedoch formal geschlossen. Das Pictorial design vermag den Kosmos von Dingen, Menschen und Begebenheiten in einen Kosmos Warholscher Bilder zu verwandeln. Die Art und Weise der Transformation erfährt dabei nur geringe Modifikationen. Die eine Methode der Bildproduktion findet für das ganze Spektrum der Themen gleichermaßen Anwendung. Warhols bildnerische Unternehmungen zielen offensichtlich nicht darauf, dem jeweiligen Bildthema eine jeweils individuelle Ausdrucksform zu verleihen, sondern darauf, eine einzige Form zu entwickeln, die trotz der disparaten Bildgegenstände jedem von ihnen angemessen ist. Das Ergebnis dieser Formintention ist die »Schablone« des Pictorial designs. Damit aber kontrastiert mit der thematischen Universalität der Werke ihre formale Uniformität.
Die Warhol-Kritik hat sich nun die Frage gestellt, ob diese Uniformität eine Folge der persönlichen lndifferenz Warhols sei, oder ob sie die Folge der lndifferenz der Gegenstände selbst sei. Daß Warhol die Mona Lisa, Jackie Kennedy, einen elektrischen Stuhl und eine Suppendose gleich behandelt, wurde also entweder der passiven, »leeren« Psyche des Künstlers zugeschrieben, oder es wurde argumentiert, daß dies die Spiegelung der Leere einer Welt sei, in der alle Dinge zum uniformen Konsumgut verkämen. Für die Uniformität der Bilder ist jedoch entscheidend, daß in Warhols Gestaltungsprozeß zwischen den Dingen und den Bildern ein Zwischenglied steht: die (zumeist den Massenmedien entnommene) Photographie. Warhols Bilder sind nie Bilder über Dinge, Menschen, Ereignisse usw., sondern stets Bilder über deren photographisches Bild. Sie sind Meta-Bilder – so wie festgestellt wurde, daß Thirty Are Better Than One eine Meta-Paraphrase ist: ein Bild über die Bilder eines Bildes. Die meisten von Warhols Arbeiten zeigen denn auch etwas, das weder Warhol noch die Betrachter je mit eigenen Augen gesehen haben, sondern nur durch die Presse oder das Fernsehen kennen: die schweren Autounfälle, den elektrischen Stuhl, die Stars usw. Auch wenn Warhol nur besonders prägnante oder sogar sensationelle Bilder als Vorlagen wählt und oft lange suchen muß, bis er Photographien von der Drastik z. B. des Ambulance Disaster fand (Abb. 31), so sollen sie doch gleichzeitig von der Banalität des alltäglichen Reizfutters sein, mit dem die Medien die Aufmerksamkeit möglichst vieler Menschen zu erregen versucht. Erst die Kombination von Einzigartigkeit und Alltäglichkeit macht diese Photographien »very ›media‹« – nach der Aussage des Assistenten Gerard Malanga das Kriterium Warhols, ein Bild als Vorlage auszuwählen -, und es ist genau diese Doppelwertigkeit, die Warhol in der Verarbeitung zum Tafelbild weiter forciert. Wenn Warhols Bilder uniform erscheinen, so verweist dies also weder einfach auf die Gleichartigkeit der Dinge an sich noch auf die psychische lndifferenz Warhols, sondern zunächst und vor allem auf die Gleichartigkeit, die die Dinge durch die Transformation ins Medienbild erlangen. Es ist diese »sekundäre« Gleichartigkeit, von der Warhols Bilder handeln. Ebenso wesentlich ist das Zwischenglied der Photographie für das Verständnis von Warhols einzigartiger thematischer Universalität. Denn daß Warhol seine Bilder aufgrund der Erfahrung von Photographien und nicht aufgrund der Erfahrung der Dinge selbst schafft, erklärt, wie es ihm möglich ist, einen derart umfassenden Bereich an Themen zu behandeln. Das Spektrum seiner Bilder ist nicht umfassender als dasjenige, das im Zeitalter der Massenkommunikation jedermann vor Augen kommt. In der Derivat-Form des photographischen Bildes ist sowohl Warhol wie jedem anderen dieses Spektrum nicht nur ohne weiteres zugänglich, sondern es drängt sich der Wahrnehmung geradezu auf. Der direkten Erfahrung hingegen wäre es verschlossen.
Warhols Bilder kreisen um ein Phänomen, das man zusammenfassend Distanzlosigkeit nennen könnte. Warhols Pictorial design hebt nicht nur die Distanz zwischen dem Bild und dem Bildgegenstand auf, sondern zugleich – als Folge davon – die Distanz zwischen dem Betrachter und dem Bildgegenstand. Bei den Campbell’s Soup Cans oder den Flowers etwa war zu beobachten, daß der dargestellte »reale« Gegenstand immer genau so groß ist wie er im Bild erscheint; bei den Flowers zeigte sich zudem das Paradox, daß sie trotz der Drehungen immer richtig liegen. Steht der Betrachter vor solchen Bildern, befindet er sich in einer eigentümlich diffusen Situation. Er blickt in einen nicht qualifizierbaren, zugleich flachen und bodenlosen Raum, in einen Raum ohne Dimension. Dieser räumlichen Unwägbarkeit entspricht die eigentümliche Zeitstruktur der Bilder. In Baseball, Suicide und Optical Car Crash zeigte sie sich als Paradox von Bewegung und Stillstand, in Sixteen Jackies als die zyklische Wiederkehr disparater Zeitsplitter aus einem historischen Geschehen. Distanzlos und unvermittelt steht man auch zu dem, was man in Thirty Are Better Than One oder in den Last Suppers erblickt. Warhol zeigt eine Mona Lisa und ein Abendmahl, die universal verbreitet und omnipräsent sind, die damit aber ihren konkreten historischen und kulturellen Ort verloren haben, in der Flucht der Adaptationen, Repliken und Verkitschungen zum blinden Fleck der Wahrnehmung geworden sind. Warhols bildnerische Strategie läuft jeweils darauf hinaus, im gleichen Zug das Moment der Präsenz und das Moment der Absenz zu steigern, das Vermittelte als unvermittelt und das Unvermittelte als vermittelt zu zeigen.
Warhol beschreibt auf diese Weise eine Wirklichkeit, die zwischen dem, was als Bild, und dem, was als Realität bezeichnet wird, schwebt. Wie ein roter Faden zieht sich durch das ganze Werk die Ungewißheit:
»I don’t know where the artificial stops and the real starts« [»Ich weiß nicht, wo das Künstliche aufhört und das Wirkliche beginnt.«]
So oszillieren die Bilder zwischen einer realistischen Wörtlichkeit, die den Bildgegenstand gleichsam »pur« vor Augen stellt, und einer formalen Abstraktheit, die auf Grund des seriellen, zugleich strengen wie ornamentalen Bildrasters zustande kommt. Nicht zufällig weisen sie formale Eigenschaften auf, die sich in der abstrakten Kunst, insbesondere im Abstrakten Expressionismus und der Minimal Art, wiederfinden lassen (etwa im Bildgitter Frank Stellas oder Agnes Martins, in der seriellen Reihung identischer Formen bei Elsworth Kelly, Ad Reinhardt oder Carl Andre oder im flächenfüllenden Monochrom Barnett Newmans oder Mark Rothkos), kombinieren diese abstrakten Verfahren jedoch mit einer in ihrer Kraßheit provozierenden Gegenständlichkeit.
Mit diesem künstlerischen Konzept übersetzt Warhol ins Tafelbild, was der Wahrnehmung medial verbreiteter Bilder eigentümlich ist. Die Verbindung des photographischen Bildes mit der Möglichkeit, sie mittels der magischen Kanäle, wie Marshall McLuhan die Bildmedien nennt, über den ganzen Erdball zu schicken, hat tatsächlich das Sehen vom Gesehenwerden abgelöst, vermag »wahre« Partikel der Welt ohne jeden Zusammenhang zu zeigen, zerschneidet das Kontinuum von Raum und Zeit: die Medien haben das Sehen distanzlos gemacht. Und in der Tat koppeln sie ihre Universalität mit Uniformität, ist ihre große Realitätsnähe und Unvermitteltheit gleichzeitig höchst vermittelt und abstrakt. Warhols Tun läßt sich als Mimesis der technisch-medialen Wirklichkeitsvermittlung bezeichnen, es macht anschaulich, was in der apparativen Zurichtung der Wirklichkeit geschieht. Die Bilder zielen auf eine »Phänomenologie« des medial vermittelten Weltzugangs.
Von den Pop-Künstlern erkennt Warhol am klarsten, daß die künstlerische Auseinandersetzung mit Phänomenen dieser Art nicht nur ein neues Themenspektrum, sondern vor allem eine völlig neue Art des Bildermachens bedingt. Mit der ausschließlich reproduktiven und seriellen, jegliche malerische Handschrift meidenden und stets indirekt über das Medium der Photographie arbeitenden Bildherstellung entwickelt Warhol ein künstlerisches Verfahren, das der Produktions- und Verbreitungsweise der Dinge und Erscheinungen, die seine Bilder zeigen, parallel läuft. Die Technisierung und Medialisierung betrifft die Poetik und die Ästhetik selbst. Unter veränderten Prämissen wahrt Warhol damit eine grundlegende Voraussetzung der Kunst: die Äquivalenz von Dargestelltem und Darstellungsweise, von Inhalt und Form. Wenn zu Beginn dieses Textes Warhols künstlerische Position innerhalb der Pop Art als konsequenter, durchdachter und folgenreicher bezeichnet wurde, dann geschah es auf Grund dieser Äquivalenz.
An Warhols bildnerischem Tun, das zwischen dem Wunsch, eine Maschine zu sein, und einer außerordentlichen Gestaltungskraft oszilliert, wird schließlich zweierlei deutlich. Zum einen zeigt es, daß künstlerische Interventionen auch dann mit Erfolg möglich sind, wenn man sich einer Realität stellt, die nicht nur den Menschen zu einem Anhängsel technisch-industrieller Abläufe zu machen droht, sondern in der man von Bildern in einer Weise umstellt ist, die »ein Bild machen« zu einem denkbar trivialen Akt werden läßt. Doch es wird zugleich sichtbar, daß unter diesen Bedingungen das Terrain des Schöpferischen schmaler geworden ist. Künstlerische Konzepte, die ganz auf die persönliche Imagination und die individuelle expressive Kraft vertrauen – z. B. Picassos lebenslange malerische Parforceleistung oder Pollocks innengeleiteter Schaffensgestus – dürften immer seltener gelingen. Die Wiederaufnahme solcher Formen der Expressivität, z. B. durch die Jungen Wilden, vermag denn auch nur in wenigen Fällen zu überzeugen. Zu malen und ein Bild zu machen, heißt, sich einem Dilemma auszusetzen, das Claes Oldenburg, ebenfalls ein Künstler der amerikanischen Pop Art, so beschreibt:
»Nach meinem Verständnis ist die Bildsprache der Pop Art … ein Weg, das Dilemma, zu malen und dennoch nicht zu malen, zu überwinden. Sie ist ein Weg, ein Bild entstehen zu lassen, das man nicht geschaffen hat.«

Einleitung
Kapitel I: Der Anlaß
Kapitel II: Die Vorläufer
Kapitel III: Die Einordnung
Kapitel IV: Die reproduzierte Mona Lisa
Kapitel V: Pictorial Design
punkt Kapitel VI: Das Dilemma des Malens
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Andy Warhol Kombinatorik Serialität Kennedy Attentat

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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One

Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)

Kapitel V: Pictorial Design

Es dürfte an dieser Stelle sinnvoll sein, das Feld etwas auszuweiten: das bisher Gesagte an anderen Bildern Warhols zu überprüfen und gleichzeitig die gestalterischen und thematischen Grundzüge seines Werks in den Blick zu rücken.
1949 schließt Warhol seine künstlerische Ausbildung am Carnegie Institute of Technology mit einem Bachelor of Fine Arts in Pictorial Design ab. Der Lehrgang, den er dafür durchlaufen hat, eignet sich zwar auch für Künstler, die später frei arbeiten wollen, ist jedoch in erster Linie auf die Ausbildung von kommerziell arbeitenden Graphikern zugeschnitten. So beinhaltet er neben dem klassischen Unterricht in Zeichnung und Malerei in besonderem Maße die Vermittlung von Techniken, die mit vorhandenem Bildmaterial neue gestalterische Zusammenhänge zu schaffen erlauben. Dem Erlernen von reproduktiven und Collage-Verfahren z. B. ist vom ersten Studienjahr an ein wichtiger Platz eingeräumt.
Durch seine Schriften übt der Maler, Bildhauer, Photograph und Filmemacher Laszlo Moholy-Nagy einen bedeutenden Einfluß auf den Unterricht aus. Warhol selbst liest sie in seiner Studienzeit mit Begeisterung. Der Konstruktivist, der in den 1920erJahren am Bauhaus lehrte, wird nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten 1937 zum Leiter des New Bauhaus in Chicago und 1939 zum Gründer der dortigen School of Design. In »The New Vision«, einem teils aus dem Deutschen übersetzten, teils in Amerika neu verfaßten Buch, schreibt Moholy-Nagy:
»Meine fotografischen Experimente … überzeugten mich, daß sogar die vollständigste Mechanisierung von Techniken keine Bedrohung für die essentielle schöpferische Kraft darstellt. Verglichen mit dem Schöpfungsprozeß sind die Probleme der Ausführung nur insoweit wichtig, als die angewandte Technik – manuell oder mechanisch – gemeistert werden muß. … Malen mit der Hand mag seine historische Bedeutung beibehalten; früher oder später wird sie ihre Exklusivität verlieren. In einem industriellen Zeitalter ist die Unterscheidung zwischen … Handwerklichkeit und mechanischer Technisierung nicht länger eine absolute.«
Die Einsicht Moholy-Nagys, die künstlerische Gestaltung von der Verpflichtung zu manuellem, handwerklichem Tun zu lösen und auf den Einsatz mechanischer Hilfsmittel hin zu öffnen – eine Einsicht, die in seinen Schriften stets wiederkehrt -, hat sich Warhol in konsequenter Weise zu eigen gemacht. Tatsächlich ist in Warhols Bildern keine Handschrift in einem malerischen Sinne zu finden. Diese ergibt sich vielmehr ausschließlich aufgrund der verschiedenen ästhetischen Entscheidungen, die es im Prozeß der Bildherstellung, von der Auswahl einer bildlichen Vorlage über die Umformung zum Drucksieb bis zur schließlichen Fertigung des Tafelbildes, zu fällen gilt. Warhols Bildprozeß ist eine eigentümliche Mischung von Handwerk und Technik. Er technisiert seine Hand und verhandwerklicht die Technik. Er selbst will die Maschine sein (»I want to be a machine«, lautet eine seiner bekanntesten Aussagen), nie kauft er sich eine Maschine, die er bloß anschalten müßte und die für ihn die Arbeit leistete – obschon es solche Maschinen natürlich gegeben hätte.
Daß der Siebdruck das (ab 1962 ausschließliche) Mittel wird, die photographische Vorlage auf die Leinwand zu übertragen, ist in diesem Licht zu sehen. Der Siebdruck, eine komplexere Form des Schablonendrucks, ist ein zugleich simples und hochgradig wandlungsfähiges Druckmedium. Das liegt zum Teil an der Herstellung des Siebs, die viele Varianten und Eingriffe erlaubt (Gewebefeinheit, Belichtungsstärke, Konturschärfe usw.).Vor allem aber hängt es damit zusammen, daß der Druck von Hand vorgenommen werden kann. Das Sieb wird in diesem Fall ohne eine Presse auf die zu bedruckende Fläche gelegt und die Farbe eigenhändig durch das Sieb gestrichen. Auch beim Druckvorgang sind damit weitreichende Manipulationen möglich, etwa in Bezug auf die Menge der verwendeten Farbe, die Führung der Druckrakel, die Andruckstärke des Siebs, die Häufigkeit der Siebreinigung usw. Warhol nutzt diese Möglichkeiten in hohem Maße, insbesondere dadurch, daß er bei der Siebherstellung wie auch beim Druck Ungenauigkeiten und »Fehler« provoziert, die er als Gestaltungsmittel einsetzt: zu starke Belichtung, Überlappungen der einzelnen Drucke sowie der verschiedenen Druckebenen, Verstopfung des Siebgewebes u. a.
Wenn also die Reproduktionstechnik die ästhetische Wirkung der Bilder dominiert und dominieren soll, dann immer in der spezifischen Weise, in der Warhol sie einsetzt und manipuliert. Auf diese Weise prägt sich Warhols gestalterisches Kalkül jedem seiner Bilder ein. Sie tragen unverwechselbar seine Handschrift, die sie sogleich als »Warhol« erkennbar macht. Drei grundlegende Aspekte dieser Handschrift: Entkontextualisierung, Kombinatorik und Serialität, sollen im Folgenden zur Sprache kommen.

Entkontextualisierung

In der Wiedergabe eines bestehenden Bildes kann der dargestellte Gegenstand dadurch modifiziert oder verfremdet werden, daß nicht alle Merkmale oder Informationen des Bildes in die Reproduktion übernommen werden. Bei Thirty Are Better Than One betraf das die Eliminierung von malerischen Qualitäten des Originals, z. B. das subtile Hell-Dunkel und die Farbigkeit, und bei den Marilyns das Wegschneiden des Körpers unterhalb des Kopfes. Das Weglassen von bildlichen Informationen kann aber auch darin bestehen, einen Gegenstand oder eine Gestalt aus dem bildlichen Zusammenhang und damit aus der bestimmten räumlichen und zeitlichen Situation herauszureißen. Bereits die Arbeiten des Werbegraphikers setzen eine solche Entkontextualisierung des Bildgegenstandes als Gestaltungsmittel häufig ein. Als Beispiel mag eine 1953 entstandene Monotypie (Einmaldruck) dienen; sie entstammt einem Alphabetbuch – A is an Alphabet -, das Warhol an die Art directors verschiedener Zeitschriften und Unternehmen verschenkt (Abb. 16). Warhol paust hier die Umrisse eines Akrobaten durch, dessen Bild 1952 im Magazin Life erscheint (Abb. 17). Er reduziert jedoch die Gestalt nicht nur auf ihre Außenkontur, sondern läßt vor allem die wichtigste Information für das Verständnis der Figur und ihrer Haltung weg: das Seil. Dadurch verwandelt sich die Vorderansicht in eine Rückenansicht, zudem die Untersicht in eine Aufsicht. Blicken wir in der Life-Photographie von unten einem Akrobaten ins Gesicht, so haben wir in der Monotypie Aufsicht auf eine Gestalt, die sich, von uns abgewendet, zur Seite oder hinunterbeugt. Unter der Monotypie steht zu lesen: »U was an umbrella ant / who reminded this young man / of his favorite aunt.« Obschon äußerlich unverändert belassen, ist die Figur vom Seiltänzer zu einem »jungen Mann« geworden, der eine »Schirm-Ameise, die ihn an seine Lieblingstante erinnert«, erblickt. Die Photographie liefert Warhol nur gerade einen Rohstoff, den er durch die Entkontextualisierung mit einem gänzlich neuen Inhalt versieht. Warhol erklärt denn auch: »The important thing is to leave out.« [»Das Wesentliche ist das Weglassen.«]
Auch die »klassischen« Bilder Warhols arbeiten mit diesem Gestaltungsmittel. Als ein Beispiel, das die Folgen besonders anschaulich macht, sei das Diptychon Campbell’s Soup Cans (Chicken with Rice, Bean with Bacon) herausgegriffen (Abb. 18). Die beiden Dosen, je eine auf jeder Tafel, schweben ohne jede räumliche Einbettung auf dem weißen Bildgrund. Sogar die reduzierteste Ortsangabe, auf die kein Stilleben verzichtet (um Warhols Bild mit den Bildern derjenigen Gattung zu vergleichen, in deren Tradition es am ehesten steht), ist weggelassen: die horizontale Linie, die je nach Bild eine Tisch oder eine Raumkante meint (Abb. 19). Da auf diese Weise der Zusammenhang, in dem die Dosen stehen, offen bleibt, bleibt auch unklar, warum die rechte Dose viel kleiner ist als die linke. Ist dies so, weil sie weiter von unserem Auge entfernt ist, oder weil sie, was ebensogut möglich ist, als Dose kleiner ist? Obgleich die erste Antwort näher liegt, ist wesentlich, daß die Frage grundsätzlich nicht entschieden werden kann. Warhols Diptychon wirft damit kein geringeres Problem auf als das des Verhältnisses von Bild und Gegenstand. Denn ob das Bild (bzw. seine Darstellungsmodalität) oder aber der Gegenstand als solcher die markante Größendifferenz der beiden Dosen provoziert, bleibt unbestimmt und unbestimmbar. Mehr als die tautologische Erklärung: die rechte Dose erscheint kleiner, weil sie kleiner erscheint, ist nicht möglich. Die Aussage über den Gegenstand fällt mit der Aussage über das Bild zusammen. Das aber hebt nicht nur die Distanz zwischen dem Bild und dem dargestellten Gegenstand auf, sondern damit auch die Distanz zwischen dem Gegenstand und dem Betrachter.
Daß das Bild mit seinem Gegenstand verschmilzt, geschieht in gleichsam wörtlicher Weise auch durch die Identität der weißen Partie des Dosenetiketts mit dem Weiß des Bildgrundes. Das ist ein weiteres der Gestaltungsmittel, die Warhol häufig einsetzt. Mit ihm beschäftigt sich, unter anderem, der nächste Abschnitt.

