Relationale Ästhetik Cezanne Fleck Farbe Raum

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Relationale Ästhetik. Über den ‚Fleck‘ bei Cézanne und Lacan

in: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265-288.

Kapitel III: ‚Fleck‘ und Farbe

Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sei jedoch die Funktion der taches in Cézannes Bildern genauer betrachtet. Für Cézanne sind sie das Grundelement, aus dem er, je später im Œuvre desto ausdrücklicher, seine Bilder ‚baut‘. Diese Bausteinfunktion können sie deshalb erfüllen, weil sie verschiedene Dualitäten in sich aufheben. So wird es möglich, traditionell voneinander getrennte Ausführungsschritte eines Gemäldes in einer einzigen Setzung zusammenzufassen. Denn jede tache ist Form und Farbe, Malerei und Zeichnung, Licht und Dunkelheit, materieller Rohstoff und Form in einem. Statt die Dinge durch die Linie zu umreißen, durch das Spiel von Licht und Schatten zu modellieren und schließlich durch Farbe zu kolorieren, basiert Cézannes Malerei allein auf einem differenziellen System kontrastierender Farbmarkierungen, das er ‚Modulation‘ nannte:
„Man sollte nicht modellieren sagen“, so Cézanne, „man sollte modulieren sagen. […] Es gibt keine Linie, es gibt keine Modellierung, es gibt nur Kontraste. Diese Kontraste werden aber nicht von Schwarz und Weiß hervorgebracht, sondern von der farblichen Empfindung. Aus der richtigen Beziehung zwischen den Farbtönen ergibt sich die Modellierung. Wenn sie harmonisch nebeneinander gesetzt werden und alle vorhanden sind, modelliert sich das Bild von selbst.“
Die tache ist folglich Endpunkt und Ausgangspunkt zweier gegenläufiger Prozesse. Einerseits werden darin komplexe Erfahrungen und Verfahren eingefaltet, um anschließend daraus die Ordnung des Bildes zu entfalten. Mit dem rhythmisierten, eine Art gleichmäßiger Unschärfe hervorbringenden Gewebe der taches versuchte Cézanne der Natur des Sehens möglichst nahe zu kommen. Das Vorgehen war allerdings ebenso paradox wie das Ergebnis. Um neu sehen zu lernen, brach Cézanne mit den Konventionen der Malerei. Im Willen, der ‚Verdunkelung‘ des konventionalisierten Sehens eine neue Klarheit entgegenzusetzen, ersetzte er die Durchsichtigkeit des klassischen Tafelbildes durch eine fleckige Opazität, also durch eine Malweise, die nicht nur die Medialität des Bildes, sondern mehr noch: dessen Dinglichkeit zur Schau stellte. Damit aber bezog sich das ’neue Sehen‘ vor allem auf Gemälde, deren Erscheinungsweise befremdlich ins Auge stach. Es mündete in ein Bild, das zunächst einmal auf sich selbst verrwies.
Mit seinem Prinzip der Modulation kontrastierender Flecken durchkreuzte Cézanne die klassische Bildordnung Punkt für Punkt. Die symbolische Ordnung des klassischen Bildes gründete in einer Metaphysik der Schönheit als Angemessenheit und Proportion, die sich kompositorisch in einer spannungsvollen Hierarchie von Teil und Ganzem, Zentrum und Peripherie, Vorne und Hinten, Oben und Unten, Hell und Dunkel, Bunt und Unbunt, malerischer Präzision und skizzenhafter Andeutung manifestierte, wobei sich die einzelnen Aspekte dieser Bildordnung in ihrer Sinnfälligkeit gegenseitig bestärkten. Im Mittelpunkt des Bildes, buchstäblich und metaphorisch, stand der Bildheld und spielte sich das Hauptgeschehen ab, während die Peripherie und der Hintergrund als Echo und Bestätigung dienten. Gleichzeitig wurde das Bild als ‚Durchblick‘ (prospectus, prospectiva) aufgefasst. Der Blickpunkt des Betrachters und der Fluchtpunkt des Bildes standen dabei in einem unumkehrbaren Verhältnis zueinander, allein schon deshalb, weil der räumliche Durchblick unmittelbar mit der geforderten perspicuitas, der Prägnanz und der Lesbarkeit der Darstellung, verbunden war. Bei Cézanne hingegen überwiegt das Heterogene das Homogene, das Offene das Geschlossene, die Peripherie das Zentrum, die Zerstreuung die Konzentration; und während die klassische Kompositionsform Bild und Betrachter über die Metaphern des ‚Organismus‘ und des ‚Körpers‘ analogisierte – durchaus in dem Sinne, wie sie in Lacans Aufsatz über das „Spiegelstadium“ aufscheint -, kündigt Cézannes Fleckentextur dieses Spiegelverhältnis zwischen Betrachter- und Bildkörper auf.
In denselben Zusammenhang gehört auch Cézannes vieldiskutierter Bruch mit der zentralperspektivischen Raumordnung. Häufig wird dieser Bruch lediglich im Zusammenhang mit der modernistischen Malerei gesehen, deren Tendenz zur Flächigkeit den Illusionismus des klassischen ‚Bildfensters‘ destruiert und die Medialität des Bildes selbstreferenziell herausgestellt habe. Seltener bedacht wird der Umstand, dass das Verschwinden des Fluchtpunktes als innerer Fokus des Bildes zwangsläufig das Verschwinden des Betrachterstandpunktes als äußerer Fokus des Bildes nach sich zieht. An beiden Polen der Sehachse gerät das Bild sozusagen ‚out of focus‘, so dass die Beziehung zwischen Bild und Betrachter ebenso unbestimmt wird wie der Zusammenhang zwischen den einzelnen Flecken im Bild.
„Das Licht ist keine Sache, die reproduziert werden kann, sondern etwas, das mit etwas anderem, mit Farben, dargestellt werden muss“, sagt Cézanne nach den Aufzeichnungen von Maurice Denis. Durch diese Eigenart, ‚anders‘ zu repräsentieren, verschränken sich in Cézannes Flecken Ähnlichkeit und Entstellung. Da jede von ihnen unterschiedlichen Ordnungen angehört, erscheinen sie überdeterminiert und unterbestimmt zugleich. So besteht eine der Pointen von Cézannes Malerei in der Überblendung von Sehen und Berühren. Wie schon die Ambivalenz der Begriffe motif und sensation zeigt, ist das Gesehene für Cézanne immer zugleich dasjenige, was einen im Inneren ‚berührt‘. Wird das Gesehene sodann als Bild realisiert, entsteht dieses aus lauter einzelnen kleinen Berührungen der Leinwand: tache/’Fleck‘ und touche/’Berührung‘ sind etymologisch verwandt. Dieselbe Überblendung zeigt sich in Cézannes Beschreibung seines Sehens. Er wünschte sich, ebenso präzise wahrnehmen zu können wie eine lichtempfindliche fotografische Platte, auf der sich „die ganze Landschaft einschreiben“ sollte. Der Vergleich des eigenen Sehens mit einer fotografischen Apparatur greift gerade nicht die nahe liegende Korrespondenz von Auge und Objektiv auf. Cézanne parallelisiert vielmehr die jeweils ‚dahinter‘ liegende Ebene von fotografischer Platte und Gehirn. Dieses soll sich, so Cézannes Formulierung, mit dem Bild der Dinge „imprägnieren“. Eine solche Selbstbeschreibung des Sehens lässt jedes reflexive Modell scheitern, ’sich selbst sehen zu sehen‘. Gegenüber der Unmittelbarkeit der Berührung wird jedes ’sehende‘ Bewusstsein davon zur nachträglichen Rekonstruktion. Oder anders formuliert: Das Gehirn sieht nicht.