Kombinatorik

In der Malerei fällt gewöhnlich die Gestaltung des Motivs, z. B. das Malen eines Menschen, mit der Anordnung dieses Motivs auf der Fläche des Bildes zusammen. Der Begriff der Komposition meint beides, als Untrennbares, zugleich. Warhol trennt diese beiden Aspekte der Komposition auf. Bei seinen Arbeiten erfolgt die Gestaltung des Motivs zunächst für sich, und zwar durch die entsprechende Gestaltung des Drucksiebs. Erst in einem zweiten Schritt, wenn das Sieb gedruckt wird, erfolgt die Übertragung auf einen Bildgrund. Die Flowers, die als umfangreiche Serie ab 1964 entstehen, lassen den zweigeteilten Kompostitionsvorgang sowie seine spezifischen Konsequenzen gut sichtbar werden (Abb. 20).
Ausgangspunkt für die Flowers ist eine Photographie von Hibiskusblüten, die die Zeitschrift »Modern Photography« 1964 publiziert. Bei den photomechanischen Ablichtungsvorgängen zur Herstellung des Drucksiebs steigert Warhol den Hell-Dunkel-Kontrast so lange, bis die Binnenzeichnung der Blüten fast ganz verschwunden ist. Was davon verbleibt, brennt er mit Ausnahme der Blütenzentren aus der Acetatfolien-Kopie heraus. (Die Acetatfolie ist die Reproduktionsstufe zwischen der photographischen Vorlage und dem Sieb; eine Art Diapositiv in der Größe des späteren Drucks, mit dem das Sieb belichtet wird.) Auf diese Weise läßt Warhol die Blüten zu leeren, nur durch die Außenkontur bestimmten Flächen werden – ein Merkmal, das bereits an der Figur des Seiltänzers und an der weißen Partie der Suppendosen zu beobachten war. Wird nun ein Flowers-Sieb auf eine Leinwand gedruckt, so kommt deren Grundierungsfarbe bei den »leeren« Blüten – und nur dort – ungebrochen zum Vorschein. Die Farbe des Leinwandgrundes wird so zur Farbe der Figur, der Blumen. Damit gewinnt Warhol die Möglichkeit, allein durch das Kombinieren des Siebs mit verschiedenfarbigen Leinwänden verschiedene Varianten der Blüten selbst zu erzeugen. Eine blaue Leinwand ergibt blaue Blumen, eine rote Leinwand rote usw.
Ein zweiter Aspekt von Warhols kompositorischer Kombinatorik entsteht durch das Drucken eines identischen Bildmotivs auf ganz unterschiedliche Formate. Die Marilyns z.B. existieren nicht allein als Quadrat von 1 m x 1 m (Abb. 11), sondern – unter anderem – auch als Rechteck von 50 cm x 40cm (Abb. 21). Diese beiden Formate wiederum sind Standardformate in Warhols Werk, die für ganz verschiedene Bildgegenstände Anwendung finden. Das Format 50 cm x 40 cm dient gleichzeitig auch für Suppendosen (Abb. 18), für Selbstbildnisse, für die einzelnen Tafeln der Jackie-Bilder (Abb. 22) usw. Das Format 1 m x 1 m hingegen ist die Normgröße für diverse Porträttypen: für die Starporträts (Abb. 11 u. 12), für das Porträt des Künstlerkollegen Joseph Beuys (Abb. 23), schließlich für die Auftragsporträts, die in den 70er Jahren zahlreich entstehen. Auch die Flowers existieren in ganz verschiedenen Formaten, wie der Blick in die europäische Erstpräsentation der Serie zeigt (Abb. 24). Der Durchmesser der einzelnen Blüten schwankt hier zwischen wenigen Zentimetern und mehr als eineinhalb Metern.
Erneut bedeutet »Komposition« die Kombination zweier unabhängiger Größen. War es vordem die Kombination von Motiv (bzw. Drucksieb) und Farbe, so ist es hier diejenige von Motiv und Format – wobei sowohl ein standardisiertes Format mit wechselnden Motiven wie auch ein identisches Motiv mit wechselnden Formaten kombiniert werden kann. Warhol trägt ein Moment von Zufälligkeit in die Beziehungen von Figur und Grund bzw. von Figur und Format, das für die traditionelle Tafelmalerei undenkbar ist. Es ist, als hätte Warhol das englische Wort für Drucksieb, »screen«, in seiner mehrfachen Bedeutung wörtlich genommen. »Screen« heißt gleichzeitig auch »Projektionsleinwand« oder »Bildschirm«, das Verb »to screen« nicht nur »siebdrucken«, sondern auch »projizieren«. Tatsächlich gleicht Warhols Bildkomposition einem Projektionsvorgang, bei dem das Dia- oder Filmbild sowohl in variabler Größe als auch auf variablen Grund projiziert werden kann.
Damit hängt auch Warhols häufige Verwendung eines Bildformates zusammen, das in der Malerei selten ist: des Quadrats. Als die stabilste und damit spannungsloseste Form einer rechteckigen Fläche ist das Quadrat für die Komposition eines Tafelbildes wenig geeignet. Es wird daher von den Malern meist gemieden. Warhol hingegen wertet die negativen Eigenschaften positiv:
»I like painting on a square because you don’t have to decide wether it should be longer-longer or shorter-shorter or longer-shorter: it’s just a square. I always wanted to do nothing but the same-size picture.. .« [»Ich mag das Malen auf einem Quadrat, denn man muß nicht entscheiden, ob es länger-länger oder kürzer-kürzer oder länger-kürzer sein sollte: es ist ganz einfach ein Quadrat. Ich wollte nie etwas anderes machen als das stets gleichgroße, gleichformatige Bild.. .«]
Die Gleichgültigkeit des Quadrats spielt Warhol in den Flowers auf verblüffende Weise aus – der dritte Aspekt der Kombinatorik. Wie an der Abbildung 24 ersichtlich ist, hängt er jedes der Flowers-Bilder andersherum. Dennoch scheint keines der Bilder auf der Seite oder gar auf dem Kopf zu stehen. Daß dies möglich ist, liegt zunächst am Motiv selbst. Zum einen die konzentrische Gestalt der einzelnen Blüten, zum anderen die Perspektive der Photographie, die lotrecht aufgenommen ist und die Blumen wie eine Wand vor Augen stellt, haben zur Folge, daß die Konstellation der vier Blumen keine eindeutige Ausrichtung besitzt und damit drehbar wird. Entscheidend jedoch ist, daß Warhol die ursprünglich rechteckige Photographie für die Flowers in ein Quadrat verwandelt. Zunächst schneidet er drei der ursprünglich sieben Blüten weg. Da die verbleibenden vier Blüten noch immer ein Rechteck bilden, löst er die zu sehr abseits liegende heraus und rückt sie näher an die anderen drei heran. Mit dem Quadrat erhalten die Flowers ein Format, das nun ebenfalls kein eindeutiges Oben und Unten, Links und Rechts besitzt. Die Eigenschaften des Motivs verbinden sich mit denjenigen des Formats, und Warhol kann die Bilder nun rotieren lassen, ohne daß die Drehung je als Verdrehung erscheint. Wird am Quadrat die Drehung als solche gar nicht sichtbar, liegt das Motiv der Blüten in jeder Lage richtig.
Nimmt man die drei Aspekte von Warhols kombinatorischem Verfahren zusammen, so zeigt sich, daß sich in den Flowers drei Bestimmungen, die für die Wahrnehmung eines Gegenstandes zentral sind, im Spiel der Varianten auflösen: die Farbe, die Größe und die Stellung im Raum. Die Blüten werden zu einer reinen Matrix, ihre Eigenschaften, mit Ausnahme des Umrisses, erhalten sie erst in der jeweiligen Kopie. Aus diesem Grund wirkt auch keines der Flowers-Bilder als bloße Verfärbung, Vergrößerung oder Verdrehung eines ursprünglichen, »richtigen« Zustandes. Jede Variante, ob groß oder klein, blau oder rot, so oder andersherum gedreht, erscheint ebenso gültig und »richtig« wie die andere. Und dennoch lassen die Bilder nur allzu offensichtlich werden, daß sie bloß die manipulierten Siebdruck-Kopien eines einzigen und eindeutigen Sachverhaltes sind. Daß sie alle auf derselben Photographie basieren, ist dafür Beleg genug. So formulieren die Flowers, die verschieden und zugleich dieselben sind, das Paradox invarianter Varianten.

Serialität

Neben der reproduktiven Herstellungsweise ist die durchgängige Serialität das zweite formale Merkmal von Warhols Arbeiten. Beide Merkmale sind dabei unmittelbar miteinander verknüpft. Denn als Druckmedium ist der Siebdruck nicht auf das einzelne, einmalige Bild angelegt, sondern auf das vervielfachte, serielle. Die hohe Fertigungszahl der Bilder, die in die Tausende gehen kann, ist somit gewissermaßen nur die Konsequenz aus der Fertigungsweise des einzelnen Bildes.
In Warhols Werk finden sich zweierlei Ausprägungen der Serialität. Da gibt es zunächst die serielle Folge von Einzelbildern mit demselben Motiv. Ein Beispiel dafür sind die soeben besprochenen Flowers. Trotz wichtiger Unterschiede, die vor allem den Aspekt der reproduktiven Serialität betreffen, kann eine Serie wie die Flowers den Werkserien anderer Künstler verglichen werden, etwa Claude Monets Bilder der Kathedrale von Rouen (1893194) oder Josef Albers Hommages to the Square (1950-1976). Wie diese wiederholen auch die Flowers ein identisches Thema in jeweils differenter Form. Die andere Ausprägung, in der sich die Serialität bei Warhol findet, ist diejenige von Thirty Are Better Than One, nämlich das mehrfache Wiederholen desselben Motivs in einem einzigen Bild. Diese innerbildlich seriellen Bilder stellen in der Geschichte der Serialität eine grundlegende Innovation dar. Sie können als Warhols eigenwilligste und zugleich provozierendste bildnerische Erfindung gelten. Nur diese zweite Art von seriellen Arbeiten soll im Folgenden zur Sprache kommen.
Warhols Technik der Bildherstellung verbindet nun nicht nur die reproduktive Entstehung der Werke mit deren Serialität, sondern sie verknüpft zugleich die seriellen Einzelbilder mit den innerbildlich seriellen Bildern. Warhols Assistenten Nathan Gluck und Gerard Malanga berichten übereinstimmend, daß Warhol die Leinwand vor dem Spannen auf die Rahmen, ja oft sogar vor dem Zerteilen in die Abschnitte der späteren Tafelbilder bedruckt hat. Um ein innerbildlich serielles Bild zu erhalten, genügt daher die Entscheidung, eine mehrfach bedruckte Leinwand nicht zu zerteilen, sondern als ein Bild zu belassen. Die Differenz der Serialitätstypen von Thirty Are Better Than One und der Flowers ist gewissermaßen nur eine Frage der Teilung der Leinwand.
Entscheidend an diesem Sachverhalt ist nun, daß das innerbildlich serielle Bild durch die simultane Präsentation mehrerer Drucke die reproduktive und serielle Herstellungsweise unmittelbar anschaulich werden läßt. Das Prinzip der Form eines solchen Bildes – die gitterförmige Reihung von Drucken – ist im Grunde ein Prinzip der Produktion. Bereits an Thirty Are Better Than One konnte beobachtet werden, daß damit neben dem Bildthema, das die erste inhaltliche Ebene bildet (hier z. B. die Mona Lisa), die Tatsache der seriellen Reproduktion zur zweiten inhaltlichen Ebene des Bildes wird.
An Warhols vielleicht frühstem Siebdruck, Baseball aus dem Jahr 1962 (Abb. 25), sei zunächst diese zweite Ebene der seriellen Wiederholung betrachtet. Zwischen den einzelnen Reproduktionen gibt es Unterschiede, sie sind bald heller, bald dunkler, einmal vollständig, ein andermal nur teilweise sichtbar. Die Veränderungen und Verschiebungen der Drucke dynamisieren das Bild. Die Figur des Schlagmanns scheint sich, ähnlich den Figuren in den Photo-Serien Eadweard Muybridges aus den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, zu bewegen (Abb. 26). Es ist dabei vor allem Warhols »Engführung« der Drucke, die den Eindruck von Bewegung evoziert. Baseball sei in dieser Hinsicht mit zwei anderen frühen Bildern, Suicide (1963; Abb. 27) und Optical Car Crash (1962; Abb. 28), verglichen. In Baseball »hetzten« die einzelnen Reproduktionen auf horizontalen Reihen über die Leinwand, die »Bewegung« der Reproduktionen entspricht also der Laufrichtung des Schlagmannes. In Suicide hingegen, das eine Frau zeigt, die aus einem Haus in den Tod springt, betrifft die »Engführung« nur die Vertikale, und überdies nur die untere Bildhälfte. Die Reproduktionen scheinen, dem Fallen der Frau analog, »hinunterzustürzen«. Optical Car Crash zeigt eine dritte Möglichkeit. Zusätzlich zum horizontalen »Kollidieren« der Drucke, das dem Aufprall des Wagens entspricht, wird hier über eine erste Schicht von grünen Reproduktionen eine zweite Schicht von roten Reproduktionen gedruckt, die gegenüber der ersten minimal verschoben ist. Die Bilder werden unscharf, der Aufprall »erschüttert« selbst sie. Der Car Crash wird, wie der Titel sagt, zum Optical Car Crash. In allen drei Fällen imitiert also die Abfolge der Drucke die Bewegung des dargestellten Motivs.
Die Analogie der beiden Bewegungen wird nun aber konterkariert durch die zweite Ebene des Bildes, durch das Dargestellte selbst. Denn bei näherer Betrachtung wird ersichtlich, daß sich auf der Seite des Dargestellten gar nichts verändert oder bewegt, sondern sich über die ganze Leinwand das gleiche Bild wiederholt. Damit endet die Ähnlichkeit von Warhols Bildern mit den Photo-Serien Muybridges. Dort verlaufen das photographierte Geschehen, die Abfolge der Bilder sowie die sukzessive Wahrnehmung durch den Betrachter parallel. Diese Parallelität ermöglicht es denn auch, das photographierte Geschehen zu verstehen und in seinem Ablauf zu rekonstruieren – eine grundlegende Bedingung für Muybridges Intention, mit Hilfe der Photographie die Bewegung von Mensch und Tier zu erforschen. Warhols Bilder hingegen erweisen sich in dieser Hinsicht als Täuschung. Über die Bewegung des Motivs erfährt man hier nichts. Denn aus der Kette der drei bei Muybridge analog geführten Bewegungen ist das wichtigste Glied, die Bewegung des Dargestellten, herausgebrochen. Baseball, Suicide und Optical Car Crash sind eine eigentümliche Verbindung von Bewegung und Stillstand. Die Bilder prozedieren zwar, zudem noch in der Art dessen, was sie zeigen, das Abgebildete aber verharrt in dem einen Augenblick, den die reproduzierte Photographie festhält. Das übliche Verhältnis von Bild und Dargestelltem kehrt sich um. Nicht das Dargestellte ist das Bewegte und das Bild das Statische, sondern das Dargestellte bleibt statisch, während nun das Bild sich bewegt. Das Bild tritt an die Stelle dessen, was es zeigt.