Während Sehenkönnen die Distanz zum Gesehenen voraussetzt, kommt es in Cézannes Wahrnehmungsszenario zu einer dramatischen Umkehr der Verhältnisse: zu einer Berührung aus der Ferne. Mit Maurice Blanchot könnte Cézannes Sehen als „Blick der Faszination“ bezeichnet werden, der die Distanz neutralisiert und zu einer Gleichunmittelbarkeit von Nähe und Ferne führt. Es ist ein „Blick des Unablässigen und Endlosen, in dem Erblinden noch immer Sehen ist – ein Sehen, das nicht mehr die Möglichkeit ist, zu sehen, sondern die Unmöglichkeit, nicht zu sehen.“ Dabei liegt der Ursprung der Faszination nicht in dem, was zu sehen ist, sondern im Schauenden selbst: Man wird, so Blanchot, nur dann von etwas fasziniert, wenn man bereits „ganz unter dem Blick der Faszination lebt“
Indem jeder Farbfleck ikonisches und indexikalisches Zeichen in einem ist, wird die Relation zwischen der Bildoberfläche und demjenigen, was auf ihr sichtbar wird, zutiefst ambivalent. Einerseits verharren die Bilder in einer Art absoluter Distanz zu den Dingen. Sie verleiht Cézannes Malerei jenen Zug von ‚Unmenschlichkeit‘, den Merleau-Ponty einprägsam beschreibt: „Kein Wind weht durch die Landschaft, das Wasser des Sees von Annecy liegt regungslos da, ringsum erstarrte, zögernde Gegenstände, wie am Anfang der Erde. Es ist eine Welt ohne Vertraulichkeit, in der man sich unwohl fühlt, und die sich gegen alle menschlichen Gefühlsäußerungen sperrt.“
Zugleich aber drängt dieser unnahbare Grund, der in einem klassischen Gemälde lediglich den Hintergrund eines bühnenartigen Raums abgegeben hätte, immer stärker nach vorne, bis er jeglichen Zwischenraum verdrängt hat und mit der Bildfläche verschmilzt. Einerseits also entfernen sich die Gegenstände aus dem immer unkörperlicher werdenden Bild, andererseits aber bewegen sich Bild und Gegenstand solange aufeinander zu, bis sie ineinander aufgehen. Die Bildfläche wird zur Membran, wo diese gegenläufigen Bewegungen sich berühren. Ob das Bild eher ‚hinter‘ dem Raum liegt und diesen aus seinem fleckigen Grund heraus entspringen lässt, oder ob es vielmehr wie ein Schirm ‚vor‘ dem Raum liegt, dessen Licht sich in ihm abzeichnet, bleibt unentscheidbar. An Gemälden, die sich wie der Waldweg in der Provence (Abb. 4) an der zentralperspektivischen Ordnung zu orientieren scheinen, wird diese Ambivalenz besonders augenfällig. Jeder Farbfleck markiert hier zugleich eine Position im Raum und eine Position auf der Bildfläche, wobei beides fortlaufend ins andere umspringt. Im Kontext des Bildes als tiefenräumliche Illusion zeigt sich die tache als Fläche, in der flächigen Ausbreitung der Leinwand indessen als Tiefe. Diese Doppelidentität gewinnen die Flecken deshalb, weil sie sich kaum je verdecken, sondern konsequent nebeneinander gesetzt sind und somit jeweils gleich weit von unserem Auge entfernt scheinen. Die Tiefenerstreckung des Waldwegs wird zu einem rein differenziellen Effekt, wobei sich der Raum, der von keiner einzigen Linie erschlossen wird, nie mit einem messbaren Raum konvergiert. Durch das unruhige Nebeneinander von warmen und kalten, helleren und dunkleren Farbtönen gewinnt er vielmehr eine zeitliche Dimension, die ihn pulsieren (entstehen und wieder schwinden) lässt. Das Bild wird zum ‚Schirm‘, der die Tiefe ebenso zeigt wie verdeckt. Über ihn rieselt das Licht, dessen Quelle oder konkreten Einfall Cézanne niemals malt, sondern über die gesamte Bildfläche zerstreut. Das Sehen ist weder perspektiviert noch fokussiert. Umgekehrt ist im Bild – wie man mit Rilkes Gedichtzeile über den Torso von Belvedere sagen könnte – „keine Stelle, die dich nicht sieht“. So gibt es kaum eine präzisere Beschreibung der Phänomenalität von Cézannes Waldweg als eine Passage in Lacans Seminar XI, die der Relation von Auge und Licht gewidmet ist: „Was Licht ist, blickt mich an, und dank diesem Licht zeichnet sich etwas ab auf dem Grunde meines Auges – nicht einfach jenes konstruierte Verhältnis, das Objekt, bei dem der Philosoph hängenbleibt – sondern die Impression, das Rieseln einer Fläche, die für mich nicht von vorneherein auf Distanz angelegt ist. Dabei kommt etwas ins Spiel, was beim geometralen Verhältnis elidiert wird – die Feldtiefe in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit, Variabilität, auch Unbeherrschbarkeit. In der Tat ist eher sie es, die mich ergreift, mich in jedem Augenblick umwirbt und aus der Landschaft etwas anderes macht als eine Perspektive […]
Ein später Brief Cézannes an seinen Sohn Paul eröffnet eine weitere Dimension der wechselseitigen Kräfte, die auf den zwischen Auge und Sichtbarem liegenden Bild-Schirm einwirken: „Ich möchte dir sagen“, schreibt er, „dass ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, dass bei mir jedoch die Realisierung meiner Empfindungen immer sehr schwierig ist. Ich kann die Intensität, die sich vor meinen Sinnen entfaltet, nicht erreichen, ich besitze diesen großartigen Farbenreichtum nicht, der die Natur beseelt. Hier, am Ufer des Baches, vervielfachen sich die Motive, das selbe Sujet, unter einem anderen Blickwinkel gesehen, bietet ein Studienobjekt von stärkstem Reiz und von solcher Mannigfaltigkeit, dass ich glaube, mich über Monate beschäftigen zu können, ohne den Platz zu wechseln, indem ich mich bald mehr nach rechts, bald mehr nach links beuge.“ Cézannes Aufmerksamkeit wendet sich von der Registrierung visueller Sensationen und den Phänomenen des Lichts auf den eigenen Körper zurück, auf dessen rhythmische Bewegung und Zeitlichkeit. Unter solchen Voraussetzungen eines dynamisierten Sehens zu malen heißt, dem Bild nicht nur die gegenläufige Verschiebung von Augpunkt und Sehfeld einzutragen, die das Wiegen des Körpers provoziert, sondern zugleich die Empfindung der eigenen Körperbewegung mit derjenigen der ‚beseelten‘ Natur zu verschmelzen – ein bildplastisches Problem, das man sich kaum schwierig genug vorstellen kann. In einem drei Wochen früher geschriebenen Brief, der bereits von den am gleichen Bachufer gemachten Erfahrungen berichtet, stellt er dafür eine Maxime auf. Es sei ausschlaggebend, ins Bild „ein Höchstmaß an Wechselbeziehungen hineinzubringen“ – Wechselbeziehungen, die folglich nicht nur die einzelnen Bildelemente betreffen, sondern zugleich das Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem beweglichen Auge des Malers. An manchen Bildern lassen sich die Versuche, beides ineinander zu blenden, besonders gut beobachten; zwei unterschiedliche Varianten seien herausgegriffen. So führt etwa im Gemälde Kiefern und Felsen(Abb. 5) die starke Konturierung des Felsens im Vordergrund, aber auch die eigentümliche Überschneidung von Gestein und Baumstamm am linken Bildrand zu einem Effekt, wie er aus stereometrischen Fotografien bekannt ist: zu einer Räumlichkeit, die eher aus der Verschiebung verschiedener Bildebenen zueinander entsteht denn aus einer nachvollziehbaren Tiefenstaffelung der Dinge. Eine andere Variante zeigt das Aquarell eines Blätterwerks (Abb. 6). Die evozierte Bewegtheit lässt sich weder allein auf das Rascheln der Blatter noch auf das Wiegen des Malers reduzieren, sondern hebt beides in einer Bewegtheit des Bildes selbst auf. Die sich wiederholende Abfolge von Rot, Smaragdgrün und Violett entfaltet einen Effekt, als blickten wir durch ein Kaleidoskop, dessen Drehung die Welt in eine immanente, in sich selbst zurückgespiegelte Ordnung farbiger Facetten überführt.

Kapitel I: Zwei Formen des Relationalen
Kapitel II: ‚Blick‘ und ‚Fleck‘
punkt Kapitel III: ‚Fleck‘ und Farbe
Andy Warhol - Pfeil Kapitel IV: Die Geste des Malens
Kapitel V: Die Funktion des Gemäldes
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Relationale Ästhetik Lacan Blick Fleck

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Relationale Ästhetik. Über den ‚Fleck‘ bei Cézanne und Lacan

in: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265-288.

Kapitel II: ‚Blick‘ und ‚Fleck‘

Berühren sich Cézannes Malerei und Lacans Bildtheorie im ‚Fleck‘, dann treffen sie sich in einem Element, das bei beiden eine entscheidende Rolle spielt. Lacans Verwendung des Begriffs ‚Fleck‘, um mit ihm zu beginnen, ist allerdings schillernd, da er ihn einmal metaphorisch (im Zusammenhang mit dem ‚Blick‘), einmal wörtlich (hinsichtlich Cézannes) versteht. Die unterschiedlichen Facetten, die auch die Anamorphose einschließen, überschneiden sich jedoch in dem, was man eine Bedeutung ohne Form nennen könnte.
Die Eigenart und die Wirkungsweise des ‚Blicks‘ steht in Beziehung zu dem, was Lacan als Signifikantenstruktur bezeichnet: jene Verkettung leerer, in sich bedeutungsloser Zeichen, die jedoch eine Ordnung etabliert, die wir als Wirklichkeit begreifen. Lacan verkehrt die saussuresche Hierarchie, die den Signifikanten dem Signifikat unterstellt, mit der Konsequenz, dass die Sprache nicht länger als Repräsentation, sondern als differenzielle Artikulation begriffen wird. Subjekt und Signifikant versteht Lacan zudem als unmittelbar aufeinander bezogen. Bedeutung erhält der Signifikant nämlich nicht nur aufgrund der Vernetzung mit den anderen Signifikanten, sondern auch dadurch, dass das Subjekt ihn – ganz wörtlich – für ‚bedeutend‘ hält. Diesem Bezug des Signifikanten auf das Subjekt entspricht umgekehrt eine Abhängigkeit, die Lacan mit der Formulierung zum Ausdruck bringt, das Subjekt sei ‚Subjekt des Signifikanten‘, also gewissermaßen dessen ‚Untertan‘. Deren Relation fasst Lacan in der Formel zusammen, der Signifikant repräsentiere das Subjekt, aber für einen anderen Signifikanten. Einerseits vertritt der Signifikant das Subjekt und schreibt es in die Signifikantenstruktur ein. Doch da dieser kein transzendentes Signifikat entspricht, sondern jede Bedeutung nur dem differenziellen Wechselspiel aller Signifikanten in deren grundsätzlich unvollständiger Verkettung entspringt, wird das Subjekt, auf der Suche nach dem Sinn und seinem Platz darin, auf eine nomadische Reise geschickt, in der es von einem Signifikant zum nächsten weiter verwiesen wird. (Sens bedeutet im Französischen zugleich ‚Sinn‘ und ‚Richtung‘.) In diesem Prozedieren gründet sich das Subjekt und partizipiert am Sinn der Welt. Dafür zahlt es allerdings mit seiner Spaltung, die Lacan auch Entfremdung nennt. Denn es ist jenes äußerliche und in seiner Ordnung weder vollständig zu durchschauende noch gar zu kontrollierende Feld der Signifikanten, auf dem das Subjekt sich auftauchen sieht. Nie wird es sich selbst als Ursache des Sinns erfahren können, niemals wird es jenen Nullpunkt des Seins bilden, als den Merleau-Ponty den Menschen begriff. Vielmehr nimmt es selbst den Charakter eines Zeichens (für andere Zeichen) an. Seine Existenz gewinnt es allein dann, wenn es das Spiel der Signifikanten mitspielt: wenn es spricht – oder malt.
In dem durch Wiederkehr und Wiedererkennen strukturierten Signifikantennetz erscheint nun aber ein Signifikant besonderer Art. Es ist ein überschießender, kontingenter Rest, der darunter fortläuft und deren Konsistenz aushöhlt, indem er ein diffuses ‚Mehr‘ oder ‚Dahinter‘ aufblitzen lässt: das ‚Objekt a‚ die Objekt-Ursache des Begehrens und zugleich das Symbol des Mangels in der Signifikantenstruktur und im Subjekt. Es ist dieses befremdlich Kontingente, welches das Subjekt am unmittelbarsten zu betreffen scheint und mit dem es sich am stärksten identifiziert. Paradoxerweise ist es erst dieser nicht integrierbare Rest, der die Wirkung der Signifikanten im Subjekt in Bewegung setzt – eine Bewegung, die demzufolge durch ein beständiges Pulsieren zwischen Schließung und Öffnung der Struktur gekennzeichnet ist.
Im Feld des Sichtbaren manifestiert sich das ‚Objekt a‚ als ‚Blick‘, durch den das Sehen an eine Grenze stößt. Etwas ebenso Lichthaftes und Blindes ‚blickt‘ zurück, das die Geschlossenheit des Sehfeldes stört und die imaginäre Selbstspiegelung des Subjekts im Gesehenen aufbricht. Antinomisch dem Auge entgegengesetzt, initiiert es eine Art Straucheln, in dem das Subjekt „zu Fall kommt“. Während es sich selbst entzieht, hinterlässt es im Sehfeld des Subjekts – genauer auf dessen ‚Schirm‘ (écran) -, gleichwohl eine Spur: ein Flimmern, Schillern oder, wie Lacan bevorzugt sagt, einen Fleck (tache). Indem jener Fleck mich anblickt und angeht (me regarde in seiner Doppelbedeutung), kehrt er zugleich, so Lacan, die geometrale Sehperspektive um. Er hat das Vermögen, mich zum ‚Bild‘ zu machen, genauer: zu einem Fleck im Bild.
Wenn das Subjekt am Sichtbaren hängt, dann also nicht allein wegen dem, was es dort sieht. Den intensivsten Bezug zwischen Subjekt und Sehfeld stiften die Stellen, wo es etwas nicht sieht. Dabei handelt es sich um eine strikte Negativität, „unbefriedigt, unmöglich, verkannt“ – um ein „Rendez-vous“, zu dem man stets gerufen ist und das man dennoch immer verpasst. Für unseren Zusammenhang bleibt festzuhalten: Was Lacan in seiner Analyse des Sichtbarkeitsfeldes als ‚Blick‘ beschreibt, ist an kein Material und keine Erscheinungsweise gebunden. Es ist somit auch nichts, worauf man in einem Gemälde zeigen könnte, da sich dessen ‚Blickhaftes‘ ausschließlich im Modus des Nicht-Sehens zeigt. Wenn Lacan dieses (ver)störende Moment von Alterität, das den Bildzusammenhang aufsprengt, als ‚Fleck‘ bezeichnet, um der Verwechslung mit einem tatsächlich blickenden Auge entgegen zu arbeiten, sollte folglich auch diese Metapher nicht buchstäblich verstanden werden.
Eine ganz andere Konsistenz erhält der ‚Fleck‘, wenn Lacan auf Cézannes ‚kleines Blau‘ und ‚kleines Braun‘ zu sprechen kommt. War am Fleck qua Blick der Aspekt radikaler Negativität herauszustreichen, haben wir es hier mit materiellen Flecken aus Tubenfarbe zu tun. Sie tauchen auch nicht im ‚extimen‘ Sehfeld des Subjekts auf, sondern verdanken sich der handfesten Geste des Malers, der sie auf die Leinwand setzte. Mit der Hinwendung zum Malakt vollzieht Lacan einen jener Seitenwechsel, die seinen Umgang mit dem Bild kennzeichnen. Er tauscht die Perspektive dessen, der etwas sehen will, gegen die Produktionsperspektive dessen, der etwas zu sehen gibt. Von der Relation dieser gegenläufigen Perspektiven sowie der unterschiedlichen Flecken, die dabei ins Spiel kommen, hängt nun aber ab, in welcher Beziehung das Bild der Malerei (tableau) zu den Bildern im Feld des Sehens (image und écran) steht. Es handelt sich um diejenige Beziehung, die Lacan in seinem berühmten Schema der sich durchdringenden Dreiecke in Form brachte. (Abb. 3)

Kapitel I: Zwei Formen des Relationalen
punkt Kapitel II: ‚Blick‘ und ‚Fleck‘
Andy Warhol - Pfeil Kapitel III: ‚Fleck‘ und Farbe
Kapitel IV: Die Geste des Malens
Kapitel V: Die Funktion des Gemäldes
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Relationale Ästhetik Cezanne Lacan Bild Blick

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Relationale Ästhetik. Über den ‚Fleck‘ bei Cézanne und Lacan

in: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265-288.

„Die Natur lesen heißt, sie unter dem Schleier der Interpretation durch farbige Flecken sehen, die nach einem Harmoniegesetz aufeinander folgen.“ (Paul Cézanne)