Sixteen Jackies

An einem thematisch komplexeren Beispiel seien die gestalterischen Mittel der Entkontextualisierung, der Kombinatorik und der Serialität in ihrem Zusammenwirken vorgeführt. Das Bild ist im vorhergehenden Kapitel bereits gestreift worden: Sixteen Jackies aus dem Jahr 1964 (Abb. 22).
Am 22. November 1963, einem Freitag, wird Präsident John F. Kennedy in Dallas bei einer nachmittäglichen Paradefahrt im offenen Wagen erschossen. Die Ereignisse folgen sich daraufhin Schlag auf Schlag. Kurze Zeit nach dem Attentat und noch in Dallas wird Vizepräsident Lyndon B. Johnson an Bord des Präsidentenflugzeuges in Gegenwart der Witwe, Jacqueline Kennedy, vereidigt. Er fliegt darauf unverzüglich nach Washington, um die Fortführung von Kennedys Politik anzukündigen und sich dessen Kabinett zu verpflichten. Noch am Tag des Attentats wird Lee Harvey Oswald als mutmaßlicher Täter verhaftet. Am 23. November wird Kennedys Leiche im Weißen Haus aufgebahrt, um am nächsten Tag, dem Sonntag, in feierlicher Prozession ins Capitol gebracht zu werden. Tausende nehmen dort am Sarg von ihrem Präsidenten Abschied. Während der Überführung in ein anderes Gefängnis wird Lee Harvey Oswald, dessen Täterschaft keineswegs feststeht, vom Nachtklubbesitzer Jack Ruby erschossen. Am Montag wird Kennedy schließlich in Anwesenheit zahlreicher Staatsoberhäupter bestattet.
Warhol setzt das Geschehen in der Serie der Jackies, die teils noch 1963, teils 1964 entsteht, in eine Mischung aus Porträt und Historienbild um:
»In the … heads I did of Jacqueline Kennedy …, it was just to show her face and the passage of time from the time the bullet struck John Kennedy to the time she buried him.« [»In den … Köpfen, die ich von Jacqueline Kennedy machte …, ging es darum, ihr Gesicht zu zeigen sowie den Ablauf der Zeit vom Augenblick, als die Kugel John Kennedy traf, bis zum Augenblick, als sie ihn bestattete.«]
Die Gestaltung der Bilder erfolgt auf dem für Warhol typischen Weg. Am Anfang stehen Pressephotographien, die entscheidende Augenblicke zwischen Freitag und Montag festhalten. Warhol wählt ausschließlich Aufnahmen, die auch die Gattin bzw. die Witwe des Präsidenten zeigen. Warhol schneidet nun alles weg, was auf den Photographien außer Jacqueline Kennedy zu sehen ist. Das ist nicht nur der größte Teil der Bilder, sondern oftmals deren eigentliches Zentrum, z. B. Kennedy vor der Fahrt durch Dallas oder Johnson im Augenblick der Vereidigung. Doch auch von der Gestalt Jacqueline Kennedys fällt das meiste weg, bis schließlich vom ursprünglichen Bild, z. B. demjenigen der Vereidigung Johnsons (Abb. 29), nur noch Jackies Gesicht übrig bleibt (vgl. die zweite Bildreihe von Sixteen Jackies). Diese »Bildreste« können dem Geschehen nur noch vage zugeordnet werden: die Aufnahmen der lachenden Jackie, so kann man schließen, dürften der Zeit vor der Ermordung des Gatten entstammen, diejenigen der ernsten Jackie hingegen der Zeit danach. Die Siebe, die Warhol von den photographischen Ausschnitten fertigt, druckt er auf jeweils vier Tafeln, die alle das Format von 50 cm x 40 cm aufweisen und entweder blau oder weiß grundiert sind.
Bei der Anordnung der Tafeln zum Gesamtbild läßt Warhol die chronologische Ordnung, die für die Schilderung von Ereignissen wesentlich ist, außer acht. Die oberste Reihe von Sixteen Jackies zeigt Jacqueline Kennedy unmittelbar vor der verhängnisvollen Fahrt durch Dallas. Dann folgen die Tafeln, auf denen Jackie im Augenblick von Johnsons Vereidigung zu Sehen ist. In der dritten Reihe steht Jackie vor dem Weißen Haus, in Erwartung des Trauerzuges zum Kapitol. Bis hierhin ist die chronologische Ordnung gewahrt. Die vierte Reihe springt nun aber zum Anfang zurück und zeigt erneut Jackie vor der Fahrt durch Dallas. Das politisch und historisch höchst bedeutsame Geschehen der Ermordung Kennedys verkürzt Warhol also nicht nur auf die Wandlungen von Jaqueline Kennedys Gesichtsausdruck, auf eine Emotionsstory von Fröhlichkeit und Trauer; in einem zweiten Schritt nimmt er dieser bereits minimalisierten Geschichte selbst noch ihre innere Kohärenz.
Die durch das Attentat ausgelöste Krise wird jedenfalls vom Fernsehen meisterlich bewältigt. Kurz nach Kennedys Tod beschließen die landesweit sendenden Kanäle ABC, CBS und NBC, alle laufenden und geplanten Programme auszusetzen und bis zum Begräbnis am Montag auf Direktsendung zu schalten. So entsteht die bis heute längste und aufwendigste Live-Sendung der Fernsehgeschichte. »Es war wahrscheinlich der Höhepunkt des Fernsehens. Ich kenne nichts, was vordem oder danach diese Spitzenleistung erreichte. … Ich war für die gesamte Berichterstattung verantwortlich. Es war eine schwierige Aufgabe, aber jedermann kooperierte; wir hatten Kameras an allen Orten, wir hatten Leitungen von überall her – die Berichterstattung und die Zusammenarbeit des Fernsehens war einfach absolut großartig«, so beschreibt J. Leonard Reinsch, Kennedys Medienberater, seine damalige Aufgabe. Die Vorfälle dieses Wochenendes sind bereits im Augenblick ihres Geschehens in ein Medien-Ereignis transformiert, der historische Einschnitt der Ermordung Kennedys ist zugleich der Höhepunkt der Fernsehgeschichte. Heute nennt man es Reality-TV: während ABC und CBS am Sonntag den Vorbeizug der Trauernden am Sarg senden, schaltet NBC auf die Überführung Lee Harvey Oswalds, so daß die Zuschauer dieses Senders dessen Erschießung live miterleben können.
Die Gründe für die Medialisierung der Ereignisse reichen jedoch tiefer. Das Fernsehen spielt in diesen Tagen eine bislang unbekannte Rolle im politischen, sozialen und emotionalen Leben der Nation. J. Leonard Reinsch nennt sie die Herstellung einer »Gemeinschaft der Anteilnahme«: »Alle – ob sie nun in Atlanta, in Georgia, in New York City oder in Keokuk, lowa, waren – empfanden und fühlten wie ein einziger Mensch. Sie fanden zusammen in ihrer Trauer um die ermordete Führerfigur, und sie spürten, daß sie an dieser tragischen Zeremonie beteiligt waren. Das Fernsehen brachte sie an Ort und Stelle.« Die Bilder sollen beruhigen, indem sie den Schock und die Verunsicherung durch das plötzliche politische Vakuum regelrecht überspielen. Zum einen wird die augenblickliche und unangefochtene Übertragung der Macht auf den Vizepräsidenten für jeden sichtbar vorgeführt. Gleichzeitig wird Jacqueline Kennedy in den Mittelpunkt der (medialen) Aufmerksamkeit gerückt. Auch sie ist eine Garantin der Kontinuität, vor allem aber wird sie zur emotionalen ldentifikationsfigur. Ihre Trauer und gleichzeitig ihre Tapferkeit stehen stellvertretend für die Gefühle aller. Und schließlich praktiziert das Fernsehen eine Art »Bewältigung durch Wiederholung«. Hat die Live-Übertragung gerade nichts zu berichten – was in diesen vier Tagen häufig der Fall ist -, werden die bereits vergangenen Szenen des Wochenendes jeweils von neuem gezeigt. Die unentrinnbare Wiederholung der Bilder wird so zum selbständigen Bestandteil der Erinnerung an diese Zeit.
Was die Leistung des Fernsehens anbelangt, kommt Kennedys Präsidentschaft zu einem würdigen, beinahe folgerichtigen Abschluß. Kennedy ist der erste Präsident, der die Bedeutung und die Möglichkeiten des neuen Mediums nicht nur erkennt, sondern sie auch positiv wertet und zielstrebig einsetzt. Bereits im Wahlkampf weiß er es klug zu nutzen. Daß Kennedy das erste und entscheidende der neugeschaffenen Fernseh-Duelle zwischen den Spitzenkandidaten für sich entscheidet, liegt vor allem an seiner außerordentlichen Telegenität, die seinem Kontrahenten Richard Nixon völlig abgeht. Dank zugespielten Informationen der Fernsehgesellschaft CBS vermag Kennedy diesen Vorteil noch auszubauen. Er erhält davon Kenntnis, daß die Studiowand, vor der die Redner während der Debatte stehen werden, weiß gestrichen ist sowie daß ihr Auftritt von starken Scheinwerfern beleuchtet sein wird. So erscheint Kennedy frisch gebräunt (von einer Wahltournee in Kalifornien) und in dunklem Anzug. Den Zuschauern präsentiert sich eine »profilierte« Gestalt. Nixon hingegen, der einen hellen Anzug trägt, verschwimmt förmlich im Hintergrund, und im grellen Scheinwerferlicht erscheint seine wächserne Haut (er hat gerade einen Krankenhausaufenthalt hinter sich) bleich und unrasiert. Zudem evoziert sein geschwächter Zustand eine geringere »Standfestigkeit«. Die besseren Argumente, die ihm die politischen Kommentatoren zubilligen, haben in dieser optisch eindeutigen Situation nur mehr wenig zu besagen. In einer Blitzumfrage nach dem Rededuell betrachten bezeichnenderweise diejenigen, welche die Debatte am Radioverfolgt haben, Nixon als Sieger, während die Fernsehzuschauer – schätzungsweise 75 Millionen – sich klar für Kennedy aussprechen. Bedenkt man, daß Kennedy mit einer Mehrheit von nur rund 100 000 Stimmen gewählt wurde (34 221 463 gegen 34 108 582 Stimmen), dann wird die Bedeutung des Sieges in diesem Fernseh-Duell evident. Kennedy räumt nach der Wahl denn auch ein, daß ihm der Sprung ins Weiße Haus womöglich dank diesem Auftritt gelungen sei. Mit solchen Vorfällen jedenfalls beginnt die umfassende Veränderung der (nicht nur amerikanischen) politischen Kultur durch das Fernsehen.
Sixteen Jackies reflektiert diese Veränderungen. Das Bild zeigt, ebenso wie die anderen Arbeiten der Serie, weniger das Geschehen als vielmehr dessen mediale Aufbereitung. Warhols »Historienbild« zeigt Historie im Zeitalter der Medien, zugleich ein Stück Medien-Historie.
»It didn’t bother me that much that he [Kennedy, M. L.] was dead. What bothered me was the way the television and radio were programming everybody to feel so bad«. [»Es beunruhigte mich nicht so sehr, daß er tot war. Was mich beschäftigte, war die Art, wie Fernsehen und Radio jedermann darauf programmierten, sich schlecht zu fühlen.«], äußert Warhol später.
Die Verschiebung zeigt sich an der Herstellungsweise des Bildes. Die Entkontextualisierung (die Reduzierung der photographischen Sachverhalte auf Jacqueline Kennedys Gesichtsausdruck) spiegelt die von den Medien forcierte Personalisierung und Emotionalisierung des Geschehens, die Verwischung der Grenzen von Politik und Hollywood. Die Kombinatorik (das Zeigen der verschiedenen Bildmotive im stets gleichen Raster von 50 cm x 40 cm) parallelisiert die Verwandlung eines realen Geschehens ins Fernsehbild. Dessen Bildschirm hat mit Warhols Tafeln gemeinsam, die Fülle des Sichtbaren im immergleichen Rahmen erscheinen zu lassen. Sowohl der genormte Bildschirm wie Warhols standardisierte Leinwand sind Projektionsflächen, die dem Gezeigten gegenüber indifferent bleiben.
In dieser Perspektive ist schließlich auch die serielle Anordnung der sechzehn Tafeln zu sehen. Es ist offensichtlich, daß Sixteen Jackies trotz der nicht durchgehaltenen chronologischen Ordnung keineswegs strukturlos ist, ganz im Gegenteil. Verschiedene formale Bezüge zwischen den einzelnen Bildreihen sind festzustellen. So wechseln sich die Farben weiß und blau gleichmäßig ab und ergeben eine Art »Reimschema«: a-b-a-b. Diesem »Reim« entspricht die Ausrichtung der Köpfe: rechts-links-rechts-links. Eine zweite Beziehungsform (mit dem anderen »Reimschema« a-b-b-a) entsteht durch die emotionale Abfolge von lachen-trauern-trauern-lachen. Die horizontale Mittelachse des Bildes ist im ersten und im zweiten Fall (weiß-blau bzw. rechts-links) die Stelle, an der sich diese Abfolge zu wiederholen beginnt, im dritten Fall (lachen-trauern) die Linie, an der sie sich spiegelt (trauern-lachen). Des weiteren werden die Bilder dadurch verklammert, daß die horizontalen wie auch die vertikalen Reihen aus jeweils vier Tafeln bestehen. Das stärkt nicht nur die formale Kohärenz, sondern bringt zugleich die Simultaneität der horizontalen Reihen (viermal derselbe Augenblick) mit der Sukzession der vertikalen Reihen (viermal ein anderer Augenblick) in einen Dialog. Und schließlich führt es dazu, daß auch die diagonale Lektüre (das »Querlesen«) dieselbe sukzessive Tafelabfolge mit denselben »Reimen« ergibt.
Die durchdachte Organisation von Sixteen Jackies ist kein Einzelfall. Sie ließe sich auch an anderen Bildern der Serie aufweisen. Wesentlich jedoch ist, daß die Ordnung der Bilder stets eine rein formale, gleichsam arithmetische ist. Mit der Ordnung der historischen Ereignisse hat sie nicht nur nichts zu tun, sondern ist sogar nur auf deren Kosten möglich. So stellt sich z. B. die spiegelbildliche Entsprechung von erster und letzter Bildreihe zwar der Chronologie entgegen, schließt dafür aber Anfang und Ende, Oben und Unten des Bildes symmetrisch zusammen.
Lachende Jackie, weinende Jackie, weinende Jackie, lachende Jackie, ad infinitum: die »Historie«, die Warhol erzählt, ist die Transformation eines Geschehens in ein Stakkato von simplifizierten, emotional aufgeladenen und unablässig wiederholten Bildern außerhalb jeden Zusammenhangs.
»[Television] is just a lot of pictures: cowboys, cops, cigarettes, kids, war, all cutting in and out of each other without stopping. Like the pictures we make.« [»[Das Fernsehen] besteht nur eben aus einer Menge von Bildern: Cowboys, Polizisten, Zigaretten, Kinder, Krieg, alles ein-, aus- und ineinandergeblendet ohne Ende. Wie die Bilder, die wir machen.«], sagt Warhol in einem Interview.
Das Bemerkenswerte an Sixteen Jackies aber ist, daß sich die Bilder trotz der seriellen Wiederholung und der zyklischen Wiederkehr nicht verbrauchen, sondern ihre Frische und Unmittelbarkeit bewahren. Diese eigentümliche Kraft liegt am Eigenleben, das sie in Sixteen Jackies entfalten, an ihrem Vermögen, eine »Geschichte« eigener Art zu erzählen. Sie entwickeln einen bildlichen Eigensinn, der sich vom primären Bildsinn (nämlich bestimmte, einmalige Ereignisse zu dokumentieren) emanzipiert und ihn zugleich überlagert. Das aber kennzeichnet bereits das Geschehen des Novemberwochenendes 1963 selbst, sind doch die Ereignisse, die sich in Sixteen Jackies unablässig wiederholen, immer schon Bilder gewesen, bestand doch deren Realität bereits für die Zeitgenossen in der »Realität« einer perfekt konstruierten Live-Reportage. Es ist diese Identität von Sein und (medialem) Erscheinen, die es jedem Bild ermöglicht, auch in der redundantesten Wiederholung das ganze Sein dessen hervorzubringen, was es zeigt. Darin tritt Jackie Kennedy, für Warhol »the most glamorous First Lady we’ll ever get« [»die zauberhafteste First Lady, die wir je haben werden«], einem Star wie Marilyn Monroe gleichberechtigt an die Seite.
»History«, schreibt Warhol in der Philosophy of Andy Warhol, »will remember each Person only for their beautiful moments on film – the rest is off-the-record.« [»Die Geschichte wird sich einer Person nur aufgrund ihrer schönen Momente im Film erinnern – das übrige fällt in Vergessenheit.«]

Einleitung
Kapitel I: Der Anlaß
Kapitel II: Die Vorläufer
Kapitel III: Die Einordnung
Kapitel IV: Die reproduzierte Mona Lisa
punkt Kapitel V: Pictorial Design
Andy Warhol - thirty are better tahn one - Pfeil Kapitel VI: Das Dilemma des Malens
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Andy Warhol Benjamin Reproduzierbarkeit Aura Last Supper

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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One

Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)

Kapitel IV: Die reproduzierte Mona Lisa

Warhols Paraphrase handelt nun nicht allein von dem eigentümlichen Status von Gemälde und Person der Mona Lisa. Thirty Are Better Than One thematisiert, indem es eine dreißigfach reproduzierte Mona Lisa vor Augen stellt, zugleich die Tatsache sowie die Konsequenzen der Reproduzierbarkeit des Originals.
In seinem grundlegenden Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/39) hat Walter Benjamin die Umwälzungen analysiert, die die Möglichkeit der Reproduktion für den Begriff der Kunst sowie für den Umgang mit der Kunst bedeuten. Aus dem vielschichtigen Ganzen seines Textes hat die These, daß das Kunstwerk aufgrund der Reproduzierbarkeit seine Aura verliere, besondere Beachtung gefunden. Sie ist zum vielgenannten Stichwort der Kunst- und Kulturkritik geworden. Auch in der Diskussion um Warhol spielt diese These, manchmal explizit, stets jedoch implizit, eine große Rolle. Tatsächlich wirft Warhols reproduktives Bildverfahren die Frage des Verhältnisses von Original und Reproduktion unmittelbar auf. Thirty Are Better Than One fügt dem reproduktiven Verfahren gleich noch die Thematik eines reproduzierten Kunstwerks hinzu. Warhols Bild ist gleichsam eine Illustration zu Benjamins Text, umgekehrt könnte der Titel von Benjamins Aufsatz der Untertitel zu Warhols Paraphrase sein.
Benjamins These vom Auraverlust ist jedoch sowohl an sich wie auch in der »Anwendung« auf Warhol sorgfältig zu betrachten. Eine vorschnelle Anwendung führt in die Irre. Das liegt zunächst an Benjamins Text selbst. Dieser schwankt zwischen rückwärts blickender Trauer und emanzipatorischer Zuversicht – eine Ambivalenz, die sich bei der These vom Auraverlust selbst zeigt. Spricht Benjamin vom »Verfall« und vom »Verkümmern der Aura«, eröffnet er eine Verlustrechnung. So vergleicht er die Aura mit dem Blick eines Menschen, der den unseren erwidert: »Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.« Das reproduzierte, seiner Aura beraubte Kunstwerk erscheint deshalb wie ein »blickloses Auge«, in dem »das Schöne keine Stelle hat«. Da das auralose Kunstwerk unseren Blick nicht erwidert, kann ihm auch nicht länger eine »aufmerksame«, sondern nur eine »zerstreute Wahrnehmung« entsprechen. Denselben Umbruch wendet Benjamin jedoch ins Positive, wenn er den Verlust der Aura an anderer Stelle als »Befreiung des Objekts von der Aura« beschreibt. Diese Befreiung ist für Benjamin notwendig, damit das Kunstwerk zur politischen Waffe umgeformt werden kann. Der Standpunkt, den Benjamin gegenüber diesen so zwiespältig beschriebenen Umwälzungen selbst einnimmt, bleibt offen. Er ist, wie Theodor W. Adorno bemerkt, »ausgespart«.
Dieselbe Ambivalenz weisen nun auch die Schlußfolgerungen auf, wenn Benjamins These auf Warhols Bilder übertragen wird. Marxistisch argumentierende Kunsthistoriker sehen in Warhols Bildverfahren, das aufgrund seiner reproduktiven Technik die Kunst »von der Aura befreit«, die kritische Destruktion der bürgerlich-kapitalistischen, auf die Autonomie des Werks ausgerichteten Kunstpraxis. Sie übernehmen damit die politische, auf die Emanzipation des Subjekts zielende Ausrichtung von Benjamins Text. Die konservative Kunstkritik hingegen begreift die »leeren, blicklosen« Bilder als Beweis eines zynischen, nihilistischen Bewußtseins. Sie lesen Warhols »Kunst« als Symptom des kulturellen Verfalls. Wenn diese Wertungen nicht nur eindimensional erscheinen, sondern vor allem die in den Bildern aufgeworfenen Probleme erheblich verkürzen, so ist dies eine Tendenz, von der auch Benjamins Text nicht frei ist, spielt Benjamin doch ein »rückständigstes Verhalten zur Kunst, z. B. einem Picasso gegenüber«, gegen ein »fortschrittlichstes, z. B. angesichts eines Chaplin«, aus.
Doch das Übertragungsproblem zeigt sich nicht nur im Gegensatz der Wertungen. Es besteht auch deswegen, weil Warhols Bilder den Gegensatz von auratischem Original und auraloser Reproduktion, den Benjamin zur Grundlage seiner Argumentation macht, unterlaufen: sie scheinen beides zugleich zu sein. Offensichtlich reicht die bloße Tatsache, daß Warhol reproduktive Techniken verwendet, als Bewertungsgrundlage für seine Bilder nicht aus.

Walter Benjamins These vom Verlust der Aura

Um hier klarer zu sehen, ist es sinnvoll, zunächst einen Schritt zurückzugehen und Benjamins These des Auraverlustes genauer zu betrachten. Das bedingt in erster Linie, sie aus ihrer Isolation, in die sie durch die Rezeption geraten ist, zu lösen und sie im Zusammenhang der Argumentation zu sehen. In seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schreibt Benjamin also:
»Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. … Durch diesen Vorgang [wird] am Gegenstande der Kunst ein empfindlichster Kern berührt … Das ist seine Echtheit. Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. … So gerät in der Reproduktion, wo die erstere [die Echtheit, M. L.] sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken. … Was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache. Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit verkümmert, das ist seine Aura. … Und indem sie [die Reproduzierbarkeit, M. L.] der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese beiden Prozesse führen zu einer gewaltigen Erschütterung … der Tradition. …
Die ursprüngliche Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. … Es ist nun von entscheidender Bedeutung, daß diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst. Die Definition der Aura als »einmalige Erscheinung in der Ferne, so nah sie sein mag«, stellt nichts anderes dar als die Formulierung des Kultwerts des Kunstwerks in Kategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung. … Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes. … Diese Zusammenhänge zu ihrem Recht kommen zu lassen, … bereiten die Einsicht, die hier entscheidend ist, vor: die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual. Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks. Von der photographischen Platte z. B. ist eine Vielheit von Abzügen möglich; die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn. In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle der Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.«
Prüft man Benjamins Argumentation anhand des Falles der Mona Lisa – als das meistreproduzierte Kunstwerk der beste Prüfstein -, dann erweist sich die Argumentation als nur teilweise zutreffend. Durch die Reproduzierbarkeit ist weder »die Autorität« des Originals »ins Wanken geraten«, noch hat es sich »von seinem parasitären Dasein am Ritual emanzipiert«. Das Gegenteil scheint der Fall. Seit die Mona Lisa in ihren Reproduktionen »dem Aufnehmenden entgegen kommt«, reißt der Strom derjenigen, die nun ihrerseits das Original aufsuchen, nicht mehr ab. Das »Entgegenkommen« der Reproduktionen verhindert nicht einmal, daß die Mona Lisa »den Aufnehmenden« gleich selbst »entgegenkommt«: 1963 wie beschrieben nach Washington und New York, 1974, auf einer zweiten Reise, nach Tokio und Moskau. Die Reproduktionen waren die bloßen Vorboten des OriginaIs.Vor allem aber trägt das Geschehen, das sich hier abspielt, wenn die teilweise von weither gekommenen Menschen stundenlang ausharren, um nur eben einen Blick des Originals erhaschen zu können, tatsächlich die Züge des »Kultes« und des »Rituals«. Es gleicht einer Wallfahrt, bei der die Nähe zum Heiligen jede Mühe des Weges und des Wartens lohnt. Aufschlußreich ist auch ein paradoxes Verhalten, das so mancher Besucher der Mona Lisa an den Tag legt. Obschon er nun endlich dem Original gegenübersteht, bewaffnet er sogleich sein Auge mit der Kamera und fertigt eine weitere Reproduktion des Bildes an. Der einzige Sinn dieser eigenhändigen Reproduktion, die nicht nur völlig redundant, sondern auch wesentlich schlechter als jeder käufliche Kunstdruck ist, besteht im Vermögen, die persönliche Anwesenheit, das eigene »Hier und Jetzt« vor dem Original, zu dokumentieren. Sie ist gleichsam das gesegnete Heiligenbildchen, das er vom Wallfahrtsort nach Hause trägt.
Dem rituellen Umgang mit dem Bild entspricht schließlich auch die Hängung, wie sie in Washington und New York, in Tokio und Moskau vorgenommen wird: für die eigentliche Betrachtung zu fern und zu hoch, hinter schwerem Panzerglas, zudem stets flankiert von zwei Wächtern. Im Louvre ist das Gemälde, bei eigenen Abmessungen von 77 cm x 53 cm, mittlerweile in eine Kastenvitrine von 300 cm x 230 cm x 50 cm eingeschlossen, die Oberkante der Tafel befindet sich ca. 270 cm über dem Boden, eine Sicherheitsdistanz von mehr als zwei Metern darf nicht unterschritten werden. Die Mona Lisa ist, bereits was die äußeren Bedingungen der Wahrnehmung betrifft, durch eine »Unnahbarkeit« ausgezeichnet, die Benjamin als »eine Hauptqualität des Kultbildes« definiert. Auraverlust durch technische Reproduzierbarkeit?
Benjamins Analyse ist vor allem deswegen korrekturbedürftig, weil sie zwei grundlegend verschiedene Dinge unter demselben argumentativen Horizont betrachtet: zum einen die Reproduktionen eines Kunstwerks, z. B. der Mona Lisa, und zum anderen die Kunstwerke, die bereits in reproduktiver Technik gefertigt sind, nämlich Photographie und Film. In Bezug auf letztere ist die Bemerkung Benjamins, bei ihnen »versage« der an die Kunstproduktion üblicherweise angelegte »Maßstab der Echtheit«, tatsächlich zutreffend. Das ist nicht nur deshalb so, weil die photographische Platte, von der die einzelnen Abzüge gemacht werden, kaum als Original bezeichnet werden kann. Vor allem existiert das »Echte« – die Realität, die der Photographie oder dem Film zugrundeliegt – nur noch im Dokument des photographischen bzw. filmischen Bildes. Die Rückkehr zu ihm ist unmöglich, denn das, was das Filmbild oder die Photographie zeigen, ist ein vergangener, unwiederbringlicher Augenblick. Doch bei der Reproduktion eines Kunstwerks hat der »Maßstab der Echtheit« allerdings einen Sinn. Das Original ist auch nach dem Anfertigen einer Reproduktion unverändert da. Es kann, als das »Echte«, nach wie vor aufgesucht und angeschaut werden. Jede photographische Reproduktion eines Kunstwerks macht damit offenbar, lediglich der Abkomme eines Originals zu sein und dieses bloß zu vertreten. Entsprechend macht Benjamin auch keinen Unterschied zwischen der Betrachtung eines Films bzw. einer Photographie und der Betrachtung der Reproduktion eines Kunstwerks. Daß »die Reproduktion das Reproduzierte aktualisiere«, gilt zweifellos für die Photographie und den Film, deren inzwischen vergangener Bildgegenstand seine »Aktualität« nur mehr auf diese Weise entfalten kann. Doch was die Reproduktion eines Kunstwerks »aktualisiert«, ist etwas anderes, komplexeres. Es ist zugleich das Erkennen des Originals (z. B. der Mona Lisa) wie auch das Erkennen der Differenz zum Original. Was für den Abzug einer Photographie und eines Films nie zutrifft, ist damit für die Reproduktion eines Kunstwerks gerade konstitutiv: in erster Linie das Dokument eines »Echten« zu sein, das zwar abwesend ist, dennoch aber als solches existiert. Diese Dialektik der Reproduktion bestimmt den scheinbar paradoxen Umgang mit der Mona Lisa. Denn nur so kann es geschehen, daß die Allgegenwart der Reproduktionen das Verlangen, das »Hier und Jetzt« des Originals zu erfahren, nicht etwa aufhebt, sondern im Gegenteil noch zu steigern (oder überhaupt erst zu provozieren) vermag. Jede Reproduktion, die als Stellvertreterin das Original aufruft, gießt weiteres Wasser auf die Ruhmesmühle und hält sie in Gang.
In anderer Hinsicht jedoch ist Benjamins Analyse völlig zutreffend. Das betrifft seine Beschreibung, wie das Kunstwerk durch die Reproduzierbarkeit aus der »Einbettung in den Traditionszusammenhang« herausgelöst wird. In der Tat haben die Reproduktionen, die Mona Lisa dem Getriebe der Massenkultur unterwarfen, »das von Ursprung her an ihr Tradierbare«, ihre »geschichtliche Zeugenschaft«, aufgehoben. Wenn Leonardos Bildnis nach wie vor ein auratisches Kunstwerk und vielleicht mehr denn je ein Kultobjekt ist, so ist seine Aura mittlerweile doch ganz anders bestimmt, als Benjamin sie definiert. Bei Benjamin ist »Einzigkeit« und »Tradition«, »Autorität« und »Geschichte« noch selbstverständlich verknüpft. Diese Verknüpfung ist aufgehoben. Der Reproduktionsprozeß, der Mona Lisas »neue Aura« der »Einzigkeit« und »Autorität« absoluten Ruhms hervorbringt, liquidiert gleichzeitig ihre »alte Aura« der »Tradition« und der »Geschichte«.