Kapitel I: Zwei Formen des Relationalen

Wir werden nie genau wissen, worin Cézannes Ziel bestand, von dem er noch wenige Wochen vor seinem Tod in einem Brief an Emile Bernard sprach:
„Werde ich das so sehr gesuchte und so lange verfolgte Ziel erreichen? Ich wünsche es, aber so lange es nicht erreicht ist, bleibt ein gewisser Zustand von Unbehagen bestehen, der erst verschwinden wird, wenn ich den Hafen erreicht haben werde, das heißt, wenn ich etwas realisiert haben werde, das sich besser als bisher entwickelt.“
War es die „Harmonie parallel zur Natur“, die seine Gemälde zeigen sollten, oder die „Organisation der Empfindungen“ angesichts der studierten Natur? Worauf richtete er seinen Blick, wenn er, einmal mehr, seinen Malerplatz eingenommen hatte, und was sah er dort, das er in Malerei zu übertragen versuchte? Manches deutet darauf hin, dass es sich hierbei nicht um eines der genannten Ziele handelte, sondern um ein schwer zu fassendes Dazwischen, das auf keinen seiner Pole rückführbar ist.
Eine erste Vorstellung davon geben die Begriffe, die Cézanne vorzugsweise benutzte, wenn er sein malerisches Verfahren beschrieb. Da ist zunächst das ‚Motiv‘, mit dem er nicht nur den gegenständlichen Vorwurf des Bildes meinte, sondern ebenfalls die Motivation für seine unermüdliche Arbeit des Beobachtens und Malens. In Anbetracht seines beinahe schon seriellen Vorgehens, das ihn seine Sujets immer wieder aufgreifen ließ, sowie mit einem Seitenblick auf die musikalische Terminologie gewinnt der Begriff des Motivs zudem die weitere Bedeutung eines rhythmisch-melodischen Kerns, den er in seinen jeweiligen Bilderfolgen künstlerisch ausarbeitete. Aller sur le motif, wie er seinen Gang zur Arbeit nannte, bedeutete demnach, in eine Beziehung zu einem äußeren Objekt zu treten, das einen innerlich bewegt und das es bildnerisch auszuarbeiten gilt. Das Sichtbare war ihm Darstellungsgegenstand und Inspirationsquelle, Modell und Muse zugleich. Heteronome und autonome Vorstellungen künstlerischer Kreativität verschränken sich, indem diese als zugleich innen- und außengeleitet erscheint, motiviert durch etwas, was man mit Lacan eine „intime Exteriorität“ nennen könnte.
Sensation (‚Empfindung‘), ein weiterer Schlüsselbegriff in Cézannes Vokabular, entfaltet eine vergleichbare Komplexität. Zunächst meint er die visuelle Wahrnehmung im Sinne der ‚Impression‘, also ein vom Objekt ausgehender optischer Sinnesreiz. Zugleich umfasst er die Emotion als psychische Reaktion auf das Wahrgenommene. Ausdrücklich stellte Cézanne nicht das darzustellende Objekt, sondern die sensation in den Mittelpunkt seiner malerischen Bemühungen: „Nach der Natur malen bedeutet nicht den Gegenstand kopieren, es bedeutet seine Empfindungen realisieren.“ Damit formulierte er eine Beziehung zur Welt, die, um eine Wendung Maurice Merleau-Pontys aufzunehmen, „gleichzeitig Ergreifen und Ergriffenwerden“ war. Das Medium, das zwischen den Dingen und den Empfindungen vermittelte, war die Farbe, wobei Cézanne offen lässt, wie weit sie den Dingen entspringt oder aber eine Abstraktion seines Sehen ist.
Mit dem dritten Zentralbegriff schließlich, réalisation, bezeichnete Cézanne die eigentliche malerische Aktivität, jenes Tun also, vor dessen Scheitern er sich bis zuletzt fürchtete, wie der eingangs zitierte Brief bezeugt. Zu ‚realisieren‘ galt es mehreres im selben Zuge: zunächst das Motiv in seiner unendlichen Vielfalt, des weiteren die Empfindungen, welche das Motiv in ihm auslöste, und schließlich das Gemälde selbst, dessen dingliches Realwerden die anderen ‚Realisierungen‘ allererst ans Licht bringen konnte. ‚Malen‘ hieß demnach, jene gegenläufigen Bewegungen des Aufnehmens und Abgebens, der ‚Impression‘ und der ‚Expression‘ in einer einzigen Geste ineinander aufgehen zu lassen. Als Cézanne habe zeigen wollen, was ein ‚Motiv‘ sei, so erinnerte sich Joaquim Gasquet, habe er die Hände voneinander entfernt, um sie dann ganz langsam mit gespreizten Fingern wieder aneinander anzunähern, sie ineinander zu schieben und fest miteinander zu verschränken. Was Cézanne auf der planen Fläche des Bildes zu realisieren versuchte, hatte den Charakter eines Knotens.
Cézannes Malerei belegt beispielhaft, wie in der Kunst der Moderne Sujet und Subjekt in einer Weise ineinander greifen, wie es seine verschränkten Hände veranschaulichen. Das Sujet des Bildes, d.h. das Objekt, wovon es spricht, wird untrennbar vom Subjekt, welches sich darin ausdrückt. Im Augenblick der Werkentstehung, der im Sinne der Literaturwissenschaft als Akt der écriture verstanden werden kann, findet eine wechselseitige Medialisierung statt, in welcher das Subjekt zum Medium der Werkerzeugung und das Sujet zum Medium einer Selbsterkundung wird. Diese wechselseitige Vermittlung, welche das Kunstwerk performativ vollzieht – in der Spannung zwischen Darstellung und Selbstdarstellung, Zeigen und Selbstreflexion –, tritt in der Moderne an die Stelle dessen, was in der älteren Kunst die Konzepte der Narration und der Repräsentation waren. Auf diese Weise spiegelt das moderne Kunstwerk weniger die Welt als vielmehr die Beziehung zur Welt, seine Subjektivität ist Relationalität. Die Künstler, freigesetzt von ihren traditionellen Darstellungsaufgaben, entdecken darin ein gänzlich neues Feld. Sie stoßen auf die irreduzible Ambivalenz ihrer Produktivität, in der Authentizität zur Losung und zugleich unerreichbar wird und das Problem der Vermittlung – Cézannes Schwierigkeiten des ‚Realisierens‘ – sich auf allen Ebenen stellt.
Wenn Cézanne von sich sagte, er lenke seine Leinwand „in allen Teilen gleichzeitig“, so erlaubt dies einen Brückenschlag zu Lacan. Auf diese Weise könnte auch dessen Arbeit an seinem Begriffssystem beschrieben werden, das insbesondere in den späteren Schriften und Seminaren jeden Begriff nur in seiner Beziehung zu allen anderen bestehen lässt. Diese methodische Eigenart konfrontiert allerdings den Versuch, Lacans Bildtheorie aus denjenigen Stellen zu deduzieren, die sich ausdrücklich dem Bild widmen, mit Schwierigkeiten. Was Lacan unter ‚Bild‘ diskutiert – ausgefaltet in die Begriffe von image, écran und tableau-, lässt sich nur im Bezug auf seine Begriffstopologie insgesamt beziehen; die entscheidenden Passagen finden sich nicht zufällig in einem Seminar über ‚Grundbegriffe‘ der Psychoanalyse. Zugleich schreibt Lacan über die absolute Relationalität seiner Begriffe nicht so, wie man etwas Äußerliches beschreibt. Seine Art des Diskurses inszeniert sie stattdessen auf eine Weise, die den Interpreten hin und her springen und einzelne Formulierungen verknüpfen lässt. Die Entdeckung argumentativer Kohärenz lässt sich folglich von deren Konstruktion schwer abgrenzen. Im Hinblick auf den spezifischen Fall der Malerei sind weitere Eigenheiten von Lacans Bilddiskurs zu berücksichtigen. Lacan thematisiert Gemälde nicht als Artefakte, deren verborgene Bedeutung es zu entschlüsseln gilt. Die kunstwissenschaftliche Frage, was dieses oder jenes Kunstwerk bedeute, wird vielmehr durch die grundsätzliche Frage ersetzt, was den Maler überhaupt dazu bewegt, ein Bild zu produzieren, und was umgekehrt dem Betrachter widerfährt, wenn er Bilder anschaut. ‚Bedeutung‘ erhält in beiden Fällen die Struktur eines Ereignisses: Sie selbst ist ein Geschehen, das sich nicht auf die Denotation innerbildlicher Gegebenheiten oder außerbildlicher Kontexte historischer, soziologischer oder individualpsychologischer Art zurückbringen lässt. Selbst den ästhetischen Charakter bildlichen Sinns ordnet er einer diskursiven Merkmalsbestimmung unter, der es allein um das Funktionsprinzip des Bildes im Feld des Sehens und der Sichtbarkeit geht, und zwar ausschließlich in Bezug auf das Subjekt, das sich in und gegenüber der Welt artikuliert. Lacan geht sogar so weit zu betonen, Sinn und Zweck eines Bildes lägen nicht in dem, was auf ihm dargestellt sei. Er beruft sich hierfür auf das Beispiel Cézannes, der, wenn er Äpfel male, etwas ganz anderes tue als Äpfel zu malen. Auf dieses ‚Andere‘ deuten, so Lacan, die eigentümlichen ‚Flecken‘, aus denen die Bilder bestehen, jenes „kleine Blau, kleine Braun, kleine Weiß“, die „vom Pinsel des Malers tropfen“.
Doch auch beim Subjekt, bei jener Instanz also, auf die Lacan die Funktion des Bildes bezieht, stoßen wir auf eine Art von absoluter Relationalität. Lacan billigt dem Subjekt kein Sein außerhalb des Bezugs auf heteronome Instanzen zu. Es entsteht und gewinnt seine Handlungsfähigkeit vielmehr allein als Subjekt von etwas: des Signifikanten, des Unbewussten, des Begehrens, des Blicks usw. Diese Spaltung im Subjekt, stets diesseits und jenseits seiner selbst zu sein, kehrt in der Ambivalenz des Bildes wieder, welche die Grenze der Repräsentation markiert, die ein Subjekt von sich ausbilden kann. Denn das Bild lässt ein Anderes aufscheinen, das die Selbstbespiegelung des Subjekts durchkreuzt. Wenn man produktionsästhetisch nach der Entstehung eines Kunstwerks fragt, bezieht Lacan folglich eine herausfordernde Zwischenposition. Sein Begriff des gespaltenen Subjekts durchkreuzt nicht nur die romantisch-idealistische Kreativitätsemphase, die das Kunstwerk im Künstler entspringen sieht, sondern ebenfalls jene Radikalisierung poststrukturalistischer Theorie, die das Künstlersubjekt als bloßen Effekt von Medien und Diskursen entlarven möchte.
Auch wenn Cézanne in Lacans Argumentation eine Schlüsselrolle spielt, fällt er aus dem Rahmen der übrigen im Seminar XI behandelten Kunstwerke gleichwohl heraus. An den anderen Beispielen zeigt Lacan, wie der ‚Blick‘ – definiert als Platzhalter des ‚Objekts a‘ im Feld des Sichtbaren – sich im Bild als eine Art ‚Fleck‘ abzeichnet. Vor allem die Diskussion von Holbeins Gesandten, aber auch der Ikonen, die im Zusammenhang einer kurzen Geschichte des ‚Blicks‘ in der Malerei erwähnt werden, befördern dabei die Auffassung, der Blick lasse sich mit einem inkarnierten und anthropomorphen Blick gleichsetzen – beispielsweise eben mit dem göttlichen Auge der Ikonen oder dem anamorphotisch verzerrten Totenschädel im Vordergrund der Gesandten. Bei Holbeins Gemälde erkennt Lacan die Pointe zudem in der Brechung der zentralperspektivischen Ordnung durch den sozusagen aus einem anderen Raum ins Bild hängenden Totenschädel. Der ‚Blick‘ manifestiert sich als Durchbrechung der zentralperspektivischen Illusion, die das Bild nicht nur transparent erscheinen lässt, sondern dem Betrachter gleichzeitig eine ideale Übersicht gewährt, in der nichts verstellt oder ungeordnet erscheint. Aus dieser privilegierten Stellung, die im Falle der Gesandten durch die Blickbeziehung zwischen Betrachter und Porträtierten noch gestützt wird, schleudert ihn der phallisch verzerrte Totenschädel buchstäblich heraus. Folgte man ausschließlich der Spur dieses Beispiels und suchte nach weiteren Gemälden, die einen inkarnierten Blick zeigen oder aber krypto- oder anamorphotische Kippeffekte aufweisen, schränkte man die Reichweite von Lacans Argument unnötig ein. Überdies müssten Cézannes Bilder aus dem Kreis der diskutierbaren Kunstwerke herausfallen, da sie weder am Illusionismus der klassischen Malerei teilhaben, noch nach zentralperspektivischen Gesetzen organisiert sind. Obschon Lacans prominente Analyse der Gesandten also verfänglich ist, arbeitet er in anderen Passagen den möglichen Missverständnissen entgegen. Selbst wenn nämlich, so bemerkt er an anderer Stelle, auf einem Bild weder ein Augenpaar noch eine menschliche Gestalt zu finden sei, werde man gleichwohl filigranhaft etwas sehen, was einem das Gefühl der Gegenwart eines Blicks vermittle. Gerade hinsichtlich Cézannes ist zudem ein ebenso bedrohlich wirkender wie etwas kryptisch bleibender Hinweis auf die veränderte Kunstsituation in der Moderne bedeutsam. Lacan war sich durchaus bewusst, dass die Tendenz zur Abstraktion und zur Flächigkeit dem Versuch, das ‚Blickhafte‘ der Malerei in den dargestellten Gegenständen oder in der Brechung der perspektivischen Ordnung zu erkennen, zunehmend den Boden entzieht. In der Moderne beziehe sich der Blick, so Lacan, nicht länger auf ein Element im Bild, sondern auf das Bild als Ganzes. In ihm werde vorherrschend, was André Malraux das ‚Ungetüm ohnegleichen‘ genannt habe: der Blick des Malers, „der sich als einer aufzwingen möchte, der, er alleine, Blick ist“. Folgen wir diesem Hinweis, dann reintegriert sich Cézannes ‚tröpfelnde Farbe‘ vielleicht doch wieder ins Feld von Lacans Bilddiskussion. Denn während die Pointe von Holbeins Gesandten im singulären anamorphotischen ‚Fleck‘ liegt, besteht die Pointe von Cézannes Malerei gerade darin, insgesamt aus lauter Flecken zu bestehen. (Abb. 1 u. 2) Diese Flecken aber sind das Ergebnis einer Malerei, die sich ausdrücklich vorgenommen hatte, sich allein auf das eigene Sehen zu gründen, um es ins Kunstwerk einzutragen und an den Betrachter weiterzugeben.