Die Verschlingung von Original und Reproduktion

Diese anhand von Benjamin gewonnenen Differenzierungen sind für Thirty Are Better Than One von entscheidender Bedeutung. Es ist festgestellt worden, daß Warhols Siebdrucke die malerische Feinheit und Komplexität des Originals auf eine Schablone aus Schwarz und Weiß reduzieren. Sie treiben die Differenz zwischen Reproduktion und Original bis zur Grenze, an der von Leonardos Werk nur mehr die schiere Wiedererkennbarkeit (»das ist Mona Lisa«) übrigbleibt. Auf diese Weise aber bringt Warhol das Verhältnis von Original und Reproduktion auf den Punkt. Denn der Ruhm und die Größe der Mona Lisa ermißt sich daran, daß sie nicht erst einer genauen Würdigung unterzogen werden muß, um in ihrer Einzigartigkeit erfaßt zu werden. Nur gerade das Erkennen des Gemäldes als solches muß gewährleistet sein, und dafür reicht selbst die ungefährste visuelle Spur. Damit erweisen sich Warhols Siebdrucke der »heutigen« Mona Lisa sogar angemessener als die sorgfältigen Kunstdrucke, die den malerischen Qualitäten des Originals gerecht zu werden versuchen. Nur was augenblicklich wiedererkannt wird, ist wirklich berühmt. Und nur was wirklich berühmt ist, vermag sich selbst in der miserabelsten Reproduktion zu »aktualisieren«. Warhols Siebdrucke folgen dieser Logik massenkommunikativen Ruhms: weniger ist mehr. Der Dialektik der Reproduktion entspricht hingegen auch Warhols serielle, dreißigfache Wiederholung des Drucks. Denn es gehört zu derselben Logik, daß je öfter etwas zu sehen ist, desto bedeutender es sein muß. Nur was endlos wiederholt wird, ist wirklich groß. So folgt Warhols Paraphrase auch dieser Logik: mehr ist mehr.
Die unlösbare Verschlingung von Original und Reproduktion erfährt schließlich derjenige, der die Mona Lisa in ihrem »Hier und Jetzt« aufzusuchen unternimmt. Im Louvre wird er nicht viel mehr sehen als das, was er als inneres Bild der Mona Lisa in sich trägt, ein Bild, das viel lebendiger und facettenreicher ist als die Tafel an der Museumswand. Das Original wird meist als Enttäuschung erfahren: man hat es sich bedeutender vorgestellt. Die Enttäuschung erfolgt, weil die Einzigartigkeit der Mona Lisa, die in der universalen Präsenz im Gedächtnis der Menschen besteht, dem Original selber gar nicht abgelesen werden kann. Ein zweites kommt hinzu. Die bereits vorhandene und mitgebrachte Kenntnis des Bildes, das Vor-Wissen, ermöglicht zwar das augenblickliche Wiedererkennen, verunmöglicht hingegen, das Bild als solches überhaupt noch zu sehen. Die Reproduktionen haben einen »Schlamm der Gewohnheit« ausgebildet, der die Wahrnehmung »mit einer undurchdringlichen Schicht bedeckt« (Samuel Beckett). Der Weg zum Original endet in diesem sedimentierten »Schlamm«, und es ist dieser »Schlamm«, in dem sich jeglicher »Traditionszusammenhang« (Benjamin) verliert. So ist die Mona Lisa nicht nur aus objektiven Gründen (aufgrund der Art und Weise der musealen Präsentation) nicht mehr zu sehen, sondern ebensosehr aus subjektiven Gründen. Das Panzerglas, hinter dem das Bild verschwunden ist, ist außerdem »schlammbedeckt«.

Eine zweite Leonardo-Paraphrase

Eine weitere Serie von Leonardo-Paraphrasen, die ab 1985 als eine der letzten Werkgruppen entsteht, gilt diesmal dem Wandbild des Abendmahls, das sich im Refektorium von S. Maria delle Grazie in Mailand befindet (Abb. 15). Warhols Ausgangspunkt für die in verschiedener Technik gearbeiteten Bilder sind: eine dreidimensionale Kitschversion von Leonardos Abendmahl, die ihrerseits die Kopie einer dreidimensionalen Version aus dem 19. Jahrhundert ist; die Reproduktion einer klassizistischen Kopie des Gemäldes, die ebenfalls dem 19. Jahrhundert entstammt; und schließlich eine in einem kunsthistorischen Überblickswerk publizierte schematische Liniennachzeichnung. Diese Quellen unterwirft Warhol den üblichen Transformationen, sie werden abgelichtet, vergrößert, zum Drucksieb umgewandelt usw., außerdem in einigen Fällen (wie in Abb. 15) nachgemalt. Was aber paraphrasieren die Last Suppers? Geht man von einem dieser Bilder den Weg zurück zu dem, was am Ursprung der Paraphrase stand, so findet man sich vor Bildern bzw. vor einem Objekt wieder, die sich in allem: in ihrem Medium, ihrer Entstehungszeit, ihrem Stil und ihrer Gattung, vom originalen Wandbild im Refektorium von S. Maria delle Grazie unterscheiden. Leonardos Original hingegen kommt nicht in den Blick, so wie es denn im Prozeß von Warhols Bildherstellung auch keine Rolle gespielt hat. Das Original ist der blinde Fleck der Last Suppers.
Doch bemerkenswerterweise scheint das gar kein Mangel zu sein, sondern gerade in der Abgehobenheit von Leonardos Original der Sinn und die Qualität von Warhols Paraphrase zu liegen. Denn Warhols Last Suppers künden nicht nur vom Verschwinden eines Bildes, sondern vor allem von seinem Beharrungsvermögen, seiner Persistenz. Warhol braucht nur einen Splitter von Leonardos Wandbild zu präsentieren, er mag es durch noch so viele Filter und Masken hindurch tun, ja er kann sogar überhaupt nur von solchen Masken sprechen – die Spur, die sich von Leonardos Bild erhält, genügt, um das Original aufzurufen und die Dialektik der Reproduktion in Gang zu setzen. Doch was dasjenige ist, das man in dieser Flucht der Repliken wiedererkennt, bleibt dunkel, ist jedenfalls durch die Antwort, es sei Leonardos Wandbild in S. Maria delle Grazie, gerade nicht geklärt. Warhols Last Suppers sind die visuelle Metapher eines Bildes in Latenz.
Als man von Warhol den Grund seiner Abendmahl-Paraphrasen wissen wollte, gab er zur Antwort: Because Iolas asked me to do the Last Supper. He got a gallery in front of the other Last Supper.« [»Weil Iolas mich bat, das Abendmahl zu machen. Er hat eine Galerie gegenüber dem anderen Abendmah1.«] Mit dem »Abendmahl« meinte Warhol seine Paraphrase. Mit dem »anderen Abendmahl« hingegen meinte er Leonardos Wandbild. Es sind dieselbe Gleichstellung und Vermengung des Verschiedenen, die auch Thirty Are Better Than One prägen. Denn es bleibt unentscheidbar, wofür hier eigentlich »Thirty« beziehungsweise »One« stehen: für Originale, für Reproduktionen, für die Mona Lisa selbst?
Und dennoch ist der Verweis auf das Original das unabdingbare Fundament der Last Suppers wie der Mona Lisas. Denn so wie die konstruierten Images eines Stars nur deswegen unser Interesse zu fesseln vermögen, weil sie immer auch das Abbild eines wirklichen, lebenden Menschen sind, so ziehen die Phantasmagorien des Abendmahls und der Mona Lisa, diese Sedimente endloser Reproduktion, ihre Kraft daraus, sich als Abkommen eines zwar mythisierten, aber dennoch tatsächlich existierenden Originals auszuweisen, das aus der Ferne in ihnen aufscheint.

Einleitung
Kapitel I: Der Anlaß
Kapitel II: Die Vorläufer
Kapitel III: Die Einordnung
punkt Kapitel IV: Die reproduzierte Mona Lisa
Andy Warhol - thirty are better tahn one - Pfeil Kapitel V: Pictorial Design
Kapitel VI: Das Dilemma des Malens
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Andy Warhol Star Starportrait Marilyn Monroe

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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One

Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)

Kapitel III: Die Einordnung

Auf den einzigartigen Status der Mona Lisa antwortet Warhol mit ihrer Einordnung unter die Stars. Die Mona-Lisa-Paraphrasen sind Teil seiner Galerie der Starportraits. Diese Reaktion, einsichtig und widersinnig zugleich, verdient eine genauere Betrachtung. Der Rahmen dafür muß ein zweifacher sein, zum einen das Phänomen des Stars allgemein, so wie es sich in der Filmindustrie Hollywoods um 1915 herausbildet und um 1960 einen (vielleicht letzten) Höhepunkt erlebt, und zum anderen Warhols bildnerischer Umgang damit.
Mit der Zuwendung zu diesem größeren Feld ist zugleich ein Hauptstrang von Warhols Werk berührt, in dem Stars eine herausragende Rolle spielen. Die Porträts z. B. von Marilyn Monroe oder Liz Taylor (Abb. 11 u. 12) gehören nicht nur zu den bedeutendsten und bekanntesten Arbeiten des Künstlers, sie haben sogar, besonders im Falle Marilyn Monroes, das Bild des jeweiligen Stars wesentlich mitgeprägt. Wichtig dabei ist, daß der Erfolg der Starportraits seinen Grund weder ausschließlich in der Berühmtheit der Dargestellten noch in der Berühmtheit von Warhol selbst hat. Er beruht vielmehr auf ihrer Eigenschaft, ein grundlegendes Merkmal des vielschichtigen (psychologischen, soziologischen, ökonomischen) Phänomens Star, herauszustellen und sichtbar werden zu lassen – die Beziehung des Stars zu seinem Bild.

Der Star

Der Star ist eine Bild-Realität, und das in einem zunächst ganz wörtlichen Sinne. Die Vorstellung, die man von ihm besitzt, wird durch das bestimmt, was die Photographien und die Filmbilder als seine unverwechselbaren Züge, als seinen individuellen Habitusvermitteln. So wahrheitsgetreu jedoch diese Bilder sein mögen (und als technische Bilder stehen sie im Ruf, wahrheitsgetreu zu sein), der Star ist doch offensichtlich mehr als diese öffentliche Schauseite seiner Bilder. Je größer die Ausstrahlung der Bilder, desto größer ist die Neugier auf den Menschen hinter dem Bild. Man möchte wissen, wer der Star in Wahrheit, als wirklicher, privater Mensch ist. Sowohl historisch wie strukturell ist der Star gerade dadurch definiert und vom bloßen Schauspieler unterschieden, daß er als Persönlichkeit interessiert, ja daß die Person des Stars zum eigentlichen Brennpunkt der Aufmerksamkeit wird. So hat sich als fester Bestandteil des sogenannten Star-Systems eine Publikationsindustrie etabliert, die den Wunsch, in das private Dasein der Stars einzudringen, zu befriedigen verspricht.
Das Eigentümliche ist nun aber, daß die Neugier auf die wahre Persönlichkeit des Stars nie befriedigt wird – weil sie weder befriedigt werden soll noch befriedigt werden kann. Das Wissen über das Individuum hinter dem Bild speist sich, indem es aus Magazinen, Biographien, Interviews, Bildreportagen usw. stammt, wiederum nur aus Sekundärem, aus »Bildern«. Obschon diese Publikationen und Sendungen ihre Auflagenstärke und Einschaltquoten aus der Behauptung ziehen, der Oberfläche des Stars die Tiefe seiner wahren Persönlichkeit hinzuzufügen, entpuppt sich diese Tiefe als bloße Verknüpfung weiterer Oberflächen sprachlicher und bildlicher Art. Die »Wirklichkeit« hinter dem photographischen Bild ist, mit einem Begriff der Literaturwissenschaft gesprochen, ein intertextuelles Konstrukt.
So ist der »wirkliche Mensch« erneut ein Bild: das spezifische Image, das meist von der Filmgesellschaft, die den Star lanciert, gezielt aufgebaut wird. Das lmage soll weder zu eigentümlich noch zu allgemein, weder zu abseitig noch zu banal sein, damit der Star sowohl als Projektionsfläche für unsere Wünsche zu dienen vermag als auch die Identifikation mit ihm möglich bleibt. Die Enthüllungen über den Star als Menschen sind deswegen stets sowohl sensationell wie auch Bestätigungen der Klischees. Im Spiel von Oberfläche und »Tiefe«, von photographischem Bild und kalkuliertem Persönlichkeitsbild, bleibt der Star eine undurchdringliche Erscheinung, geheimnisvoll und auratisch wie sein klingender Name.
Historisch ist die Bild-Wirklichkeit des Stars eine Erscheinung der technischen Medien von Photographie und Film. Erst deren Entwicklung erlaubt eine so universale Verbreitung seines Antlitzes, daß es jedem vertraut werden kann. Und erst indem die Photographie die Wahrhaftigkeit des Bildes mit der Möglichkeit verbindet, einen Menschen von Angesicht zu Angesicht betrachten zu können, ohne ihm je Auge in Auge gegenübergestanden zu haben, kann die voyeuristische Spannung entstehen, die zwischen dem Star und seinem Bewunderer besteht. Sie ist die Folge davon, daß die absolute Sichtbarkeit des Stars stets an die Verborgenheit seiner Persönlichkeit gekoppelt bleibt.
Doch nicht nur historisch gesehen ist der Star das Erzeugnis der visuellen Massenkommunikation; er ist es auch im jeweiligen Einzelfall. Denn die Größe eines Stars liegt nicht primär in seiner Schauspielkunst, sondern in der Eignung als Rohstoff für ein Image. Wichtiger als der Vorweis dramatischen Könnens ist Hollywood das Ergebnis des sogenannten screen test, in dem ein Bewerber auf seine filmische Photogenität geprüft wird. Die Konsequenz ist die unterschiedliche Beziehung des Schauspielers zu seiner Rolle in Theater und Film. Im Theater ist die literarische Figur (z.B. Shakespeares »King Lear«) die Konstante, der Schauspieler hingegen die Variable, die danach beurteilt wird, wie glaubwürdig er die Rolle des King Lear zu verkörpern vermag und ob er ihr neue Aspekte zu entlocken weiß. Der Star-Film hingegen kehrt das Verhältnis um. Hier bildet der Star die Konstante, während die Rolle, ihm auf den Leib geschrieben, die Funktion der Variablen übernimmt, die danach bewertet wird, wie gut oder schlecht der Star in ihr »herauskommt«. Sein spezifisches lmage soll durch die neue Rolle zwar bereichert, aber keinesfalls durchbrochen werden.
So nimmt die Berühmtheit des Stars tautologische Züge an. Jedes neue Bild, jede neue Schlagzeile, ja sogar das erneute Zeigen der bekannten Bilder mehrt die Berühmtheit des Stars, ohne damit jemals etwas Neues mitzuteilen. Der Ruhm des Stars besteht schließlich in der schieren Berühmtheit selbst. Er ist, in einer Wendung Daniel Boorstins, nicht berühmt, weil er großartig ist, sondern großartig, weil er berühmt ist.
Das geschmeidige Gewebe der Images läßt sich nicht zerreißen. Selbst wenn der Star als Privatperson auftritt, ist sein Ich nur eine Funktion der Institution, die er verkörpert. Das Weinen bei der Oscar-Verleihung ist nicht echter und persönlicher als das Weinen als »X« im Film. Die Unterscheidung zwischen dem Star Marilyn Monroe und dem lndividuum Marilyn Monroe ist fiktiv, eine Fiktion allerdings, die von den Produzenten Hollywoods wie von den Fans aufrechterhalten und gepflegt wird. So steht in der Regel der Bewunderer eines Stars gleichzeitig den ausbeuterischen Machenschaften der Produzenten und der verleumderischen Presse ablehnend gegenüber. Er sieht den Star als deren Opfer, unter Ausblendung der Tatsache, daß auch das Opfer (das lndividuum hinter dem Star) ein Konstrukt des Star-Systems ist. Doch gäbe er sich darüber Rechenschaft, der Star vermöchte seine Aufmerksamkeit nicht länger zu erregen. Er wäre als Identifikations- und Projektionsobjekt so geeignet wie eine Märchenfigur oder ein antiker Gott. Nur wenn dem phantasmagorischen Gebilde Marilyn eine Wirklichkeit zugesprochen wird, nur wenn unser Assoziationsfeld gleichsam naturalisiert wird, kann der Star seine mythische Doppelrolle von gottähnlichem, archetypischem Wesen einerseits und irdischem, alltäglichen Menschen andererseits spielen.
Die Tragik Norma Bakers alias Marilyn Monroe, die am Mechanismus Hollywoods zerbrach, besteht in dieser Fiktion. Was die Öffentlichkeit als die »wahre Marilyn Monroe« begriff, hatte nicht mehr mit ihrer Identität (Norma Baker) zu tun als ihr öffentliches lmage als Star. Zwischen der Differenz, die den Star (Marilyn Monroe) von seiner Identität (Norma Baker) trennt, und der Indifferenz, die zwischen dem lmage und der »wahren Marilyn Monroe« besteht, herrscht ein unaufhebbarer Widerspruch – ein Widerspruch, der für Norma Baker tödlich war. »Ihr Scheitern, sich ihrem Bild in der Öffentlichkeit anzupassen, endete schließlich in Verzweiflung und Selbstmord«, vermerkt die Encyclopaedia Britannica lapidar. Das Bild hat über den Menschen triumphiert.

Das Beispiel der Marilyns

In seinen Porträts der Stars reagiert Warhol auf deren Bild-Realität in verschiedener Hinsicht. Bleiben wir beim Beispiel Marilyn Monroes (Abb. 11). Zunächst ist von Bedeutung, daß Warhol nicht das Porträt der lebenden, sondern der toten Marilyn Monroe schuf:
»The Monroe picture was part of a death series I was doing of people who had died by different ways. There was no profound reason for doing a death series, no ›victims of their time‹; there was no reason of doing it all, just a surface reason.« [»Das Monroe-Bild war Teil einer Todesserie, die ich von Menschen machte, die auf verschiedene Weise zu Tode gekommen waren. Es gab keinen tiefen Grund, eine Todesserie zu machen, es sollten keine ›Opfer ihrer Zeit‹ sein; es gab keinen Grund, das alles zu machen, nur einen Oberflächen- Grund.«]
In seiner Erklärung für die Marilyn-Serie, die ab 1962 in unmittelbarer Reaktion auf den Selbstmord der Dargestellten entsteht, trifft Warhol also dieselbe Unterscheidung, die im vorhergehenden Kapitel wesentlich war: der Grund dafür sei kein »tiefer« gewesen, sondern ein »Oberflächen-Grund«, »a sur-face reason«. Was diese Aussage für die Marilyns bedeutet, konkretisiert sich im bildnerischen Verfahren.
Da ist an erster Stelle die Tatsache, daß die Marilyns auf einer bereits existierenden, bekannten Photographie basieren. Diese Eigenart teilen die Marilyns mit den anderen Starportraits, ja mit praktisch allen Bildern Warhols: sie ist gewissermaßen Warhols Markenzeichen. Meistens wird diese Tatsache allein unter dem produktionsästhetischen Aspekt wahrgenommen, was zum Urteil führt, die Bilder seien als bloße Wiederholung von längst Bekanntem der Inbegriff einer unpersönlichen und indifferenten, ja nihilistischen Kunst. Dabei bleibt außer Betracht, ob und inwiefern der Entschluß, den eigenen Bildern bereits existierende Bilder zugrundezulegen, eine thematische Angemessenheit haben könnte. Diese Angemessenheit liegt nun bei den Starportraits gerade im Durchbrechen der herkömmlichen Vorgehensweise der Bildnismalerei, die auf der persönlichen und unmittelbaren Erfahrung des Malers von seinem Modell beruht. Denn es entspräche der Seinsweise eines Stars kaum, dessen Porträt anhand der unmittelbaren Anschauung der Person zu fertigen. Wenn einen Star zu porträtieren in Wahrheit bedeutet, eine surface (Oberfläche), ein Image zu porträtieren, dann handelt Warhol nur konsequent, wenn er das Bildnis dessen fertigt, als das der Star für die Öffentlichkeit existiert: das Bildnis seines photographischen Bildes.
Für die Marilyn-Serie greift Warhol auf eine Werbestandaufnahme für den Film »Niagara« aus dem Jahr 1953 zurück (Abb. 13). Es ist aufschlußreich, diese Photographie mit anderen bekannten Bildern des Stars zu vergleichen. Es fällt dann auf, wie maskenhaft ihr Gesicht hier erscheint, wie die Lippen sich in einer Weise verziehen, in der das Laszive keiner Spontaneität entspringt, sondern das Produkt einer sorgfältig einstudierten Pose ist. »Marilyn’s lips weren’t kissable, but they were very photographable.« [»Die Lippen Marilyns waren nicht zu küssen, doch sehr gut zu photographieren.«], so lautet Warhols Kommentar zu diesen Lippen, die er eigens und in 168-facher Vermehrung zu einer riesigen Doppeltafel verarbeitet hat (Abb. 14).
Den Konstruktcharakter von Marilyns Antlitz verstärkt Warhol in der Umarbeitung zum Tafelbild. Den Bildausschnitt der Photographie verengt Warhol radikal. Der Körper wird an der Kehle abgetrennt, übrig bleibt allein der starr ins Bild einquadrierte Kopf. Durch die Steigerung des Hell-Dunkel-Kontrastes wird Marilyns Gesicht zudem auf ein flaches Klischee reduziert, durch das der Blick hindurchzufallen scheint. Gleichzeitig jedoch erhöht diese Klischierung, unterstützt durch die schablonierten, grellen Farben, die Prägnanz der Gesichtszüge, während das Fokussieren des Kopfes das makellose Antlitz im wahrsten Sinne groß herauskommen läßt. Marilyns Gesicht ist flach und zugleich bodenlos, es ist erstarrt und entleert von allem, was an ihr Mensch ist, zugleich aber von gesteigerter Präsenz in dem, was sie zum Mythos macht, zum so hellen Stern, daß »neben ihm die Sonne verblaßt« (Arthur Miller).
Warhols Bildnis zeigt das Entstehen eines Mythos. Es zeigt, wie der primäre Sinn der Porträtphotographie, nämlich das naturgetreue Abbild eines Menschen zu sein, durch einen sekundären Sinn überlagert und verformt wird, der in diesem Menschen etwas anderes, neues sieht: die perfekte Kreatur, die sexuelle Wunschfigur, die Verkörperung des Amerikanischen Traums usw. Und es zeigt – und hier beginnt der Mythos -, wie dieser sekundäre Sinn, so sehr er eine Projektion sein mag, durch den Realismus, den die Photographie als »wahres Abbild« verbürgt, dennoch in der »Wirklichkeit« eines tatsächlich existierenden Menschen verankert wird. Die Marilyns sind fiktiv und realistisch zugleich, sie zeigen ein Wesen, das über den Menschen steht und dennoch einer von ihnen ist.
Erinnert man sich an die Tatsache, daß die Marilyn-Bildnisse auf den Selbstmord der Porträtierten reagieren und ein Teil einer Todesserie sind, dann stellt sich die Frage, warum sie keinen toten Menschen zeigen, sondern im Gegenteil Marilyn Monroe auf der Höhe ihres Glanzes. Die Frage verweist auf eine andere: was der Tod einer Figur bedeutet, die im Grunde nie gelebt hat, die deswegen aber auch solange nicht sterben wird, wie ihr Bild zirkuliert und unsere Phantasie anregt. Es ist letztlich die Frage, ob der Tod Marilyn Monroes nicht bereits in den Bildern wie der Werbeaufnahme für »Niagara« stattgefunden hat, während der tatsächliche Tod, der Freitod, gleichsam nur ein Nachspiel dazu war. Warhols Marilyn-Bilder, die den Tod und das Leben ineinanderblenden, in denen die Erstarrung zum Bild als höchste Form des Glamour erscheint, geben eine mögliche Antwort darauf.