punkt Kapitel I: Zwei Formen des Relationalen
Andy Warhol - Pfeil Kapitel II: ‚Blick‘ und ‚Fleck‘
Kapitel III: ‚Fleck‘ und Farbe
Kapitel IV: Die Geste des Malens
Kapitel V: Die Funktion des Gemäldes
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Edouard Manet Die Erschießung Kaiser Maximilians Die Eisenbahn

‚Sehen‘ contra ‚Erkennen‘ als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.185 KB)

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‚Sehen‘ contra ‚Erkennen‘. Die Erschießung Kaiser Maximilians und Die Eisenbahn von Edouard Manet

in: Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, hrsg. von Gert Mattenklott (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderband), Hamburg 2004, S. 83-101.
Die beiden Gemälde, die in diesem Beitrag betrachtet werden, Die Erschießung Kaiser Maximilians und Die Eisenbahn von Edouard Manet (1868/69 und 1872/73, Abb. 1 und 2, S. 98 und 99), erscheinen unmittelbar einschlägig für das, worauf dieser Band und die ihm zugrundeliegende Tagung ziel(t)en: die Differenzierung und Relationierung unterschiedlicher Erfahrungsformen. Einschlägig ist das erste der beiden Gemälde bereits durch die Zugehörigkeit zur Gattung der Historienmalerei, die jeweils darauf angewiesen ist, daß sich die ästhetische Erfahrung des Bildes mit der Vermittlung von Wissen, Erinnerung oder Ideen verbindet. Die Repräsentationsfunktion der Historienmalerei verklammert ästhetische Erfahrung und Wissensproduktion: Sie zielt auf eine besondere Wahrnehmung des Gegenstandes, der zugleich ‚erkannt‘ und in einer bestimmten Weise ‚gesehen‘ werden soll. Dieser grundsätzliche, bildsystematische Aspekt wird im Falle Manets durch eine bildgeschichtliche Dimension ergänzt. In der langen Geschichte der Historienmalerei markiert das Gemälde die Schwelle, an der das soeben skizzierte Repräsentationsmodell in eine Krise gerät – eine Krise, von der sich die Gattung nicht erholen sollte. Das Ästhetische und das Epistemische streben hier in einer so dramatischen Weise voneinander weg, daß der Bildsinn ins Offene geführt wird.
Die schwankende Rezeption des Bildes bestätigt dies. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts galt es als Beleg für die Auffassung, Manet gehe es in erster Linie um reine Malerei: Wer ein so dramatisches Geschehen wie eine Erschießung mit solcher Teilnahmslosigkeit male, führe beispielhaft vor, wie ein Inhalt zugunsten der Form geopfert werden könne. Manet positioniere sich damit, so schien es, als entschiedener Verfechter malerischer Autonomie, der sich nicht nur von der traditionellen Aufgabe der Historienmalerei entbinde, der Sache des Staates zu dienen, sondern mit seiner Indifferenz sogar die Verpflichtung zurückweise, in seinem Bild überhaupt etwas auszusagen. Georges Bataille formulierte diese Auffassung am radikalsten, als er die Spezifik von Manets Gemälden darin sah, jeden literarischen Sinn und jede Referenz auf tradierte Normen und Konventionen zum Schweigen zu bringen: „Der Text“, schrieb Bataille, „wird durch das Bild ausgelöscht. Und was das Bild bedeutet, ist nicht der Text, sondern dessen Auslöschung.
In den letzten Jahrzehnten hingegen kehrte sich die Einschätzung des Bildes um. Vor allem in der angelsächsischen Sozialgeschichte der Kunst wurde es zum genau gegenteiligen Beweisstück. Ein Maler, der sich jenem damals bedeutsamen Ereignis zuwende, könne kein nur auf Leinwand, Pinsel und Farbe konzentrierter Künstler sein, so wie es für seine impressionistischen Kollegen zu gelten scheint. Manet zeige sich vielmehr als politisiertes Subjekt, als ‚peintre engagé‘. Die zur Schau gestellte Indifferenz habe nicht die Absicht, malerische Autonomie herauszustellen, sondern sei eine sorgfältig kalkulierte kritische Strategie. Damit aber stimmen die beiden gegensätzlichen Bewertungen in einem entscheidenden Punkt überein, den sie lediglich unterschiedlich bewerten. Offensichtlich klafft in Manets Bild genau das auseinander, was im klassischen Repräsentationsmodell ineinander aufgeht, nämlich was im Bild ‚erkannt‘ wird und was das Bild zu ’sehen‘ gibt. Dieser Diskrepanz soll im folgenden nachgegangen werden, und zwar durch eine Analyse dessen, was man die kommunikativen Strukturen des Bildes nennen könnte.
Vorab sei jedoch den Fakten und dem Wissen Tribut gezollt und der historische Hintergrund von Manets Gemälde kurz rekapituliert. Erzherzog Maximilian von Österreich, nach dem Urteil der Zeitgenossen ein treuherziger, wohlmeinender Mann von romantischer Gefühlslage, wurde in den 1860er Jahren zum Spielball französischer Machtpolitik, zur Hauptfigur eines von Anbeginn an zum Scheitern verurteilten imperialen Zwischenspiels an einem dafür ungeeigneten Ort. Der jüngere Bruder des österreichischen Kaisers und ehemalige Generalgouverneur der Lombardei lebte nach der Einigung Italiens ohne offizielle Stellung zurückgezogen in einem verspielten Schlößchen bei Triest, von wo ihn Napoleon III., Kaiser der Franzosen, mit dem Versprechen weglockte, ihn im fernen Mexiko zum Kaiser krönen zu lassen, geschützt von einer starken französisch-österreichisch-mexikanischen Allianz. Als die französischen Truppen, die unter dem Vorwand der Schuldeneintreibung in Mexiko einfielen, den Widerstand des mexikanischen Präsidenten, Benito Juares, und seiner Armee nicht brechen konnten und überdies Frankreich von den Vereinigten Staaten immer dringender aufgefordert wurde, seine Soldaten aus dem von den USA selbst als Einflußsphäre betrachteten Mexiko abzuziehen, erkannte Napoleon die Aussichtlosigkeit seiner kolonialen Intervention, holte die Truppen nach Frankreich heim und ließ Maximilian schutzlos zurück. Dieser wurde kurz darauf gefangengesetzt und wenige Tage später, am 17. Juni 1867, erschossen. Napoleons grandioses, für Maximilian fatales außenpolitisches Debakel läutete den Niedergang des Zweiten Kaiserreichs ein, das vier Jahre später mit der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg besiegelt sein sollte.
Kurz nach dem Bekanntwerden dieser fernen Ereignisse beginnt Manet eine fast zwei Jahre dauernde Arbeit an dem Thema. Fünf Fassungen entstehen, von denen hier allein die letzte und endgültige betrachtet werden soll. Schon im ersten Entwurf legt sich Manet auf ein Darstellungsschema fest, das er nicht mehr verändern wird. Es orientiert sich an Goyas Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid (Abb. 3, S.100), einem Bild, das er bei seinem Prado-Besuch 1865 gesehen haben könnte, mit Sicherheit aber aus Reproduktionen kannte. Manet übernimmt Goyas zweipoligen, in eine Täter- und Opfer-Seite geteilten Bildaufbau. Ebenso behält er die Positionierung der Protagonisten bei, die jeweils in Dreiviertelansicht von hinten oder von vorne gesehen sind. Gleichzeitig verändert er Goyas Darstellungsschema in bedeutsamer Weise. So reduziert er die Gruppe der Opfer auf drei Figuren, Kaiser Maximilian und die beiden mit ihm erschossenen Generäle Mejía und Miramón. Des weiteren modifiziert er Goyas aufgefächerte Zeitstruktur, die das Geschehen in ein Vorher, Jetzt und Nachher differenziert. Bei Goya erwarten die einen die Schüsse noch, während andere bereits erschossen am Boden liegen; Manet hingegen versammelt alles im zugespitzten Jetzt der Schußabgabe selbst. Mit dem Unteroffizier am rechten Bildrand führt er überdies eine dritte Partei ein, die zwar der Seite der Soldaten zuzuordnen ist, von der Handlung aber gleichwohl abgesondert bleibt. Schließlich wird auch die Bühne des Geschehens neu gefaßt. Hinter den Figuren zieht Manet eine bildebenen-parallel verlaufende Mauer hoch, und am rechten Bildrand wird die Mauer einfach abgeschnitten, ohne jeden Hinweis darauf, wie der Raum jenseits des gezeigten Ausschnitts wohl beschaffen sein dürfte. Auch die oberen und unteren Bildränder bleiben auffällig unartikuliert. Während am unteren Bildrand der Boden unter den Füßen des Betrachters ohne Zäsur weiterzulaufen scheint, wäre da nicht die Bildgrenze selbst, öffnet sich über der Mauer ein Ausblick auf einen Hügel, der jedoch abrupt abgeschnitten wird. Die Perspektive des Landschaftshintergrundes wirkt dabei eigentümlich aufgeklappt. Sie erweckt den Anschein, als begänne hinter der Mauer eine andere Welt – oder aber ein anderes Bild, denn es könnte sich ebensogut um eine gemalte Kulisse handeln. Die räumliche Unbestimmtheit überträgt sich auf die Protagonisten des Bildes, die seltsam ortlos wirken. Wie sie in diesen eigentümlich inkonsistenten Raum gelangt sind, bleibt ebenso offen wie das Wohin ihres Abgangs, wenn sie ihre Arbeit verrichtet haben werden.
Während Goya kompakte, klar voneinander getrennte Gruppen formt, zieht Manet insbesondere die Gruppe der Soldaten auseinander. Ein lockerer Figurenfries entsteht, an dem besonders hervorzuheben ist, daß er auch Maximilian und die beiden Generäle einbezieht. Goyas antagonistische Gegenüberstellung von Schießenden und Opfern wird dadurch aufgeweicht. Das Ornamentale und Rhythmische dieses Figurenfrieses verstärken auffällige Farb- und Formwiederholungen. Sie zeigen sich nicht nur innerhalb der Gruppe der Soldaten, deren Képis, Ohren, Gürtel, Säbel, Gamaschen und Schuhe eine iterative Struktur ausbilden, sondern umgreifen darüber hinaus auch die drei zu Exekutierenden. Dies geschieht durch die Annäherung der Kleidungsfarbe und das sich jeweils stark abhebende Weiß, vor allem aber aufgrund des Gleichklangs von geschwungenen Linien, die sowohl bei den Gürteln der Soldaten als auch bei der Konturlinie der Hemden der beiden Generäle zu beobachten ist. Hierbei ist signifikant, daß Manet – wie an den Malschichten ablesbar wird – zuallerletzt den weißen durchhängenden Lederriemen am vordersten Gewehr einfügte, der eine visuelle Brücke zwischen den Gruppen der Opfer und der Täter schlagt. Auch ein Goldton springt von Figur zu Figur, läuft als Streifen an Mejías Hose entlang, springt zur Krempe von Maximilians Sombrero und von da zu den Säbeln der Soldaten. Das Weiß und das Gold wandern durch das Bild, einem ‚flottierenden Signifikanten‘ gleich, der keinen fixierten Platz und keine fixierte Bedeutung besitzt, sondern dessen Bedeutung in der Zirkulation selbst zu liegen scheint. Auf diese Weise entsteht ein visueller Rhythmus, der das Bild in seiner ganzen Breite durchläuft – bei Mejías Arm am linken Bildrand beginnt, über die einzelnen Figuren hinwegläuft und rechts im Gewehr des Unteroffiziers ausklingt. Am rechten Bildrand angekommen, leitet das Gewehr, das den Bildrand weniger überschneidet als vielmehr zu berühren scheint, zum oberen Mauerabschluß über, wo die Bewegung über die Gruppe der Zuschauer hinweg bis zum leuchtenden urnenförmigen Grabmonument in der linken oberen Bildecke zurückläuft. Dieses rhythmisierte Zirkulieren läuft sowohl der zeitlichen Zuspitzung der Handlung als auch der Schußrichtung entgegen. Es entsteht eine Art laterale Drift, in der die heterogenen Elemente des Bildes zueinander in eine oszillierende Interaktion treten und die zugleich zur Folge hat, den Blick des Betrachters zu dezentrieren und über das Bildfeld hinweg zu zerstreuen.
Es dürfte bereits deutlich werden, worauf eine solche Beschreibung von Manets Historiengemälde zielt: auf die eigentümliche Untiefe des Bildes sowie auf etwas, was man als Nicht-Sehen bei voller Sichtbarkeit bezeichnen könnte. Denn obschon der Betrachter unmittelbar, ohne jegliche räumliche Zäsur, vor dem Erschießungsgeschehen steht, scheint er dennoch gewissermaßen nichts zu sehen und nichts zu hören. Bataille brachte dies in dem bereits genannten Essay auf den Punkt, als er schrieb, man könne sich des Eindrucks der Schläfrigkeit, der von dem Bild ausgehe, nicht entziehen: Das Bild erinnere an die „Betäubung eines Zahns.“
Um diesem widersprüchlichen Effekt von Manets Darstellungsweise näherzukommen, sei eine Unterscheidung herangezogen, die Umberto Eco hinsichtlich der aristotelischen Konzeption des Dramas trifft. Nach Eco enthält jede Dramenhandlung zwei unterschiedliche Ebenen, die er als ‚Handlung‘ und ‚Aktion‘ bezeichnet. Die ‚Handlung‘ stellt die äußere Organisation der Fakten dar und dient zugleich dazu, eine wesentlichere Schicht des Dramas, die ‚Aktion‘, sichtbar zu machen. Deren Differenz erläutert er am Beispiel von Ödipus: Der nach den Ursachen der Pest forschende, sich als Vatermörder und Ehegatte der Mutter entdeckende und sich daraufhin blendende Ödipus – das ist die ‚Handlung‘ des Mythos. Die tragische ‚Aktion‘ hingegen spielt sich auf einer tiefer liegenden Ebene ab, nämlich derjenigen des komplexen Zusammenwirkens von Schicksal und Schuld. Während die ‚Handlung‘ völlig eindeutig ist, steht die ‚Aktion‘ vielen und unabschließbaren Deutungsmöglichkeiten offen. Die Kunst des Dramas lebt, so Eco, von ebendieser Spannung, die sich zwischen der verständlich angelegten äußeren ‚Handlung‘ und der Komplexität der darin aufscheinenden ‚Aktion‘ herstellt.
Diese Unterscheidung kann unmittelbar auf die Historienmalerei übertragen werden. Goyas 3. Mai 1808 inszeniert eine leicht verständliche Handlung zwischen gegeneinander agierenden Protagonisten. Doch zweifellos geht es Goya um mehr. Um dies herauszustellen, bietet er eine Reihe von Mitteln auf. Das Bild ist nicht nur zweigeteilt, sondern differenziert deutlich zwischen einer ‚guten‘ und einer ‚bösen‘ Seite. Da sind auf der einen Seite die Opfer, die wehrlos um Gnade flehen. Die Hauptfigur, vom Licht hell beleuchtet, trägt Wundmale und erinnert mit ihren hochgestreckten Armen an den gekreuzigten Christus. Ihnen stehen dunkle, gesichtslose und in anonymsierender Reihung aufgestellte Soldaten gegenüber, deren Aggressivität ihrer Körperhaltung überdeutlich eingeschrieben wird. Goya verwendet eine chiffrenhaft zugespitzte Darstellungsweise, für die er sich an der tagespolitischen propagandistischen Graphik orientiert. Diese wertende Gegenüberstellung beabsichtigt, im Betrachter eine bestimmte Einstellung zum gemalten Geschehen zu erwirken. Es zeigt den Konflikt nicht nur, sondern hält zugleich die Lösung bereit, wie dieser zu bewerten sei. In Ecos Begriffen gesprochen: Es zeigt die ‚Handlung‘ in so eindeutiger, beinahe plakativer Weise, daß über die zugrundeliegende, die Protagonisten motivierende ‚Aktion‘ nicht gerätselt werden muß.
Ecos narrationslogische Unterscheidung erlaubt es zugleich, die Funktion eines für die Historienmalerei signifikanten Merkmals zu erkennen. Ein Historienbild bietet dem Betrachter einen sozusagen ‚idealen‘ Blick auf das dargestellte Geschehen. Die Idealität dieses Blicks drückt sich darin aus, daß sich der Betrachter an jener Stelle, die ihm das Bild zuweist, geschehenslogisch niemals hätte aufhalten können. Die privilegierte Situierung gegenüber dem Ereignis ist unter anderem deshalb möglich, weil er in dieses nicht einbezogen ist: Er sieht, ohne selbst gesehen zu werden. Der ideale Betrachterstandpunkt korreliert der idealen Intention des Historienbildes, das sich nicht im Vorzeigen einer Handlung erschöpft, deren Augenzeugen wir werden sollen, sondern vielmehr jene sinnbildliche Dimension aufscheinen lassen will, die Eco mit dem Begriff der ‚Aktion‘ belegt. Die maximale Sichtbarkeit der ‚Handlung‘ bleibt niemals Selbstzweck, sondern bildet die Voraussetzung dafür, daß die Reflexion über die ‚Aktion‘ überhaupt in Gang kommt.