Mona Lisa als Star

Selbstverständlich sind Mona Lisa und Marilyn Monroe nicht in derselben Weise Stars. Doch auch bei der Mona Lisa zeigt sich diese Überlagerung und Verformung des Sinns, auch sie wurde zu einer Projektionsfläche für Konnotationen ganz unterschiedlicher Art, die aber dennoch behaupten, in den realen Gegebenheiten des Bildes begründet zu sein. Ihr Glanz ist der Glamour der Stars, und es gilt auch für sie, daß sie nicht berühmt ist, weil sie großartig ist (so ist es einmal gewesen), sondern großartig, weil sie berühmt ist.
Die Marilyns und die Mona Lisas entsprechen sich aber vor allem darin, Bilder über Bilder, Porträts von Porträts zu sein. Der jeweilige Ausgangspunkt und das jeweilige Ergebnis der beiden Bildgruppen entsprechen sich jedoch nicht, sondern sind kreuzweise miteinander verbunden: sie bilden einen Chiasmus. Wenn die Bildkultur der Massenmedien und der Reproduktionsindustrie die Grenzen von Bild und Wirklichkeit unscharf werden läßt, dann führen die Marilyns die Variante vor, wie sich ein Mensch in seinem Image aufzulösen vermag. Die Mona Lisas hingegen zeigen, daß auch das Umgekehrte möglich ist, daß ein Gemälde das Dasein einer Quasi-Lebendigen annehmen kann, wie es das Empfangszeremoniell in den USA oder die Werbegraphik sichtbar werden lassen. Fertigt also Warhol das Porträt Marilyn Monroes, indem er ein photographisches Bild porträtiert, dann reflektiert er die Tatsache, daß bei ihr die Ebene des Menschen gar nie in den Blick kommt. Behandelt er hingegen die Mona Lisa, als wäre sie ein lebender Star, so reagiert er darauf, daß bei ihr die Ebene des Gemäldes gleichsam ausgefallen ist.

Einleitung
Kapitel I: Der Anlaß
Kapitel II: Die Vorläufer
punkt Kapitel III: Die Einordnung
Andy Warhol - thirty are better than one - Pfeil Kapitel IV: Die reproduzierte Mona Lisa
Kapitel V: Pictorial Design
Kapitel VI: Das Dilemma des Malens
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Andy Warhol Paraphrase Malewitsch Duchamp Werbung

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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One

Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)

Kapitel II: Die Vorläufer

Warhols Paraphrase Thirty Are Better Than One ist mit ihren Maßen von 280 cm auf 210 cm ein sehr großes Bild. Die dreißig Siebdrucke der Mona Lisa haben jeweils beinahe das Format des Originals. Mißt die Tafel Leonardos 77 cm auf 53 cm, so erreichen Warhols einzelne Drucke die Abmessungen von 56 cm auf 35 cm. Die Reproduktionen geben daher von beiden Werken einen unzutreffenden Eindruck. Wird die Größe des Leonardo meist überschätzt, so ist es beim Bild Warhols das Gegenteil. Die manchmal zu lesende Auffassung, Thirty Are Better Than One gleiche einem Briefmarkenbogen, ist irreführend. Der Betrachter sieht sich, was das Format betrifft, tatsächlich dreißig Mona Lisas gegenüber.
Warhol hat in die Gestalt des Originals nicht eingegriffen. Der einzige Unterschied zu Leonardos Werk besteht in dem Umstand, daß Warhols Mona Lisas Reproduktionen sind. Diesen Unterschied, die Differenz von Original und Reproduktion, hat Warhol jedoch augenfällig forciert. Das geschieht bereits durch das Weglassen der Farbe. Zudem streben die Siebdrucke nicht etwa Werktreue an, sondern erscheinen im Gegenteil, mißt man sie an den Möglichkeiten der Wiedergabetechnik und den Qualitätsmaßstäben der Reproduktionsindustrie, als äußerst dürftig. Alle Feinheiten des Originals, etwa der Gesichtsmodellierung oder des Landschaftshintergrundes, verschwinden in einem krassen Hell-Dunkel-Kontrast, der kaum Zwischentöne kennt. Das fällt bei der Mona Lisa besonders ins Gewicht, da Leonardo die subtile psychologische Durchdringung seiner Darstellung vor allem durch eine äußerst fein abgestufte Licht- und Schattenmodellierung erreicht. Zur Mangelhaftigkeit der Reproduktionen kommt schließlich ihre ungleichmäßige Qualität hinzu. Teils sind sie zu dunkel, teils hingegen zu schwach und verwischt gedruckt. Von Leonardos malerischem Können bleibt in Warhols Serigraphien kaum etwas bestehen.
Warhols zweite gestalterische Maßnahme besteht darin, das Sieb gleich dreißigfach auf eine einzige Leinwand abzudrucken. Nahtlos aneinandergrenzend sind fünf Reihen von jeweils sechs Mona Lisas zu einem gitterförmigen Muster zusammengefügt. Thirty Are Better Than One führt auf diese Weise gleich beide Folgen der technischen Reproduktion vor Augen: sowohl die qualitative Verminderung des Originals im einzelnen Druck wie auch die quantitative Vermehrung des Originals aufgrund der Möglichkeit der unbegrenzten Wiederholung. Andere Gestaltungselemente finden sich nicht. Warhol beschränkt sich darauf, die Mona Lisa seriell zu reproduzieren, doch er tut es in einer Weise, die die Konsequenzen für das Original drastisch hervortreten läßt. Es ist vor allem der Entschluß, dreißig Reproduktionen simultan vor Augen zu stellen, der die serielle Reproduktion nicht bloß als ein Mittel zur Bildherstellung erscheinen läßt, sondern als das eigentliche Thema des Bildes. Diese Feststellung läßt sich präzisieren, wenn man Thirty Are Better Than One den Paraphrasen anderer Künstler sowie der Verwendung der Mona Lisa in der Werbung gegenüberstellt. Das Nachzeichnen der Rezeptionsgeschichte der Mona Lisa erlaubt aber nicht nur, die Eigenart von Warhols Paraphrase zu erkennen. Es ermöglicht auch, die Ereignisse, die sich 1963 in den USA abspielen, als Kulminationspunkt einer Entwicklung zu sehen, die sich seit längerem angebahnt hatte.

Die Rezeption des Gemäldes

1503 nimmt Leonardo die Arbeit an der Mona Lisa auf. Praktisch gleichzeitig beginnt die lange Geschichte ihrer Rezeption. Deren erste Phase ist geprägt durch die Auseinandersetzung mit den kompositorischen und malerischen Neuerungen, welche die Mona Lisa in die Bildnismalerei einführt. Es entstehen etliche Kopien, und verschiedene Künstler übernehmen Gestaltungselemente des Bildes in ihre eigenen Porträts. Raffael, der wahrscheinlich Einblick in Leonardos Arbeit an der Mona Lisa hatte, ist darin der erste und eifrigste. Eine wohl 1504 entstandene Zeichnung (Abb. 3) übernimmt nicht nur die Haltung der Dargestellten, sondern auch die Brüstung, die sie vom Landschaftshintergrund trennt. Selbst die beiden flankierenden Säulen dürften der Mona Lisa entnommen sein, bei der sie erst später (Leonardo vollendet das Gemälde Ca. 1506) auf die kaum noch sichtbaren Fragmente von Schaft und Basis reduziert werden. Auch die meisten der späteren Bildnisse Raffaels folgen dem innovativen Figuraufbau der Mona Lisa, der eine dreieckige, harmonisch im Bildfeld ruhende Körperkontur ergibt (Abb. 4).
Die künstlerische Nachwirkung der Mona Lisa läßt sich bis weit ins 19. Jahrhundert verfolgen, bis zu dem Zeitpunkt also, an dem das Porträt als malerische Aufgabe seine Bedeutung einzubüßen beginnt. Im Bereich der Kopien zeigt dies eine vorzügliche, ca. 1834-1836 entstandene Tafel des Salonmalers Theodore Chassériau, im Bereich der Adaptationen Camille Corots 1869 gemalte Frau mit der Perle (Abb. 5). Corots spätes Porträt eines Mädchens seiner Nachbarschaft ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem klassischen Vorbild. Es übernimmt nicht nur Darstellungsformen von Leonardos Bildnis, sondern reflektiert zugleich die zeichnerische Variante Raffaels, die Corot vertraut war, da sie sich wie die Mona Lisa im Louvre befand und damals oft gezeigt wurde. Die Handhaltung, vor allem aber die zarte Modulation von Licht und Schatten bezeugen die eingehende Beschäftigung mit Leonardos Werk. Aus der Zeichnung Raffaels hingegen ist die beinahe melancholische Zurückhaltung übernommen, die an die Stelle von Mona Lisas Lächeln tritt. Genau dasjenige Merkmal fällt also weg, das den heutigen Blick auf den Leonardo so entscheidend prägt. Corot gelingt damit eine Paraphrase, die gerade durch ihre vom Vorbild unabhängige Ausdrucksqualität dem Bildnistyp der Mona Lisa zu einer letzten künstlerischen Renaissance verhilft.
An den rezeptionsgeschichtlichen Eckfiguren Raffaels und Corots wird ablesbar, wie Leonardos Porträt mehr als 350 Jahre einen künstlerischen Maßstab zu bilden vermag, an dem sich die Porträtmalerei orientiert. Giorgio Vasaris Lob aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die Mona Lisa sei ein Musterbeispiel für malerische Perfektion sowie für die Wahrhaftigkeit der Kunst, ist gleichsam das Leitmotiv dieser langdauernden Wertschätzung.
Gut siebzig Jahre nach Chassériaus Kopie und knapp fünfzig Jahre nach Corots Adaptation entstehen zwei Werke, die einen grundlegenden Wandel im Umgang mit Leonardos Bild bezeugen: Kasimir Malewitschs Komposition mit Mona Lisa von 1914 und Marcel Duchamps L.H.O.O.Q. von 1919 (Abb. 6 u. 7). Es ist vor allem die Entwicklung der Photographie, die in diesen siebzig Jahren nicht nur das Kopieren des Gemäldes obsolet werden läßt, sondern den Niedergang der Gattung des Porträts überhaupt beschleunigt. Doch obgleich die Mona Lisa aufgrund dieses Niedergangs ihren Vorbildcharakter für die Malerei verliert, avanciert sie gleichzeitig zum Fetisch einer bürgerlichen Kunstanschauung. Dabei verlagert sich die Aufmerksamkeit vom malerischen Können Leonardos, das für Raffael und Corot sowie für Vasari im Zentrum stand, auf die geheimnisvolle Wirkung, die das Gemälde auf den Betrachter ausübt. Mona Lisa wird zu einer Hieroglyphe, die nicht einfach als ein herausragendes Stück Malerei bewundert sein will, sondern deren Rätsel es zu entziffern gilt. Die literarische Rezeption des Gemäldes, vor allem in den einflußreichen Texten Theophile Gautiers (1863) und Walter Paters (1873), erkennt in der Mona Lisa die Gestalt des Ewigweiblichen, sieht sie als Verkörperung der femme fatale. Mit der Hinwendung zum Mysterium der Dargestellten geht ein verstärktes Interesse für ihren genialen Schöpfer und für die Bande, die die beiden verknüpft haben mochten, einher. Eine der bekanntesten Deutungen gibt Sigmund Freud, der in seiner Schrift Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910) das Verhältnis von Leonardo zu seinem Modell im Rahmen der Theorie des Ödipuskomplexes untersucht. Das Lächeln der Lisa del Giocondo habe in Leonardos Seele die Erinnerung an das Lächeln seiner Mutter wachgerufen, so daß das Bildnis der Mona Lisa letztlich als das Erinnerungsbild (als die »Reproduktion«, wie Freud sagt) der Mutter Leonardos, Caterina, anzusehen sei.
Durchschlagend berühmt wird Mona Lisa jedoch nicht durch diese literarischen und psychoanalytischen Schriften, sondern durch ihre plötzliche Abwesenheit. Am 22. August 1911 ist das Gemälde aus dem Louvre verschwunden. Der Skandal ist groß, vor dem sogleich geschlossenen Museum findet sich mehrere Tage lang eine aufgeregte Menge ein, die den Diebstahl und die Sorglosigkeit der Museumsleitung verhandelt. Die Zeitungen, in denen das Thema alles andere in den Hintergrund drängt, veröffentlichen verschiedene, teilweise kühne Theorien des Diebstahls. In der nationalistischen Erhitzung der Vorkriegszeit wird sogar die Regierung des Deutschen Reichs als Drahtzieher des Raubs verdächtigt, und was mit der Mona Lisa beginne, so steigern sich die Befürchtungen, ende gewiß mit dem Verlust sämtlicher Kolonien. In Deutschland kontert man mit der Behauptung, Frankreich habe den Diebstahl nur vorgetäuscht, um die Öffentlichkeit von den Bestrebungen abzulenken, den Kongo dem eigenen Kolonialreich einzuverleiben. Der französische Erziehungsminister bricht seinen Urlaub ab, um mit dem Ministerpräsidenten und dem Justizminister die Folgerungen und Maßnahmen zu besprechen. Der Direktor des Louvre, der unglücklicherweise behauptete, die Mona Lisa sei so sicher wie die Türme der Notre Dame, wird entlassen. Als das Museum nach einer Woche seine Tore wieder öffnet, strömen Unzählige in den Salon Carre, um die leere Wand zu betrachten. Die meisten von ihnen betreten, wie eine Befragung ergibt, den Louvre zum ersten Mal, haben also das Gemälde, dessen Fehlen sie nun bestaunen, nie gesehen. Als Wochen ohne Hinweis auf den Verbleib des Bildes vergehen, weicht der Schock der Witzelei. Die Nippes- und Souvenirindustrie floriert, und auch die Pariser Vergnügungswelt bemächtigt sich des Vorfalls. Kabarett-Szenen mit Mona Lisa werden gespielt, Gioconda-Walzer getanzt, ein Karnevalswagen umhergezogen, auf dem das Gemälde eine Flugreise unternimmt.
Mehr als zwei Jahre nach dem Raub, als die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Bildes längst geschwunden ist, spricht ein Herr, der sich anspielungsreich Leonardo Vincenzo nennt, bei einem Florentiner Kunsthändler vor und bietet ihm die Mona Lisa zum Kauf an, allerdings unter der Bedingung, sie müsse fortan in den Uffizien verbleiben und dürfe nie wieder nach Frankreich zurückkehren. Doch der offenbar reichlich naive Dieb wird rasch gefaßt und das Bildnis sichergestellt. Erneut erscheint Mona Lisa in den Zeitungen ganz Europas. Der Polizei gibt der Dieb zu Protokoll, er habe das (wie er meint) von Napoleon geraubte Bild wieder in die Heimat zurückbringen wollen. Die Behauptung trägt ihm die Unterstützung italienischer Nationalisten ein, die eine Verkürzung seiner Strafe auf die Hälfte durchsetzen. Nach Schaustellungen in Florenz, Rom und Mailand – wo während der beiden Ausstellungstage 60.000 Neugierige um einen letzten Anblick des Bildes kämpfen – kehrt Mona Lisa am 4. Januar 1914 in einem triumphalen Zug an ihren Platz im Louvre zurück.
Diese zweijährige »Reise« nimmt manches vorweg, das sich ein halbes Jahrhundert später in den USA ereignen sollte. In beiden Fällen hat die der Mona Lisa geschenkte Aufmerksamkeit nur sehr wenig mit dem Gemälde als solchem zu tun, und wohl gerade deswegen rückt die Mona Lisa sowohl hier wie dort schlagartig ins Bewußtsein auch derjenigen Öffentlichkeit, die sich gewöhnlich nicht für Kunst interessiert.
Auf diese völlig gewandelten Rezeptionsverhältnisse reagieren Malewitsch und Duchamp in jeweils eigener Weise. Malewitsch zitiert das Bild als Paradigma für den Kunstgeschmack der Bourgeoisie und ihrer Fetischisierung genialer Malerindividuen und Meisterwerke. In Komposition mit Mona Lisa (Abb. 6) bringt Malewitsch in programmatischer Weise seine Ablehnung zum Ausdruck, die er diesem Umgang mit der Kunst (und letztlich der bürgerlichen Kultur überhaupt) entgegenbringt. Er fügt seinem Bild eine beschnittene und zerschlissene Reproduktion der Mona Lisa ein, streicht sie mit roter Farbe doppelt durch und überklebt sie mit einem Inseratenschnipsel, auf dem die Worte »Wohnung zu vermieten« zu lesen sind. Mona Lisa, das Kultobjekt der traditionellen (und damit auch gegenständlichen) Kunstauffassung, steht verloren zwischen den monochromen geometrischen Formen, aus denen Malewitsch von nun an seine Werke komponieren wird. Sie wird gestrichen und ihr Platz (ihre »Wohnung«) für Zukünftiges frei erklärt. So veranschaulicht Komposition mit Mona Lisa nicht allein die Überwindung der traditionellen Malerei, sondern gleichzeitig die Ersetzung durch die revolutionäre Kunst des Suprematismus. In seinem Buch »Die gegenstandslose Welt« (1927) schreibt Malewitsch:
»Die Kunst der Vergangenheit, die (zum mindesten nach außen hin) im Dienste der Religion und des Staates stand, soll in der reinen (unangewandten) Kunst des Suprematismus zu einem neuen Leben erwachen und eine neue Welt – die Welt der Empfindung – aufbauen. […] Mir scheint, daß die Malerei Raffaels, Rubens, Rembrandts usw. für die Kritik und die Gesellschaft nichts als eine Konkretion von unzähligen »Dingen« geworden ist, die den eigentlichen Wert – die veranlassende Empfindung – unsichtbar macht.«
Duchamps Verwendung der Mona Lisa (Abb. 7) gleicht derjenigen Malewitschs in mancher Hinsicht. Auch er verwendet eine billige Reproduktion des Gemäldes, um sie in bilderstürmerischer Absicht zu manipulieren. Seine Eingriffe, das Beifügen eines Schnurr- und Kinnbartes sowie des Bildtitels L. H. O.O:. Q. , bezeichnet er denn auch als »ikonoklastischen Dadaismus«. Duchamps Attacke gilt insbesondere dem Genie- und Schöpferkult um Leonardo, der im Entstehungsjahr von L. H. O.O. Q. aufgrund des 400. Todestages des Künstlers einen neuen Höhepunkt erlebt. Seine respektlosen Hinzufügungen mokieren sich über die devote Haltung des Kunstliebhabers gegenüber dem Meisterwerk. Zugleich eignet er sich Leonardos Leistung als bloße Vorleistung zu seinem eigenen Werk an: seine Signatur findet sich nicht dort, wo sie eigentlich zu erwarten wäre, nämlich am Rand des Blattes unterhalb des hinzugefügten Titels, sondern auf der Reproduktion der Mona Lisa selbst. Indem Duchamp zeigt, wie die gemessen an Leonardos malerischem Können mageren und dürftigen Striche den »Leonardo« zu einem »Duchamp« zu machen vermögen, führt er die künstlerische Leistung als etwas vor, das nicht allein mit handwerklicher Arbeit zu tun hat, sondern ebensosehr mit geistigen, konzeptuellen Prozessen. Wie bereits Malewitsch ein paar Jahre zuvor wählt also auch Duchamp das Bild der Mona Lisa, um den eigenen, gegen die herrschende Auffassung gerichteten Kunstbegriff exemplarisch darzulegen.
Mit dem Schnurr- und Kinnbart sowie vor allem mit dem neuen Titel L.H.O.O.Q. den man laut Duchamps eigener Anweisung phonetisch als »Elle a chaud au cul« [»Ihr ist heiß am Arsch«] zu lesen hat, wird eine weitere Ebene ins Spiel gebracht: der androgyne Charakter der Porträtierten sowie die Homosexualität Leonardos. In einem Interview äußert sich Duchamp folgendermaßen:
»Freuds Gesichtspunkt [in dessen Schrift Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, M. L.] war, Leonardos Homosexualität zu zeigen, ohne damit sagen zu wollen, daß er notwendigerweise ein praktizierender Homosexueller war, jedoch – soweit das die medizinische Wissenschaft bestimmen kann – die charakteristischen Züge eines solchen an den Tag legte. Das Seltsame an diesem Schnurr- und Kinnbart ist, daß wenn man die ›Mona Lisa‹ ansieht, sie ein Mann wird. Sie ist keine als Mann verkleidete Frau; sie ist ein richtiger Mann, und das war meine Entdeckung… «
Mit diesen Überlegungen (die die Argumentation Freuds erheblich verkürzen) reagiert Duchamp auf die erotisch gefärbte Auffassung des Fin-de-siecle mit ihrer Stilisierung der Mona Lisa zur mysteriösen, triebhaft-sinnlichen femme fatale. Auch mit diesen Vorstellungen treibt Duchamp seinen »dadaistischen Ikonoklasmus«. Indem er sie zur (homosexuellen) Obszönität des »Elle a chaud au cul« steigert, setzt er sich nicht nur über die Konventionen bürgerlicher Wohlanständigkeit hinweg, die die erotischen Assoziationen zur Mona Lisa bislang zu zügeln vermochten; die im Gefolge von Gautier und Pater aufs »Ewigweibliche« gerichteten Phantasien erklärt er überdies zu Ausschweifungen, die in Wahrheit homoerotisch sind.
In diesen frühen Beispielen Malewitschs und Duchamps etabliert sich eine Form der Paraphrase, die sich nicht mehr verliert. Schien es ehedem lohnend, das Bild in langer Arbeit nachzumalen, und nobilitierte es das eigene Porträt wie auch die Porträtierte, wenn in ihnen das große Vorbild der Mona Lisa aufschien, so entspringen Malewitschs und Duchamps Unternehmungen weder künstlerischem Lernwillen noch einem Interesse für die Porträtmalerei. Ihr Augenmerk richten sie auf die sekundären Qualitäten des Bildes: auf seine singuläre Berühmtheit und auf die mannigfaltigen Formen des Kultes, der mit ihm und seinem Schöpfer getrieben wird. Sie zitieren es als Chiffre für diesen Kult und verändern es (Duchamp) oder zerstören es gar (Malewitsch), um sich künstlerisch und ideologisch von ihm zu distanzieren. An die Stelle von Leonardo setzen sie sich selbst. In die »zu vermietende Wohnung« Mona Lisas zieht Malewitschs Suprematismus ein, und in L. H. O.O.Q. trägt Mona Lisa die Signatur Marcel Duchamps.
Der schwärmerische, oft pathetische Umgang mit der großen Kunst der Vergangenheit, den das 19. Jahrhundert pflegte, findet in den Jahren um den Ersten Weltkrieg ein Ende, zu dem auch Malewitsch und Duchamp mit ihren künstlerischen Konzepten beigetragen haben. Der Kult um Mona Lisa hingegen endet nicht, sondern weitet sich im Gegenteil gerade jetzt ins Groteske aus. Denn der Bruch mit dem Klischee der schönen, rätselhaften Mona Lisa führt nur eben zur Etablierung eines neuen Klischees: des Klischees des gebrochenen Klischees. Das verändert zwar Mona Lisas Ruhm, steigert ihn jedoch nur. Der Erfolg, der insbesondere Duchamps subversiver Kritzelei beschert war, aber auch der ökonomische wie publizistische Ertrag, den der Diebstahl des Gemäldes 1911 eingebracht hatte, ruft nun all die Künstler, Cartoonisten und Werbegraphiker auf den Plan, die daran anknüpfen wollen. So währt das Klischee bis heute.
Mit dem unüberblickbaren Anschwellen der Variationen und Adaptationen tritt die Rezeption der Mona Lisa in ihre dritte und vorerst letzte Phase. In ihr lösen sich die letzten Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Veränderungen und Vereinnahmungen und dem künstlerischen Herkommen der Mona Lisa auf, Zusammenhänge, die bei Malewitsch und Duchamp noch durchaus ersichtlich sind. Denn während eine Verbindung besteht zwischen Malewitschs Thematisierung der Mona Lisa als bourgeoisem Paradeporträt und der frühbürgerlichen Kultur der italienischen Renaissance, der Lisa del Giocondo entstammt, und während Duchamp mit der Hinzufügung eines Schnurrbartes auf Leonardos Gestaltenwelt reagiert, die tatsächlich ausgeprägt androgyne Züge aufweist, finden sich derlei inhaltliche Auseinandersetzungen in den Anzeigen, die zum Beispiel mit Mona Lisa für einen bestimmten Magenbitter oder eine Jeansmarke werben, nicht (Abb. 8 ). Das Werk und seine Nutzung treten völlig auseinander, Mona Lisa steht hier nur mehr für eines: für Weltberühmtheit. Damit aber ist Mona Lisa zugleich auf dem höchsten und auf dem tiefsten Punkt ihres Renommees angelangt, ein Zugleich, das auch bei der Reise Mona Lisas in die Vereinigten Staaten festzustellen war.

Warhols Meta-Paraphrase

Die Adaptationen befolgen letztlich stets das gleiche Vorgehen, um ihren Witz oder ihre Werbebotschaft zu lancieren. Inspiriert durch Mona Lisas Lächeln und analog zu den initialen Eingriffen Malewitschs und Duchamps lassen sie die Figur allerlei anderes tun oder sein. Mehrere Varianten sind möglich, die sich zudem auch kombinieren lassen. Entweder lächelt Mona Lisa nicht mehr ohne ersichtlichen Grund, sondern weil sie das Produkt dieses oder jenes Herstellers konsumiert (Abb. 8 ). Ihr Lächeln kann aber auch durch Lachen, Weinen o.ä. ersetzt werden. Eine dritte Möglichkeit ist, ihr die Züge eines anderen Menschen zu verleihen (Golda Meir, Hans-Dietrich Genscher, Salvador Dali, Josef Stalin), oder umgekehrt jemanden die Züge Mona Lisas tragen zu lassen (George Washington, Mao Tse-Tung [Abb. 101). Schließlich gibt es die Fälle, in denen der Mona Lisa ein unerwarteter Unterkörper hinzugefügt ist: sie sitzt nun im Rollstuhl, hat die Beine von Marlene Dietrich usf. (Abb. 9). Der Phantasie und der Originalität sind keine Grenzen gesetzt, nach dem Sinn der einzelnen Interventionen wird man hingegen meist vergeblich fragen. Doch daß sie sich jeweils noch immer mit dem Lächeln, dem schönen, ikonengleichen Gesicht oder der »wahren Natur« der Mona Lisa beschäftigen, verrät das Bemühen, den Ruhm des Gemäldes nach wie vor in seinen malerischen und konzeptionellen Eigenschaften begründet zu sehen, mit anderen Worten: noch immer eine Brücke zu schlagen zwischen der Produktion Leonardos und der Rezeption in der Öffentlichkeit.
Thirty Are Better Than One unternimmt nichts dergleichen. Warhols Bild beläßt das Gemälde Leonardos, wie es ist, und reproduziert es bloß dreißigfach. Zwar stellt auch Thirty Are Better Than One die Mona Lisa in einen neuen Zusammenhang. Doch es ist ein grundlegend anderer. Er besteht nicht in einem von außen hinzugetragenen, fremden Element (Markenartikel, Tränen, Rollstuhl usf.), sondern besteht nur gerade in den jeweils 29 anderen, identischen Mona Lisas über, neben oder unter ihr. Was sich auf diese Weise in Warhols Paraphrase abspielt, ist nicht die Umwandlung Mona Lisas zu einer neuen Figur oder in eine andere Tätigkeit, sondern das, was all die Umwandlungen voraussetzen und woran sie mittun: die Tatsache der endlosen Wiederholung des Gemäldes selbst. Thirty Are Better Than One ist eine Meta-Paraphrase, die nicht von neuem in das Gemälde eingreift, sondern über Mona Lisa im Lichte all ihrer Paraphrasen spricht. Sie geht von einem Außergewöhnlichen der Mona Lisa aus, das längst nicht mehr in ihrem Lächeln oder in der Beziehung zu ihrem Schöpfer Leonardo besteht, sondern in einem Ruhm, wie er in dieser Form nur im Zeitalter der Massenreproduktion und -kommunikation auftreten kann. Das Einzigartige der Mona Lisa liegt im Vermögen, in den endlosen Wiederholungen zwar allmählich jegliche Identität eingebüßt zu haben, d. h. alles abgestreift zu haben, was ihre künstlerischen Eigenschaften und ihr Herkommen betrifft, aber deswegen nicht etwa in die Belanglosigkeit abgesunken zu sein, sondern gerade dadurch den Olymp absoluten (wörtlich: von allem losgelösten) Ruhms erreicht zu haben.

Einleitung
Kapitel I: Der Anlaß
punkt Kapitel II: Die Vorläufer
Andy Warhol - thirty are better tahn one - Pfeil Kapitel III: Die Einordnung
Kapitel IV: Die reproduzierte Mona Lisa
Kapitel V: Pictorial Design
Kapitel VI: Das Dilemma des Malens
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Andy Warhol Leonardo Mona Lisa Kennedy Kalter Krieg

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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One

Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)

Kapitel I: Der Anlaß

Daß sich Warhol, der Maler des Berühmten und Allgegenwärtigen, für Leonardos Porträt der Mona Lisa (Abb. 1) interessiert, ist unmittelbar einleuchtend. Im Louvre drängen sich die Besucher Tag für Tag, um ihrer ansichtig zu werden, und durch Reproduktionen haben sich ihre Züge über die ganze Welt verbreitet. Leonardos Porträt ist das berühmteste Bild der Welt, seine Dargestellte nicht nur die berühmteste weibliche Gestalt der Kunstgeschichte, sondern vielleicht die berühmteste Frau überhaupt. Warhols Entschluß, sich mit dem Gemälde zu beschäftigen, hat jedoch nicht allein mit dem einzigartigen Rang der Mona Lisa zu tun. Es gibt dafür, wie bei manchem Bild Warhols, einen spezifischen Grund, der für das Bild sehr aufschlußreich ist.

Mona Lisas Reise

Am 12. Dezember 1962 eröffnet Präsident Kennedy seine wöchentliche Pressekonferenz mit folgenden Worten: »Im Namen des amerikanischen Volkes möchte ich der französischen Regierung meine Dankbarkeit für ihre Entscheidung ausdrücken, die Mona Lisa von Leonardo da Vinci zu einer Präsentation in die Vereinigten Staaten auszuleihen. Dieses unvergleichliche Meisterwerk . . . wird in unser Land kommen als Erinnerung an die Freundschaft, die zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten besteht. Es wird ebenfalls kommen als Erinnerung an die universale Natur der Kunst. Mrs. Kennedy und ich möchten insbesondere Präsident de Gaulle für seine großzügige Geste danken, welche diese historische Ausleihe möglich machte, und Mr. André Malraux, dem herausragenden französischen Kultusminister, für seine guten Dienste in der Sache.«
Die Reise der Mona Lisa in die Vereinigten Staaten, die Kennedy in dieser Weise offiziell ankündigt, bildet für Warhol den Anlaß für seine Auseinandersetzung mit dem Gemälde. 1963 entsteht eine Reihe von Paraphrasen, unter anderen Double Mona Lisa, Four Mona Lisas(Abb. 2) sowie als bekannteste und bedeutendste die Fassung mit dem Titel Thirty Are Better Than One (Klapptafel), die hier im Mittelpunkt steht. Warhols Interesse gilt nicht Leonardos Kunstwerk als solchem. Er setzt sich weder mit dessen Komposition noch mit dessen Farbgebung auseinander, sondern ordnet Mona Lisa in seine Galerie der Stars ein. Daß er sie hier, neben Marilyn Monroe und Elvis Presley, Jacqueline Kennedy und Marlon Brando, placiert, liegt an der eigentümlichen Rolle, die Mona Lisa im Gefüge der Kultur spielt, einer Rolle, die nicht allein diejenige eines Meisterwerks der Malerei ist. Die Reise nach Amerika läßt das exemplarisch deutlich werden.
Es ist bereits außergewöhnlich und historisch einmalig, daß die Ausleihe eines Gemäldes durch den amerikanischen Präsidenten selbst angekündigt wird. Einzigartig und spektakulär ist jedoch der Besuch von Leonardos Porträt insgesamt. Die entsprechenden Vorbereitungen und Verhandlungen beginnen im Mai 1962, als Malraux den Vereinigten Staaten einen offiziellen Besuch abstattet. Die Idee stammt wohl ursprünglich von einem Journalisten der Washington Post, der sie anläßlich eines Presse-Empfangs Malraux vortragen kann. Er findet beim französischen Kultusminister offensichtlich Gehör, denn noch am selben Tag spricht Malraux öffentlich davon, Frankreich werde die Mona Lisa möglicherweise ausleihen. Doch die Fürsprache Malraux‘ reicht für die Verwirklichung der ldee nicht aus. In Frankreich regt sich Widerstand von verschiedener Seite. In den über 400 Jahren, seit sich das Gemälde in französischem Besitz befindet, ist die Mona Lisa nie außer Landes gebracht worden, sieht man vom spektakulären Raub, der das Bild zwischen 1911 und 1913 nach Italien schafft, einmal ab. Während die Verantwortlichen des Louvre vor allem konservatorische Bedenken äußern, bringen zahlreiche Intellektuelle und Künstler kulturpolitische Einwände vor, die häufig einen anti-amerikanischem Einschlag aufweisen. Der Plan droht zu scheitern. Doch es kommt anders. Während des Sommers 1962 steigt das Vorhaben zu einer Staatshandlung ersten Ranges auf, und dieser Aufstieg macht es möglich, daß die Mona Lisa Frankreich schließlich doch verläßt. Das Gemälde wird nun unmittelbar vom französischen Präsidenten an das amerikanische Präsidentenehepaar ausgeliehen, die Durchführung seiner Reise und seiner Präsentation direkt vom Weißen Haus organisiert, und Kennedy selbst eröffnet die Ausstellung mit einer Ansprache. All das ist in der Geschichte des Ausstellungswesens ohne Parallele.

Kalter Krieg

Die Politisierung der gänzlich unpolitisch gemeinten Ausgangsidee des Washingtoner Journalisten muß vor dem Hintergrund der Ost-West-Beziehungen gesehen werden, die in den frühen 1960er Jahren auf einem Tiefpunkt stehen. 1961 wird mit dem Bau der Berliner Mauer der letzte freie Übergang zwischen Ost und Westeuropa gesperrt. Im selben Jahr versuchen die USA, das kommunistische Regime Fidel Castros in Kuba zu stürzen. Doch die Invasion der Insel durch Exilkubaner, die der CIA ausgebildet und ausgerüstet hat, scheitert bereits beim Landungsversuch in der »Schweinebucht«. Wegen der Stationierung sowjetischer Atomraketen in Kuba droht im Oktober 1962 gar der Ausbruch eines Weltkrieges, der nur dank dem Einlenken Chruschtschows und dem Abzug der Raketen abgewendet werden kann. Zur gleichen Zeit beginnen die USA ihren Einsatz in Vietnam entscheidend auszubauen. Seit der Niederlage und dem Rückzug der Kolonialmacht Frankreich sowie der anschließenden Teilung Vietnams (1954) haben sie die Schutzmachtrolle für das nicht-kommunistische Süd-Vietnam übernommen. Nach einer anfänglichen Phase, in der sie sich auf Finanz- und Waffenhilfe an die südvietnamesische Regierung beschränkten, greifen sie nun 1962 erstmals mit eigenen Soldaten in die Kämpfe gegen die kommunistische Guerilla ein. Der mörderischste Stellvertreterkonflikt des Kalten Krieges, der für die Vereinigten Staaten in einer militärischen, politischen und moralischen Katastrophe enden wird, beginnt zu eskalieren.
Das Tauwetter, das nach Stalins Tod 1953 anbrach, ist am Beginn der 1960er Jahre nicht nur in den Beziehungen der beiden Supermächte vorbei. Im Inneren der Sowjetunion zieht Chruschtschow, dem die Ablösung an der Staatsspitze droht, die ideologischen Zügel fester an. Zeitgleich mit Kennedys Ankündigung des Besuchs der Mona Lisa beginnt er einen Feldzug gegen bourgeoise Tendenzen in der sowjetischen Kunst. In Rückbesinnung auf die orthodoxe kommunistische Kunstauffassung erklärt er Propaganda wieder zu deren erster Aufgabe. Es ist der schwerste Rückschlag für die Künstler und Intellektuellen der Sowjetunion, deren Freiheiten in der nach-stalinistischen Ära allmählich gewachsen sind.
Die Konfrontation und die Rivalität der kapitalistischen und kommunistischen Blöcke ist ein erster Grund, warum sich die Staatsspitzen Frankreichs und Amerikas plötzlich für die Idee einer Ausleihe der Mona Lisa interessieren. In der eingangs zitierten Pressekonferenz spricht Kennedy davon, die Ausleihe solle nicht nur an die französisch-amerikanische Freundschaft erinnern, sondern ebenfalls »an die universale Natur der Kunst«. Daß dies gegen das propagandistische Kunstverständnis des Kommunismus und in einem weiteren Sinne gegen den Kommunismus überhaupt gesprochen ist, zeigen die Tischreden, die Malraux und der amerikanische Vize-Präsident Johnson Mitte Mai 1962 in New York halten, also kurz nachdem Malraux zum ersten Mal die mögliche Ausleihe der Mona Lisa erwähnt hat. In auffällig militärischer Metaphorik bezeichnet Malraux die Kultur als den mächtigsten Beschützer der freien Welt und als deren wichtigsten Verbündeten in der Führung der Menschheit. Die USA sieht er als die Vorkämpfer der Kultur, die dem Marxismus nicht mit Waffen, sondern mit der Freiheit der Schöpferkraft entgegenträten. Er beschließt seine Rede mit einem Toast auf die Kultur, auf die atlantische Zivilisation und auf die Freiheit des Geistes. Johnson seinerseits führt aus, die Welten der Kultur und der Politik seien nicht länger getrennt. Frankreich und die USA hätten in Stunden der Gefahr stets sowohl materiell wie geistig zusammengestanden, und er ruft dazu auf, es auch in diesen Stunden der Verheißung zu tun. Johnson mag dabei sowohl die gemeinsamen Interessen der beiden Länder in Vietnam, aber auch das Mona-Lisa-Projekt vor Augen haben. Tatsächlich feiert Kennedy ein halbes Jahr später, als er die Schaustellung der Mona Lisa in Washington eröffnet, das Porträt als Musterbeispiel für die Werte und Ideale der freien, westlichen Welt, die es gegen die ideologische und militärische Expansion der kommunistischen Staaten zu verteidigen gelte.
Der zweite und unmittelbarere Grund für die transatlantischen Grüße, die Mona Lisa zu überbringen hat, steckt jedoch hinter dem unauffälligen Satz Kennedys, Leonardos Werk komme »als Erinnerung an die Freundschaft, die zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten bestehe«. In der Tat ist es notwendig, an diese Freundschaft zu erinnern, denn es steht um sie so schlecht wie nie seit dem zweiten Weltkrieg. Am selben Tag im Mai 1962, an dem Johnson und Malraux in New York das Glas auf die kulturelle und politische Zusammenarbeit ihrer beiden Länder heben, hält Frankreichs Präsident de Gaulle in Paris eine Rede, die das Verhältnis der beiden Staaten schwer belastet und das westliche Verteidigungsbündnis der NATO einer Zerreißprobe aussetzt. De Gaulle erscheint die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von Amerikas Atomwaffen unannehmbar und gefährlich. Wenn Europa im Kräfteverhältnis der Supermächte nicht übergangen werden wolle, müsse es seine eigene Atomstreitmacht aufbauen. Frankreich werde hierbei vorangehen und gleichzeitig mit Ländern wie Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland über eine Beteiligung verhandeln. Kennedy reagiert äußerst ungehalten auf diese lnfragestellung der amerikanischen Vormachtstellung und verurteilt jegliches Bemühen, innerhalb der NATO ein europäisches Sonderbündnis einzugehen. Immerhin unterbreitet er einen Gegenvorschlag, der darin besteht, sowohl Frankreich wie Großbritannien das mit atomaren Mittelstreckenraketen bestückte ›Polaris‹-Unterseeboot zu liefern. Doch da nach den Vorstellungen Kennedys der Oberbefehl dieser »europäischen« Atomwaffe dennoch bei der NATO liegen soll, lehnt de Gaulle ab. England hingegen geht auf das amerikanische Angebot ein. Drei Wochen vor der Eröffnung der Mona-Lisa-Präsentation in Washington treffen sich Kennedy und der britische Premierminister Macmillan in Nassau zur Unterzeichnung eines entsprechenden Grundsatzvertrags. Mit dieser Entscheidung erteilt Macmillan gleichzeitig Frankreichs ldee einer eigenständigen europäischen Atommacht eine Absage – was Frankreich im Januar 1963 mit einem Veto vergilt, das die Aufnahme Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft vereitelt. De Gaulle hält gegen den amerikanischen Widerstand an seinen atomaren Plänen fest. 1966, inzwischen im Besitz eigener Atomwaffen, löst Frankreich seine Truppen aus der integrierten militärischen Struktur der NATO und bleibt nur noch Mitglied der politischen Allianz.
Die Situation in der zweiten Jahreshälfte 1962, als der Plan einer Ausleihe der Mona Lisa Gestalt annimmt, ist somit folgende: sowohl in den USA wie auch in Frankreich besteht die Einsicht, daß es in der gegenwärtigen Situation weder möglich ist, ernstlich gegeneinander, noch in voller Eintracht miteinander zu agieren. Die ldee des amerikanischen Journalisten kommt also gerade gelegen. Das berühmte Gemälde soll als »Botschafter des guten Willens«, wie John Walker, der Direktor der Washingtoner National Gallery und der von Kennedy ernannte Organisator der Ausstellung, das Gemälde nennt, in einer Art Ersatzhandlung eine Allianz symbolisieren, die auf politisch-militärischer Ebene blockiert ist.
Mona Lisa wird auf ihrer Reise ein Protokoll zuteil, das jedem Staatsoberhaupt schmeicheln müßte. Nach der offiziellen Verabschiedung in Le Havre Mitte Dezember 1962 reist sie in einer Luxuskabine des Passagierdampfers France, bewacht von zwei vor der Kabinentür aufgestellten Sicherheitsbeamten und in ständiger Gesellschaft der verantwortlichen Konservatorin des Louvre. Das Einlaufen in New York eskortieren Schiffe der amerikanischen Kriegsmarine, Salutschüsse werden abgefeuert. Nach der Begrüßungszeremonie mit Ansprachen verschiedener Persönlichkeiten aus Politik und Kultur rollt Mona Lisa auf einem roten Teppich zur Ankunftshalle, wo sie in eine schwarze, kugelsichere Limousine umgeladen wird. Eine Kolonne von acht Fahrzeugen mit 50 Polizisten und Sicherheitsbeamten schützt den Wagen auf seiner anschließenden Fahrt in die Hauptstadt.
Zum eigentlichen Staatsakt aber gerät die Eröffnung am 8. Januar 1963. Kennedy selbst hat dieses Datum bestimmt, da zu diesem Zeitpunkt die Repräsentanten des Staates aus dem Weihnachtsurlaub zurückgekehrt sein würden. Im langen Marmorsaal der National Gallery, aus dem alle anderen Kunstwerke entfernt worden sind, finden sich rund 2000 Gäste ein, unter ihnen das gesamte Kabinett Kennedys sowie die Mehrzahl der Abgeordneten und der Obersten Richter des Landes. Zu dieser fast vollzähligen Versammlung der politischen Elite der Vereinigten Staaten gesellen sich Vertreter der Armee, Diplomaten und Persönlichkeiten der Kultur. Die Eröffnungsreden, die Kennedy und Malraux vor diesem Auditorium halten, lassen endgültig offenbar werden, wie sehr die Mona Lisa hier nicht um ihrer selbst willen gefeiert, sondern für ganz andere Zwecke eingesetzt wird. Kennedy betont zunächst die ideelle und kulturelle, dann auch die politisch-militärische Gemeinschaft Frankreichs und der USA seit den Tagen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges:
»Unsere beiden Nationen haben in vier Kriegen während der letzten 185 Jahre auf derselben Seite gekämpft. [. . . ] Unsere beiden Revolutionen halfen die Bedeutung von Demokratie und Freiheit definieren, von Werten, die heute vehement bekämpft werden. Heute, hier in diesem Museum, vor diesem großartigen Gemälde, erneuern wir unsere Verpflichtung diesen Idealen gegenüber, die uns während so mancher Gefahr aufs stärkste verbanden.«
Dann aber wendet er sich den gegenwärtigen Rissen im Einverständnis zu:
»Wir in den Vereinigten Staaten sind dankbar für diese Leihgabe Frankreichs, der führenden künstlerischen Macht in der Welt. Im Lichte des jüngsten Treffens in Nassau muß ich anmerken, daß dieses Gemälde sorgfältig unter französischem Befehl gehalten wurde, und daß Frankreich sogar dessen Oberbefehlshaber, M. Malraux, mitgeschickt hat. Und ich möchte klarstellen, daß wir, so dankbar wir für dieses Gemälde sind, im Bemühen fortfahren werden, eine unabhängige und eigene künstlerische Streitmacht aufzubauen.«
Die anwesende politische, militärische und diplomatische Prominenz weiß Kennedys verklausulierte kriegerische Sprache durchaus zu verstehen. Das Treffen mit Macmillan in Nassau hatte auf militärischem Gebiet genau das zum Anlaß – die französische Initiative einer unabhängigen, unter eigenem Oberbefehl stehenden Atomstreitmacht -, worauf Kennedy hier durch das ironische Vertauschen der Bereiche von Kunst und Militär sowie der beiden Länder anspielt. Mit dieser Ironisierung der französischen Atomwaffenpläne bringt er indirekt, aber unmißverständlich seine Auffassung der angemessenen Rolle der beiden Länder zum Ausdruck: Frankreich als die führende künstlerische Macht der Welt, die USA aber als deren führende militärische Macht.