Daß Manet diese Konvention aufgreift und zugleich innerbildlich reflektiert, verdeutlicht besonders ein Bildelement: die Zeugen des Erschießungsgeschehens, die über die Mauer schauen. Manet spielt hier mit dem Kontrast zwischen der Mauer, auf welche die Augenzeugen klettern müssen, um sehen zu können, und der Bildfläche, durch welche der Betrachter auf das Geschehen blicken kann, die ihn aber zugleich vor den Protagonisten des Geschehens zu verbergen scheint. Die Augenzeugen im Bild spiegeln die Position des Betrachters vor dem Bild also gerade nicht, sondern verdeutlichen ihm e contrario die Eigenart seiner unsichtbaren Gegenwart am Geschehensort.
Mit der Konstruktion dieser idealen Betrachtersituierung fordert Manet diesen ebenso auf, sich zum dargestellten Geschehen in ein reflektierendes, bewertendes Verhältnis zu setzen, wie es auch für Goya und sein Gemälde gilt. Doch gerade dies will nun bei der Erschießung Kaiser Maximilians nicht gelingen. Einige der Gründe dafür wurden bereits genannt: die den Blick zerstreuende, ornamentalisierende Bildstruktur sowie die irritierende Untiefe der Darstellung, die den kulissenhaften Landschaftsausblick genauso betrifft wie die einzelnen Figuren, die, wenn es die Rundungen ihrer weißen Ledergürtel nicht gäbe, so flach und unkörperlich wären, wie es ihre gleichsam versiegenden Schatten anzeigen.
Ebenso bedeutsam dafür ist jedoch die Unbestimmtheit der Akteure. So haben die Protagonisten entweder kein Gesicht, oder aber ihr Gesichtsausdruck bleibt leer. Dabei unterscheidet sich die Gesichtslosigkeit der Soldaten von derjenigen bei Goya beträchtlich. Deren verlorene Profile sind im Sinne Wolfgang Isers ‚Leerstellen‘, die aufgrund der Rezeptionsvorgaben des Bildes als Fremdheit, Kälte, Bösartigkeit oder Gewissenlosigkeit gefüllt werden können. Bei Manet indes können die Leerstellen nicht gefüllt werden, sondern bleiben semantische Lücken. Darüber hinaus scheint hier sogar ein Prozeß der Defiguration einzusetzen. Vor allem das enge Zusammenschieben der Untergruppe von Soldaten am rechten Rand des Erschießungspelotons führt hier zu einer völligen Entstellung (Abb. 4, S. 101). Es bleibt nicht nur unklar, wie das schmutzige Braun, das die Gesichter stellenweise bedeckt, zu deuten wäre, sondern das Gesichtsfleisch wird derart unförmig, daß beispielsweise beim hintersten Soldaten unentscheidbar wird, ob die helle Partie, die sich ungefähr dort befindet, wo sein Kinn zu vermuten wäre, zu ihm gehört oder nicht eher als einzig sichtbarer Fleck eines ansonsten kaum zu erahnenden weiteren Soldaten angesehen werden muß. Wendeten sich diese Figuren zum Betrachter hin um, dann zeigten sie keine Fratze wie bei Goya, sondern nichts, kein Gesicht. Die abgewandten Soldaten evozieren ein Gefühl der Leere, das in eine beklemmende Fülle umschlägt, und weisen eine Reglosigkeit auf, die in die phantasmatische Gegenwart von Quasi-Subjekten umschlägt.
Entleert erscheint auch der Gesichtsausdruck Kaiser Maximilians, der Hauptfigur des Geschehens (Abb. 5, S.101). Manet stand hier vor dem Problem, wie das Gesicht eines Menschen darzustellen sei, der dem Tod ins Auge blickt – wobei er diesen Augenblick durch die Darstellung der Schußabgabe noch zuspitzte. Doch anstelle starker Erregung wird Maximilians Gesicht zur flachen Scheibe, die Konturen des Bartes und der Nase lösen sich auf, die Augen verwandeln sich in bloße schwarze Tupfer. Manet löscht das Gesicht aus, doch so, daß das Ausgelöschte am Ort der Auslöschung negativ präsent bleibt. Maximilians Physiognomie wird zum hellen Fleck, in dem ‚face‘ und ‚effacement‘, Gesicht und Auswischung, ineinander aufgehen.
Die vielleicht überraschendste Figur in Manets Gemälde – und zugleich diejenige, die in Goyas Gemälde keinen Vorläufer hat – dürfte jedoch der Unteroffizier am rechten Bildrand sein (Abb. 6, S. 101). Zumeist wird sein Manipulieren als Vorbereitung des Gnadenschusses gedeutet, doch bei näherer Betrachtung wird sein Tun durchaus unklar. Der Unteroffizier achtet kaum auf das Spannen des Abzugs, sondern blickt darüber hinweg ins Unbestimmte. Aber noch dies ist vielleicht zu positiv formuliert, denn er erscheint in einer Weise geistesabwesend, die ihn weder bei sich noch bei etwas außerhalb seiner, ja noch nicht einmal ganz ‚da‘ sein läßt, so daß er selbst das Erschießungsgeschehen, das sich unmittelbar neben ihm ereignet, offensichtlich nicht wahrnimmt. Gleichzeitig steht die Figur in einem privilegierten Bezug zum Betrachter. Die prominente Plazierung, die Sichtbarkeit seines Gesichts und die Außenposition, die er dem Geschehen gegenüber einnimmt, lassen ihn zu einem Gelenk zwischen Bild und Betrachter werden. Seine Stellung erinnert an diejenige einer innerbildlichen Reflexionsfigur, deren Funktion Michael Fried in einer exemplarischen Studie analysierte. Als Beispiel dient Fried eine Radierung nach einem ehemals van Dyck zugeschriebenen Gemälde (Abb. 7, S. 100). Es zeigt Belisarius, einen ehemaligen General in Justinians Armee, dem drei Frauen Almosen geben. Nach Fried ist die heimliche Hauptfigur des Bildes jedoch der Soldat, der dem Betrachter räumlich am nächsten steht und Belisarius versunken betrachtet. Offensichtlich sinnt er über dessen Schicksal nach, das den ehemals ruhmvollen General in Armut und Blindheit brachte. In der Deutung dieser Figur geht Fried von einem Brief Diderots aus, in dem sich dieser bewundernd über das Bild äußert. Es sei die Figur des Soldaten, so Diderot, die den Betrachter alle übrigen Figuren vergessen lasse. Er wiederhole innerhalb des Bildes die Position des Betrachters und werde damit zu dessen innerbildlicher Identifikationsfigur: Man blicke auf Belisarius gewissermaßen mit den Augen des Soldaten. Er lasse das Bild moralisch werden, da er dem Betrachter verdeutliche, daß es um die Kontemplierung von Belisarius‘ Schicksal gehe. Formuliert man Diderots Gedanken in Ecos Begriffen, vollzieht sich in dieser Figur der Übergang vom Nachvollzug der ‚Handlung‘ zur Reflexion über die tiefer liegende ‚Aktion‘. Manets Unteroffizier spielt auf diese innerbildliche Reflexionsfigur an, verkehrt sie jedoch in ihr Gegenteil, da der Unteroffizier das Geschehen ja gerade nicht wahrnimmt. Gleichwohl stellt sich eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen dem Belisarius-Stich und Manets Erschießungsbild her. Wenn Diderot schreibt, man blicke auf das dargestellte Geschehen gewissermaßen mit den Augen dieser innerbildlichen Reflexionsfigur, scheint nun auch bei Manet die Behauptung nicht abwegig, man blicke auf das Geschehen mit genau jenem aus Raum und Zeit fallenden Blick, der den Unteroffizier auszeichnet.