Ein janusköpfiger Ruhm

In all den Ehrungen, Reden und Zeremonien verliert Leonardos Bildnis der Lisa del Giocondo jegliche Identität. Eigentümlich ist bereits der Status als Gesandter Frankreichs, ja gewissermaßen als Stellvertreter de Gaulles. Mona Lisa wird weniger wie ein Gemälde als wie ein lebender Mensch, wie eine reisende Majestät behandelt. Kühn sind auch die Verbindungen, die die beiden Redner in ihren Eröffnungsansprachen schaffen. Bei Kennedy darf Mona Lisa für die »heute vehement bekämpften Werte von Freiheit und Demokratie« einstehen, wird mit Waffen unter französischem Befehl verglichen und dient schließlich als Beweis für den Rang Frankreichs als führende künstlerische Macht der Welt. Malraux seinerseits schlägt die Brücke vom Risiko, dem Mona Lisa bei ihrer Fahrt nach Amerika ausgesetzt ist, zu den viel bedeutenderen Gefahren, die die amerikanischen Soldaten bei ihren Einsätzen in Europa während der beiden Weltkriege auf sich genommen haben. Mit dem Gemälde Leonardos, das zwischen 1503 und 1506 für den Florentiner Kaufmann Francesco del Giocondo entstand, hat das alles kaum etwas zu tun. Als einzigen Anknüpfungspunkt können Kennedy und Malraux die Tatsache verwerten, daß sich das Porträt seit Ca. 1540 in französischem Besitz befindet, erst der Könige, dann der Republik. Doch das Bildnis des italienischen Renaissancemalers allein schon aufgrund des Besitzverhältnisses zum französischen Botschafter, ja sogar zum Beweis der künstlerischen Vorrangstellung Frankreichs zu machen, ist nur eine weitere der Identitätsverfälschungen, die notwendig sind, damit Mona Lisa ihre politische und ideologische Mission erfüllen kann.
Dem Ruhm der Mona Lisa hingegen sind diese Ereignisse nur förderlich. Ihr Status ist einzigartig: als mehrhundertjähriges Meisterwerk der Malerei und gleichzeitiger Ehrengast des amerikanischen Präsidenten erscheint sie als eine Persönlichkeit sui generis. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten zollt ihr die entsprechende Aufmerksamkeit. Der Besucherstrom erreicht einen bis heute ungebrochenen Rekord. Zunächst im Januar in Washington, dann im Februar in New York ausgestellt, zieht die Mona Lisa insgesamt über 1,7 Millionen Schaulustige an. Das aber sind so viele, daß den Besuchern nach langem Anstehen nur wenige Sekunden vor dem Gemälde bleiben, die gerade eben erlauben, einen flüchtigen Blick darauf zu werfen. Auch die Verbreitung des Kunstwerkes durch Reproduktionen stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten. Eine wahre Flut von Kunstdrucken und Zeitungsbildern sowie Adaptationen, Karikaturen und Cartoons ergießt sich bereits im Vorfeld der Ausstellung über ganz Amerika, und die entscheidenden Stationen des Besuchs werden vom Fernsehen übertragen. Wer zufälligerweise mit Mona Lisa noch nicht bekannt war, wird es jetzt.
Auf der Reise der Mona Lisa in die Vereinigten Staaten wird vor allem eines deutlich: das Janusköpfige ihres Ruhms. Das Gefeiertwerden als größtes Kunstwerk aller Zeiten, ja die Erhebung weit über den Bereich der Kunst hinaus, ist verknüpft und sogar bedingt durch den Verlust jeglicher künstlerischer und historischer Identität. Erst deren Ausblendung erlaubt die mannigfache Nutzung des Gemäldes: die Trivialisierung durch die Cartoonisten, die Vermarktung durch die Souvenirindustrie, an erster Stelle aber das Rahmengeschehen selbst, den Einsatz als antikommunistisches, amerikanisch-französisches Unterpfand. Die Glorifizierung und die Banalisierung der Mona Lisa, zwei Vorgänge, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen müßten, erweisen sich als die zwei Seiten derselben Medaille.

Einleitung
punkt Kapitel I: Der Anlaß
Andy Warhol - thirty are better tahn one - Pfeil Kapitel II: Die Vorläufer
Kapitel III: Die Einordnung
Kapitel IV: Die reproduzierte Mona Lisa
Kapitel V: Pictorial Design
Kapitel VI: Das Dilemma des Malens
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Andy Warhol Bedeutung Werkanalyse

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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One

Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)

Einleitung

»Bei aller Kraßheit ist eine bezwingende Simplizität in seinen Bildern; sie sind wie plärrende alte Melodien, die einem nicht aus dem Kopf wollen.« (Allan Kaprow)

Manche künstlerischen Interventionen sind wichtiger als andere, konsequenter, durchdachter, folgenreicher. Während etliche Arbeiten der amerikanischen Pop Art nur den Zeitgeist der 60er Jahre spiegeln und mit dem Vergehen dieses sozialen und kulturellen Gefüges in Vergessenheit geraten, hat Warhols Werk eine steigende Bedeutung gewonnen. Es erscheint heute als eines der wichtigsten der Nachkriegszeit.
Die Frage nach Warhols Bedeutung ist nicht neu. Der Auftritt seiner Bilder Anfang der 60er Jahre brachte zunächst eine polemische Literatur hervor, die eindeutig Stellung bezog, sich in emphatische Zustimmung und strikte Ablehnung aufteilte. Dreißig Jahre sind die frühen (und vielleicht besten) Arbeiten nun alt, Warhol ist in den wichtigen Sammlungen moderner Kunst prominent vertreten, die amerikanisch-europäische Retrospektive nach seinem 1987 erfolgten Tod inszenierte ein ernsthaftes, gewichtiges Lebenswerk, und 1994 wurde in Pittsburgh ein ausschließlich ihm gewidmetes Museum eröffnet. Die Diskussion um Warhol ist entsprechend nüchterner, dafür aber seriöser und komplexer geworden. Ausführliche Biographien haben im Nachzeichnen der Herkunft, des Ausbildungsgangs, der erfolgreichen Zeit als Werbegrafiker und dem schließlichen Aufstieg zum internationalen Kunststar mehr als nur eine Fülle von Details zutage gefördert, sie haben zugleich ein Stück Sozialgeschichte der Kunst (und ihrer Rezeption) geschrieben. Die vertiefte Kenntnis von Einflüssen, Freundeskreis, Persönlichkeitsstruktur usw. erbrachte überdies manchen Hinweis auf die Entwicklung seiner formalen Sprache und die Hintergründe seiner Themenwahl. Parallel dazu ist versucht worden, das Phänomen Warhol im Zusammenhang der amerikanischen Kultur zu deuten, etwa als Reaktion auf zivilisatorische Veränderungen oder auf die damalige Dominanz des Abstrakten Expressionismus.
Die Untersuchung von Warhols Persönlichkeit sowie der gesellschaftlichen und künstlerischen Rahmenbedingungen nimmt in der Literatur weit mehr Raum ein als die Beschäftigung mit den Bildern selbst. Untersuchungen, die sich eingehender mit einem bestimmten Werk befassen, gibt es kaum. Dahinter steht die Überzeugung, die Bilder machten aufgrund der reproduktiven Herstellungsweise und der banalen Bildgegenstände eine herkömmliche, formal und thematisch argumentierende Analyse überflüssig – ja das Unterlaufen von traditionellen künstlerischen Kriterien wie Originalität, Einmaligkeit oder inhaltliche Tiefe sei gerade deren Absicht.
Der folgende Text geht hingegen davon aus, daß Warhols Bilder nicht nur ästhetisch analysierbar sind, sondern daß erst eine solche Analyse deren Eigenart wirklich hervortreten läßt. Warhols künstlerische Strategie ist mit den Stichworten »reproduktiv« bzw. »banal« nur unzureichend erfaßt. Hier bedarf es eines genaueren Hinsehens. Das geschieht nicht mit dem Ziel, Warhol zum Gegenstand einer formalistischen Lektüre zu machen. Er wäre dafür ein denkbar ungeeigneter Kandidat, allein schon, weil seine Kunst eine ausgeprägt konzeptuelle Seite hat. Vielmehr geht es darum, nach den Strukturen seines bildnerischen Vorgehens zu fragen, deren Elemente (z. B. die jeweiligen Bildthemen, den Siebdruck oder die Serialität) in einen Dialog zu bringen. Gibt es Gründe, weshalb Warhol ein Thema aufgreift, und wenn ja, welchen Aufschluß über das Bild vermögen sie zu geben? Bestehen Kriterien, nach denen Warhol die Photographien auswählt, die er den Bildern zugrundelegt? Warum arbeitet er ausschließlich mit dem Siebdruck sowie durchwegs seriell, d. h. in grundsätzlich unbegrenzten Bildfolgen? Worin liegt die Eigenart seiner Verwendung dieser bildnerischen Verfahren? Werden sie in stets gleicher Weise eingesetzt oder dem Thema entsprechend modifiziert – ja in welchem Bezug stehen Bildform und Bildthema überhaupt? Erst wenn solche konzeptionellen Gesichtspunkte hinreichend geklärt sind, wird eine Einschätzung jenseits der Schlagworte möglich sein, wovon die Bilder handeln, auf welche historischen und kulturellen Veränderungen sie reagieren, welche Deutung der Wirklichkeit sie leisten. Denn obwohl Warhols Arbeiten manche traditionelle Bestimmung der Kunst souverän mißachten -was die Bedingungen ihres Verstehens betrifft, stellen sie innerhalb der Kunst keine Ausnahme dar.
Beim Schreiben dieses Textes wurde mir manche Hilfe zuteil. Für wiederholte Gespräche, in denen viele Gedanken erst Kohärenz gewannen, und das geduldige Durchsehen des Manuskriptes danke ich Kolja Kohlhoff, Barbara V. Reibnitz und Andreas Cremonini.
Besonderer Dank gebührt auch meinen Eltern, Antoinette Lüthy und Herbert Lüthy. Ihre Kritik, aber auch ihre Ermutigung und Unterstützung haben das Entstehen dieses Bändchens begleitet und geprägt. Ihnen sei es gewidmet.

punkt Einleitung
Andy Warhol - thirty are better tahn one - Pfeil Kapitel I: Der Anlaß
Kapitel II: Die Vorläufer
Kapitel III: Die Einordnung
Kapitel IV: Die reproduzierte Mona Lisa
Kapitel V: Pictorial Design
Kapitel VI: Das Dilemma des Malens
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Faktur Flatness Bildraum Clement Greenberg

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Vom Raum in der Fläche des Modernismus

in: fRaktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde, hrsg. von Anke Hennig, Brigitte Obermayr und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 63), Wien/München 2006, S. 149-178.

Kapitel I: Das Bild als Möbiusband zwischen Materialität und Immaterialität

Ein Kunstwerk im Lichte seiner Faktur zu betrachten heißt, es im Lichte seines Gemachtseins zu betrachten: das Verbalabstraktum „faktura“ bezieht sich auf „factus“ wie „natura“ auf „natus“. Die Faktur ist folglich nicht nur ein bestimmter Oberflächenzustand, sondern zugleich die Spur eines Machens, dessen Verlaufsform womöglich mehr interessiert als das Ergebnis. Sich der Faktur zuzuwenden heißt aber auch, der Materialität des Kunstwerks Bedeutung beizumessen. Hier sind ebenfalls zwei unterschiedliche Gewichtungen möglich. Entweder interessiert man sich für die Stofflichkeit des Ausgangsmaterials, beispielsweise für den Feinheitsgrad des verwendeten Leinwandstoffs oder die Viskosität der benutzten Farben, oder aber für die bearbeitete Materialität des Artefakts, etwa für jenen drängenden, reliefierenden Pinselduktus, der van Goghs Gemälde auszeichnet. Somit umschließt der Begriff der Faktur im Werk angelegte Spannungen, einerseits diejenige zwischen Prozess und Werk, andererseits diejenige zwischen Materialität und Form. Dass der Begriff der Faktur erst im Zuge der (insbesondere russischen) Avantgarden geläufig wurde, dürfte unmittelbar damit zusammenhängen, dass die genannten Spannungen hier erheblich anwachsen, bis zu dem Punkt, an dem Prozess und Werk, Materialität und Form im Kunstwerk beständig gegeneinander bestimmt werden müssen: als Aspekte ein und desselben Bildes, die zwar unterscheidbar, nicht aber voneinander zu trennen sind. Die Entstehung des Fakturbegriffs weist ferner darauf hin, dass Augen- und Tastsinn miteinander zu konkurrieren beginnen. Das Bild präsentiert sich nicht nur als transzendente Fläche, die einen virtuellen Sehraum eröffnet, sondern zugleich als reale Oberfläche, deren Beschaffenheit häufig gerade darauf zielt, das Auge der Kontrolle des Tastsinns, an den das Bild appelliert, zu unterwerfen. Wenn dieser Sammelband überdies vorschlägt, den Begriff der Faktur mit demjenigen der Fraktur zu verbinden, weist dies schließlich noch auf eine weitere Spannung hin: dass im Werkprozess avantgardistischer Kunst Schöpfung und Zerstörung häufig ein und derselbe Akt sind. Das mögliche Zusammenfallen von Kunstentstehung und Kunstvernichtung bezieht sich dabei nicht nur auf die Konzeption bestimmter Verfahren (beispielsweise der Fotomontage), sondern zugleich auf das historische Verständnis der Avantgarde, mit jedem Werk den bisherigen Kunstbegriff zu sprengen oder sogar zu versuchen, mit der Setzung eines ‚letzten Werkes‘ die Kunst insgesamt zu einem Ende zu bringen.
Diese unterschiedlichen Spannungen verdichten sich bei Bildern an einem konkreten Ort, der sich gleichwohl fortwährend entzieht: an ihrer Oberfläche. Bereits das Wort ‚Oberfläche‘ verweist dabei auf die Ambiguität des Bildes, die sich im Fortschreiten der Moderne immer entschiedener artikuliert. Deren anti-illusionistische Wende lässt das Bild immer ausdrücklicher mit seiner Oberfläche zusammenfallen. Zugleich aber ist es nur sinnvoll, von einer Oberfläche zu sprechen, wenn es auch etwas gibt, was darunter liegt. In der Bildauffassung Clement Greenbergs, des amerikanischen Vordenkers einer formalistischen Deutung des Modernismus, tritt jene Ambiguität des Bildes in exemplarischer Weise hervor. Auf der einen Seite erhebt Greenberg das Medium des Bildes – den Bildträger und die Malmaterie – zu dessen zentralem Aspekt. Der Modernismus sei das künstlerische Verfahren, sich beständig einer Kritik von innen her zu unterwerfen – einer Kritik, die darauf ziele, die Natur des jeweiligen künstlerischen Mediums zu größtmöglicher Reinheit zu führen und auf diese Weise die einzelnen Künste in ihrem ureigenen Kompetenzfeld zu verankern. Greenberg sieht die modernistische Wendung der Malerei folglich dort als vollzogen an, wo die immanenten und essenziellen Qualitäten dieses Mediums – die plane Oberfläche, der Umriss des Bildträgers und die Eigenschaften der Farbstoffe – offen herauszutreten vermögen. Für Greenberg bedeutet dies nun aber keineswegs das Ende des Illusionismus in der Malerei, sondern lediglich das Ende des klassischen, von haptischen Assoziationen überlagerten Illusionismus, wie ihn als äußerster Fall das Trompe-l’œil zu erzielen versuche. Als der Modernismus das Schattieren und Modellieren und alle anderen herkömmlichen Verfahren in Frage stellte, die in der Malerei an das Skulpturale erinnerten, sei dies, so Greenberg, „im Namen einer rein und ausschließlich optischen Erfahrung“ geschehen. Dadurch erziele das modernistische Bild eine Präsenz, die der traditionellen Kunst verwehrt gewesen sei. Aufgrund des ausschließlich optischen Durchstoßens der Bildfläche wandere das Auge im Trugbild eines Raumes, der nicht mehr jener auf den Körper bezogene Partialraum der herkömmlichen illusionistischen Kunst sei, sondern sozusagen Raum schlechthin: „Die Bildfläche als totales Objekt repräsentiert Raum als ein totales Objekt.“ Greenbergs Kurzschluss zwischen diesen beiden ‚Objekten‘ bringt die Ambiguität des modernistischen Bildes auf den Punkt. Auf der einen Seite verdinglicht sich das Bild zur materiellen Oberfläche, die dem Realraum angehört wie jeder andere Gegenstand auch – was nach Greenberg dazu führt, dass bereits eine aufgespannte leere Leinwand als Bild aufgefasst werden kann. Andererseits wird die Bildfläche zu einem immateriellen, transzendenten Ort. In Greenbergs Beschreibung erinnert sie an jenes „Aleph“ in Jorge Luis Borges‘ gleichnamiger Erzählung, an jenen magischen Punkt im Raum also, der alle Punkte in sich enthält und in dem sich die Totalität des Universums kontemplieren lässt.
Die extreme Spannung zwischen der planen Leinwand einerseits und der eröffneten (oder zumindest angestrebten) Totalitätserfahrung andererseits führte allerdings zu einer erheblichen Verminderung der semantischen, syntaktischen und pragmatischen Möglichkeiten der Malerei. Deren Spielfeld verengte sich auf die Oberfläche – eine Oberfläche zumal, deren Erfahrungspotenzial umgekehrt proportional zur Intensität ihrer Bearbeitung zu stehen schien, wie Greenbergs Verweis auf die leere Leinwand als Bild nahe legt. Es ist offensichtlich, dass die ‚essenzialisierende‘ Askese der Malerei – die Beschränkung auf die Oberfläche und die Minimierung der malerischen Bearbeitung – nicht nur von den Betrachtern, sondern auch von den Künstlern als Verlust empfunden werden konnte. So sprach Kandinsky beispielsweise vom „Annageln der Möglichkeiten an eine reale Fläche der Leinwand“ und empfand dies als Beschränkung. Diese Kehrseite des Modernismus war auch Greenberg bewusst. Während man, so Greenberg, bei der klassischen Malerei durch die Fläche wie durch ein Proszenium auf eine Bühne geblickt habe, sei diese Bühne im Modernismus immer flacher geworden, bis schließlich die Kulisse mit dem Vorhang zusammengefallen sei. Doch ganz gleich wie reich und verschiedenartig die Künstler nun diesen Vorhang, der ihnen als Einziges übrig geblieben sei, bearbeiteten und falteten, ein Gefühl des Verlusts sei unausweichlich. Was den Betrachter an der gegenwärtigen, abstrakt oder sogar ungegenständlich gewordenen Kunst kümmere, sei weniger die Verzerrung oder gar die Abwesenheit von wieder erkennbaren Bildern. Es sei vielmehr die Aufhebung jener räumlichen Rechte („spacial rights“), welche die Maler dem Betrachter gewährten, als sie noch Illusionen desjenigen Raumes schufen, in dem auch unsere Körper sich bewegten.
Dieses Schwinden des Raumes bildet den Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen. An ein paar Beispielen möchten sie zeigen, wie parallel zur Entwicklung der modernistischen ‚flatness‘ Wege gesucht wurden, den zunehmenden Druck auf die Oberfläche des Bildes aufzufangen und zu brechen, um die verlorene ‚Bühne‘ wiederzugewinnen, auf der sich der Akt des Bildermachens wie auch die Vorstellungskraft des Betrachters neu entfalten konnten. Es ging dabei nicht zuletzt um die Rückeroberung jenes körperlichen Handlungsraumes, den Greenbergs ‚reine Optikalität‘ ausgeschlossen hatte. Die Beispiele sollen weder eine Entwicklungslogik behaupten noch die künstlerischen Möglichkeiten systematisch auffächern. Vielmehr geht es um die exemplarische Beschreibung von Verfahren, dem Bild unter modernistischen Bedingungen dasjenige zu erhalten, was Frank Stella den „working space“ der Kunst nannte. Nach Stella besteht das Ziel der Kunst darin, Raum zu schaffen – einen Raum, in dem nicht nur sich die Dinge entfalten können, sondern in dem die Kunst selbst agieren kann. Da die Künstler jedoch hinter die modernistische Verflächigung und Materialisierung des Bildes weder zurückgehen konnten noch wollten, suchten sie diesen Raum nicht wie in der klassisch-illusionistischen Malerei hinter, sondern sozusagen im Inneren der Bildoberfläche. Es wird zu beschreiben sein, wie mit Schnitten in die Leinwand oder aber mit Verdoppelungen ihrer Fläche, sei es durch Daraufgeklebtes, Dahintergespanntes oder Darübergelegtes, eine Art Binnenraum des Bildes geschaffen wird, der jeweils sowohl einen buchstäblichen Raum als auch eine imaginäre Tiefe erzeugt, wobei die Pointe häufig darin besteht, beides gegeneinander auszuspielen.

punkt Kapitel I: Das Bild als Möbiusband zwischen Materialität und Immaterialität
Pfeil Kapitel II: Negation und Affirmation der Faktur: Delaroche und Degas
Kapitel III: Der Raum im Inneren des Bildes 1: Picassos Collagen
Kapitel IV: Der Raum im Inneren des Bildes 2: Fontana
Kapitel V: Der Schritt vor die Leinwand – und wieder in diese zurück: Rauschenberg
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Vom Raum in der Fläche des Modernismus als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.120 KB)

Robert Rauschenberg Combine Paintings Bed

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Vom Raum in der Fläche des Modernismus

in: fRaktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde, hrsg. von Anke Hennig, Brigitte Obermayr und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 63), Wien/München 2006, S. 149-178.

Kapitel V: Der Schritt vor die Leinwand – und wieder in diese zurück: Rauschenberg

Als der Modernismus dem Bild die Tiefe austrieb und es mit seiner Oberfläche gleichsetzte, konnte man wie Fontana diese Oberfläche angreifen, um im lnnern derselben die verlorene Tiefe wiederzugewinnen. Man konnte aber auch in der gegenteiligen Weise vorgehen und die Dinglichkeit der Oberfläche akzeptieren, um dadurch eine feste Grundlage zu gewinnen, auf der verschiedene künstlerische Aktivitäten vollzogen werden konnten. Entdeckt wurde dabei nicht der Raum in der Leinwand, sondern vielmehr derjenige davor. Prominente Beispiele hierfür sind Robert Rauschenbergs Combine-Paintings, die in den 1950er und frühen 1960er Jahren entstanden (Abb. 10 bis 12). Mit diesen Werken, die so heißen, weil sie Malerei und Plastik verbinden, knüpfte Rauschenberg an die Collage-Techniken der Avantgarde an, um sie mit dem Action Painting zu verbinden, das in den USA zu dieser Zeit den Zenit der Aufmerksamkeit erreichte. Obschon bereits die Collage den realen Raum vor der Leinwand zu nutzen begann, behielt deren Bildfläche, wie am Beispiel Picassos zu sehen war, insofern eine gewisse Idealität, als sie noch immer den Durchblick auf eine Welt, etwa derjenigen eines Kaffeehauses, bot. Diese Idealität der Bildfläche wurde von Rauschenbergs Combine-Paintings negiert. Bereits in den 1960er Jahren unterzog Leo Steinberg diese Werke einer berühmt gewordenen Analyse, deren Pointe darin bestand, Rauschenbergs Auffassung der Bildfläche jener transzendenten ,reinen Optikalität’ entgegenzusetzen, die Greenberg für das modernistische Bild reklamiert hatte. Steinberg, der seinem Aufsatz den programmatischen Titel Other Criteria gab, beschrieb die Combines folgendermaßen. Man hänge diese Werke, so lässt sich das Argument zusammenfassen, zwar an die Wand, als seien es herkömmliche Bilder. Doch sie simulierten keinen Durchblick mehr, indem ihr Oben und Unten nicht länger dem Sehfeld einer aufrecht stehenden Person entsprächen. Das Bild sei vielmehr eine Art Arbeitsfläche, auf der Dinge verteilt, bearbeitet und befestigt würden, um erst zum Schluss von der horizontalen in die vertikale Position gedreht zu werden. Das Bild, das zum Speicher dieser Arbeitsprozesse werde, spiele auf harte Oberflächen wie Tische, Fußböden oder Pinnwände an – auf all jene Flächen also, auf welchen man Objekte verteile oder Informationen anbringe, sei es in geordneter oder ungeordneter Form. Die Bilder erzwängen, so Steinbergs Fazit, eine radikal neue Orientierung: Das Bildfeld sei nicht mehr das Analogon visueller Welterfahrung, sondern operationaler Prozesse.
Wie sich aus Steinbergs Beschreibung ergibt, gewinnt die Werkgruppen-Bezeichnung Combine-Paintings damit eine zweite Bedeutung. Das Malen definiert sich neu als das Kombinieren von Dingen. Folgerichtig bezeichnet Rauschenberg den Vorrat an Dingen, die er zur Verwendung in den Combines bereithält, als seine „Palette“. Dieses kombinatorische Spiel tritt an die Stelle dessen, was in der herkömmlichen Malerei Komposition war. Während sich die Komposition eines herkömmlichen Bildes auf die ideale, vertikal ausgerichtete Fläche bezog, um sie nach idealen Proportionsregeln, beispielsweise denjenigen des Goldenen Schnittes, zu organisieren, bezieht sich Rauschenbergs Kombinatorik auf eine materielle Grundfläche, die auf dem Atelierboden oder auf einem Tisch liegt. Da sie von allen Seiten her bearbeitet wird, unterliegt sie keiner Hierarchie von Oben und Unten, Links und Rechts. Bei der Fertigung seiner Werke folgt Rauschenberg zudem keinem festgelegten Plan. Er verwendet keine Vorzeichnungen und besitzt meist nur eine vage Vorstellung von der zukünftigen Bildgestalt. Die Werke sind das Ergebnis eines Hin und Her zwischen dem Künstler, dem Arsenal der Materialien und dem allmählich sich konturierenden Bildzusammenhang. Mit anderen Worten: Rauschenberg praktiziert das Machen als Finden. Damit steht seine Kunstpraxis in jeglicher Hinsicht – in der Auffassung der Bildfläche, der eingesetzten Materialien sowie des Arbeitsprozesses – in diametralem Gegensatz zu derjenigen eines akademischen Malers wie Paul Delaroche, der die Ausführung eines Bildes als Zusammenfügung einzelner in sich abgeschlossener, vorab konzipierter Partien verstand. Diese unterschiedlichen Produktionsauffassungen haben entsprechende Folgen für die Rezeption. Rauschenbergs Combine Paintings können als Musterbeispiele dafür gelten, was Umberto Eco in den frühen 1960er Jahren als „offenes Kunstwerk“ bestimmte. Im ‚Lesen‘ von Delaroches Jane Grey (Abb. 1) hin wiederum spiegelt sich dessen additive Fertigung. Das Gemälde richtet sich an einen Wahrnehmungsprozess, in dem Detail um Detail, Figur um Figur nacheinander ‚abgerufen‘ werden, bis Ablauf und Sinn der Handlung erfasst sind.
Wenn Rauschenberg Dinge in seine Bilder aufnimmt, werden sie aus dem realen Raum in den Bildraum überführt, ohne ihre dritte Dimension oder ihre Materialität zu verlieren. Nach einer Formulierung von Rosalind Krauss werden sie nicht transformiert, sondern lediglich transponiert. Dieses Vorgehen führt dazu, dass die Dinge in einer eigentümlichen Zwischenposition verharren. Insofern sie dem Bild äußerlich bleiben, bleiben sie Dinge. lnsofern sie zu Elementen des Bildes werden, werden sie selbst zu ‚Bildern‘, d.h. zu Abstraktionen ihrer selbst. Auf diese Weise schließen sich Rauschenbergs Arbeiten nur augenblickshaft zu einer kohärenten Bildgestalt zusammen. Die Einheit des Bildes kann nicht festgehalten werden, ist vielleicht wiederzugewinnen, um im nächsten Augenblick erneut in die Heterogenität der einzelnen Teile zu zerfallen. Die Bildelemente sind, so Brian O’Doherty, wie die Wörter einer Sprache, der die Syntax fehlt.
Winter Pool (Abb. 10) ist hierfür ein gutes Beispiel. Eine Holzleiter klemmt zwischen zwei Bildstücken, die sie zugleich voneinander trennt und miteinander verbindet. Dabei handelt es sich jedoch nicht um das Zerschneiden einer homogenen Oberfläche wie bei Fontana, sondern um die Zusammenfügung dreier distinkter Teile. Der Dingcharakter der Leiter akzentuiert dabei die Dinglichkeit der beiden flankierenden Paneele. Gemäß Rauschenbergs Wunsch berührt deren unteres Ende den Boden des Raumes, in dem das Werk sich befindet. Damit erscheint sie wie der buchstäblich vollzogene Ausstieg aus dem Bild in seiner traditionellen Auffassung als nur scheinhaft existierende Welt. Allerdings kann man den Prozess auch umgekehrt lesen. Durch die Integration der Leiter in das Bild wird auch diese zum Bild – oder genauer formuliert: Sie wird zur Darstellung einer Leiter, das heißt zur Darstellung ihrer selbst. Auf diese Weise symbolisiert sie ebenso sehr den Ausstieg aus dem Bild wie den Einstieg in den virtuellen Darstellungsraum der Kunst. Indem die Combines Realität und dargestellte Realität ineinander umspringen lassen, balancieren sie auf dem Grat zwischen der Verdinglichung des Bildes einerseits und der Entmaterialisierung der Dinge andererseits. Dass es Rauschenberg um eben diese Zwischenposition des Bildes wie zugleich der Dinge ging, dürfte erklären, warum er am künstlerischen Medium des Bildes festhielt, statt seine Assemblagen als Installationen im realen Raum auszubreiten. Dieses Festhalten an der Bilddialektik von Sein und Schein verbindet ihn, so verschieden die Werke ansonsten sind, mit Lucio Fontana.
Auf Rauschenbergs „Palette“ sind auch die Farben vorgefundene Dinge. Sie sind nicht jenes quasi immaterielle Medium der klassischen Malerei, das aufgrund seiner Eigenart, sich selbst auszulöschen, zur Darstellung aller Stofflichkeiten, seien es Haut, ein Stein oder der Himmel, eingesetzt werden konnte. Vielmehr führen sie im Sinne dessen, was Nelson Goodman „Exemplifikation“ nannte, diejenigen Eigenschaften vor, die sie selbst besitzen, beispielsweise ihre Dickflüssigkeit oder den Schimmer ihrer Oberfläche. „Ich habe natürlich die Tatsache genutzt“, so Rauschenberg im Gespräch mit Dorothee Seckler, „dass Farbe herunterläuft. Dies ist lediglich ein freundschaftliches Verhältnis zu den Materialien – man mag sie für das, was sie sind, eher als für das, was man aus ihnen machen kann.“ Auf diese Weise gelingt Rauschenberg ein spielerischer Dialog zwischen den aufmontierten Dingen und der Malerei. So suggeriert die Farbfaktur in Pantomime (Abb. 11), sie sei nicht nur durch den Maler, sondern auch durch das Gebläse der beiden Ventilatoren erzeugt worden. Diese doppelte Oberflächlichkeit, die das Malen zum Anstreichen einer Fläche macht und zugleich den Malprozess depersonalisiert, verneint die existenzielle Tiefe, die das Kennzeichen des Action Painting war. Er habe, so sagte Rauschenberg später, die Ventilatoren nur deswegen auf das Bild geschraubt, „um die Farben kühl zu halten“ – eine Äußerung, die nicht nur die physische Seite der Farbe betont, sondern zugleich die ‚heiße‘ Malerei des Action Painting ironisiert.
Die gegenläufigen, sich jedoch gegenseitig bedingenden Bewegungen der Materialisierung des Bildes und der lmmaterialisierung der Dinge brachte Rauschenberg auf den Punkt, als er die Entstehungsgeschichte seines wohl berühmtesten Combine-Painting, Bed aus dem Jahre 1955, erzählte (Abb. 12). Bed sollte, so Rauschenberg, eigentlich gar kein Bett werden. Er habe zunächst nur versucht, die Steppdecke als vorgefertigten abstrakten Bildgrund zu verwenden. Doch das Steppdeckenmuster sei einfach nicht abstrakt geworden. Wieviel Farbe er auch aufgetragen habe, es sei nichts anderes daraus geworden als eben eine Steppdecke. Der einzige Weg, so Rauschenberg weiter, sie abstrakt werden zu lassen, sei gewesen, sie zur Abstraktion ihrer selbst werden zu lassen. Das habe jedoch erst dann funktioniert, als er ein Kopfkissen darauf anbrachte. Denn dadurch sei sie zur Abstraktion eines Bettes geworden.
Bed ist insofern ein Einzelfall unter den Combines, als es das Bild mit dem Gegenstand – dem Bett – in Umriss und Ausdehnung zusammenfallen lässt. Das Bett befindet sich nicht auf einer Bildfläche, die noch anderes enthält, sondern ist das Bild. Der mannigfaltigen Metaphorik des Bildes – als Spiegel, Fenster, Schleier usw. – fügt Rauschenberg eine draufgängerische Variante hinzu: das Bild als Bett. Signifikanterweise ist das entscheidende Kopfkissen, das nach Rauschenberg das Bild erst ‚funktionieren‘ lässt, auch nicht nach jener Logik der „zufälligen Ordnung“ auf die Bildfläche gesetzt, die Rauschenberg für seine Werke eigentlich beansprucht, sondern genau dort, wo das Kissen bei einem Bett hingehört.
Der spezifische Raum, den diese Arbeit eröffnet, besteht nun aber nicht nur im kognitiven Raum, den die Ambiguität zwischen den Auffassungen als Bett und als Darstellung eines Bettes erzeugt, also nicht nur im kognitiven Raum zwischen Realität und Illusion. Sie eröffnet zugleich einen buchstäblichen Raum. Dessen Eigenart führt uns zu Greenberg zurück, und zwar zu seiner Beschreibung, wie der Modernismus die Kulisse und den Vorhang der imaginären Bildbühne zu einer einzigen Fläche zusammengezogen habe, was die Aufhebung jener räumlichen Rechte bedeutet habe, welche die Maler dem Betrachter eingeräumt hätten, als sie noch Illusionen desjenigen Raumes schufen, in dem auch unsere Körper sich bewegten. Rauschenberg spaltet diese eine und einzige Fläche des modernistischen Bildes wieder auf, indem er die Decke seines ‚Bettes’ zurückschlägt, wodurch als zweite, dahinter liegende Ebene das Laken zum Vorschein kommt. Der Zwischenraum dieser verdoppelten Bildfläche gibt dem Betrachter die verlorenen „räumlichen Rechte“ auf überraschende Weise wieder, indem er hier gewissermaßen unter die Decke ins Innere des Bildes schlüpfen kann. Auffällig ist nun aber, dass sich Rauschenbergs malerische Bearbeitung auf die obere Bildhälfte beschränkt, wo sie den Effekt erzielt, die Naht- und Bruchstellen der Bildfläche durch eine Art Übertünchen optisch zu verschleifen. Der visuelle Raum der Malerei tritt zum faktischen Raum zwischen Kissen, Laken und Decke in unmittelbare Konkurrenz. Diese Rivalität von Ding-Raum und Bild-Raum wird noch dadurch verschärft, dass sich ersterer auf die horizontale Position des Bettes bezieht, während die zahlreichen Rinnspuren der Farbe verdeutlichen, dass die Malerei auf das bereits in die vertikale gekippte Bett aufgetragen wurde. Doch auch die Malerei eröffnet nicht jenen Greenbergschen Raum apollinischer Optikalität, sondern evoziert mit ihren Schlieren und Flecken, die wie eine Besudelung wirken, den dionysischen Raum des Schlafs und der Sexualität. Rauschenberg desublimiert nicht nur das Handwerk des Malers, sondern auch das Betrachten eines Bildes, das hier so wirkt, als könnte man sich dabei beschmutzen.
Die Bildfaktur von Rauschenbergs Bed umfasst in exemplarischer Weise jene unterschiedlichen Ebenen, die einleitend bestimmt wurden. Sie ist ebenso ein spezifischer Oberflächenzustand wie die Spur eines Machens, sie wird genauso durch die Stofflichkeit der Ausgangsmaterialien geprägt wie durch die Bearbeitung dieser Materialien zum Artefakt. Indem Rauschenberg die Bildfläche buchstäblich aufreißt, treten zudem – wie schon in den anderen diskutierten Beispielen – Faktur und Fraktur zusammen. Schließlich besitzt auch Bed jene den Avantgarden eingeschriebene Spannung zwischen Produktivität und Destruktion, indem es nicht nur das Konzept des Abstrakten Expressionismus sprengt, sondern im selben Zuge jene Auffassung des Modernismus, die im Abstrakten Expressionismus dessen Erfüllung zu erkennen glaubte.
Darüber hinaus zeigt sich an Bed, dass die Bildfaktur auch eine subjektive mnemonische Dimension besitzen kann. Denn sowohl die Materialität der Arbeit als auch die Möglichkeit des Darunterschlüpfens gehen auf Erinnerungen aus Rauschenbergs Kindheit zurück. So unterbricht Rauschenberg die referierte Erzählung der Entstehungsgeschichte von Bed durch folgende Reminiszenz:
„Ich war häufig Steppdecken ausgesetzt. Ich lernte, unter den Arbeitstisch meiner Mutter zu kriechen, wenn sie ihr Nähkränzchen hatte. Die Frauen in Port Arthur hatten nichts anderes zu tun als Konserven oder Steppdecken zu machen. Selbst wenn sie für andere Dinge Talent hatten, das war ihre Arbeit. Ich liebte es, unter die Steppdecken zu kriechen. Sie waren wie große, wunderbare Zelte. Meistens war ich das einzige Kind, und ich musste mich selbst beschäftigen, so gut es eben ging. Vielleicht ist das der Grund, warum ich eine so tief verwurzelte Vorstellung davon habe, was eine Steppdecke ist.“

Kapitel I: Das Bild als Möbiusband zwischen Materialität und Immaterialität
Kapitel II: Negation und Affirmation der Faktur: Delaroche und Degas
Kapitel III: Der Raum im Inneren des Bildes 1: Picassos Collagen
Kapitel IV: Der Raum im Inneren des Bildes 2: Fontana
punkt Kapitel V: Der Schritt vor die Leinwand – und wieder in diese zurück: Rauschenberg
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