An diesem Punkt läßt sich die Schwierigkeit, das Bild zu ‚lesen‘ – also ’sehen‘ und ‚erkennen‘ zueinander zu führen -, genauer bestimmen. Dafür sei noch einmal auf Isers Begriff der Leerstelle zurückgegriffen, die sowohl für das Entstehen bildlicher Narration wie für die Involvierung des Betrachters konstitutiv ist. Bei Goya antworten Leerstellen auf Rezeptionsvorgaben, beispielsweise in Gestalt der gesichtlosen Soldaten, deren Gemütsverfassung der Betrachter aufgrund des bildnerischen und narrativen Zusammenhangs imaginär ergänzen kann. Bei Manet indessen treffen nicht Leerstellen und Rezeptionsvorgaben aufeinander, sondern Leerstellen auf Leerstellen. Keine Figur hilft dem Betrachter, die jeweils anderen zu verstehen, weswegen die Leerstellen auch nicht verschwinden, so wie es Isers rezeptionsästhetisches Modell vorsieht. In Maximilians Gesichtsausdruck finden wir keinerlei Hinweis auf die Eigenart der Gesichter, in die er blickt, in der Mimik des Unteroffiziers keinen Kommentar zum daneben sich vollziehenden Geschehen, usw. Der Bilddiskurs wird beständig unterbrochen, ja, durchlöchert. Zugleich verschiebt sich die Stiftung bildnerischen Zusammenhangs auf eine andere Ebene: auf die sub-semantische Ebene der ornamentalen Rhythmik, der formalen und farblichen Iterationsstruktur. Während die Figuren in dieser Weise formal miteinander verkoppelt werden, fällt der szenische Zusammenhang auseinander; und während der historische Sinn erlischt, drängen sich die Dinge in den Vordergrund, leuchtende Gamaschen, schimmernde Säbelgriffe, gerötete Ohren. Damit aber klafft die entscheidende, bildbestimmende Lücke in der Erschießung Kaiser Maximilians zwischen dem, was Eco als ‚Handlung‘, und dem, was er als ‚Aktion‘ definierte, das heißt zwischen dem äußeren und dem inneren Zusammenhang des dargestellten Geschehens. Während die Handlung nicht nur übersichtlich und klar, sondern geradezu zeichenhaft überspitzt dargestellt wird, gewinnt der Betrachter gleichzeitig keinerlei Einblick in das motivierende Innere der Figuren und die tiefere Bedeutung des sich vollziehenden Ereignisses. Die verschiedenen Modifikationen, die Manet zwischen dem ersten Entwurf und der endgültigen Fassung vornimmt, forcieren genau diese Diskrepanz, in dem sie den widersprüchlichen Kurs verfolgen, im selben Zuge die Übersichtlichkeit der ‚Handlung‘ und die Opazität der ‚Aktion‘ zu steigern. Es fallen Schüsse – doch man erfährt nicht, warum, noch was auf sie folgen wird, noch worin ihre Moral besteht. Die Antinomie zwischen Indifferenz und kritischem Engagement, Inhalt und Form, reiner Malerei und politisch brisantem Sujet, die immer wieder als Charakteristikum von Manets Historienbild herausgestrichen wurden, begründen sich darin. Es handelt sich um das Paradox, daß die Bedeutung der Erschießung Maximilians nicht aus dem Dargestellten, sondern aus dem nicht Dargestellten folgt.
Was also erzählt Manets Historienbild, oder anders gewendet: Wie stellt sich Geschichte in ihm dar? Mit dem Rekurs auf Goyas bedeutungsgeladenes Gemälde weckt Manet Erwartungen, um jedoch bei laufendem Spiel die Regeln zu ändern und den Betrachter in eine Situation zu verwickeln, die er nicht kennt. Besonders ein Aspekt erscheint dabei signifikant. Im Vergleich mit Goyas Bild wird deutlich, daß Manets Erschießungsbild die Dialektik der Geschichte aufhebt, die sich im Historienbild jeweils als Opposition zweier Parteien zeigt und die als eine Konstante der Historienmalerei seit der Antike gelten kann. Diese Aufhebung zeigt sich zunächst an den Protagonisten, deren Verhalten zu unscharf bleibt, um wirklich als dialektisch aufeinander bezogen heraustreten zu können, des weiteren an der bildstrukturellen Verkettung der opponierenden Figurengruppen zu einem durchlaufenden Fries und schließlich an der Einführung einer dritten Partei, welche die Dualität von Tätern und Opfern unterläuft. An die Stelle der Dialektik der Geschichte tritt bei Manet die Dialektik von Lesbarkeit und Unlesbarkeit, Transparenz und Opazität. ‚Res gestae‘ und ‚historia rerum gestarum‘, konkretes Ereignis und durch plausible Erzählung gestifteter Sinn, werden im Bild nicht mehr miteinander vermittelt. Entweder schließen wir daraus, die dargestellten Ereignisse seien keinem Referenzrahmen von Werten und Normen und keinem Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen, oder wir gestehen uns ein, daß uns der Referenzrahmen und die Gesetze dessen, was wir sehen, verborgen bleiben. Manets Erschießungsbild führt Geschichte an die Grenze ihrer Nicht-Darstellbarkeit, da sie sich in den gezeigten Figuren nicht ‚verkörpert‘ und in der Handlung nicht sinnfällig wird. Es zeigt ein Geschehen, das auf einen ganzen Katalog von Bedeutungen verweist – auf die Moralität von Gut und Böse oder auf den Konflikt zwischen individuellem Schicksal und überpersönlichen Kräften, um zugleich seinen Aufenthalt dort zu nehmen, wo diese Bedeutungen fehlen. Historische Transzendenz verwandelt sich in ästhetische Immanenz: in ein ‚Kreisen‘ des Sinns, in dem das signifikante Material beständigen Metamorphosen, Iterationen und lateralen Verschiebungen unterliegt, gerade deshalb aber zu keiner fixierbaren Bedeutung gerinnt. Ästhetischer und historischer Sinn, Anschauung und Erkenntnis treten in einer Weise auseinander, daß der Betrachter gezwungen wird, beides fortlaufend gegeneinander zu bestimmen. Die Krise, die sich in Manets Bild zeigt, ist gewiß auch jene des Zweiten Kaiserreichs, dessen Ende sich mit dem mexikanischen Fiasko abzuzeichnen begann. Vor allem aber offenbart Manets Historiengemälde die Krise bildnerischer Semantik. Es zeigt das Unanschaulichwerden von Geschichte, was der Historienmalerei zwangsläufig den Boden entzieht.
Was die paradoxale Bildstruktur und das widersprüchliche Bild-Betrachter-Verhältnis betrifft, stellt Die Erschießung Kaiser Maximilians keinen Sonderfall in Manets Œuvre dar; wir begegnen ihnen immer wieder, und zwar bei ganz unterschiedlichen Darstellungsgegenständen. Ein zweites Bildbeispiel soll dies verdeutlichen. Auf den ersten Blick hat Die Eisenbahn (Abb. 2, S. 99) mit dem Erschießungsbild nichts gemein: hier ein Genrebild der Pariser ‚vie moderne‘, dort die Darstellung eines Ereignisses im fernen, beinahe exotischen Mexiko; hier ein Motiv, mit dem sich Manet auf sein unmittelbares Umfeld bezieht – in der linken oberen Bildecke läßt er die Fassade seines eigenen Ateliers auftreten -, dort ein Sujet, über das er nur durch Zeitungsberichte und spärliches photographisches Material informiert war und für dessen Komposition er auf die Bildformel eines anderen Künstlers zurückgreift. Auf kompositorischer Ebene hingegen zeigen sich überraschende Ähnlichkeiten. Der Mauer des Erschießungsbildes entspricht das Gitter der Eisenbahn, die beide ein schmales Raumsegment über die gesamte Bildbreite hin ausgrenzen und zugleich ein Dahinter sichtbar werden lassen. Bis in die Details der Körperhaltung gleichen die Soldaten der ansonsten ganz anderen Figur des Mädchens, das durch das Gitter blickt. Schließlich kontrastiert Manet in beiden Gemälden die Zugewandtheit der Figur(en) links mit dem abgewandten, ‚verlorenen Profil‘ der Figur(en) auf der rechten Seite. Obschon also die beiden Bilder gattungsmäßig und motivisch erheblich divergieren, werden sie durch eine verwandte Bildstruktur miteinander verklammert. Dieser Befund ließe sich über die beiden hier herausgegriffenen Beispiele hinaus erweitern. Sie erwiesen sich dann als Glieder einer Bilderreihe, in der anhand von sehr unterschiedlichen Sujets immer wieder ähnliche strukturelle Merkmale inszeniert werden. Was mich an dieser Stelle allerdings vorrangig interessiert, ist die Art und Weise, wie auch in der Eisenbahn ‚Sehen‘ und ‚Erkennen‘ auseinanderlaufen, ja, in einen Konflikt zueinander geraten – in einen Konflikt, der das eigentliche Sujet des Bildes zu sein scheint.
Die Eisenbahn zeigt eine Gouvernante mit ihrem Schützling oder, ebenso denkbar, eine Mutter mit ihrer Tochter, die sich in einem flachen Raumabschnitt aufhalten, der einerseits vom Eisengitter, andererseits von der Bildgrenze begrenzt wird. Während der Blick der Frau die Bildgrenze überschreitet, schaut das Mädchen durch die Zwischenräume des Gitters hindurch. Damit werden die Bildfläche und das Gitter, die parallel zueinander verlaufen, in derselben Weise analogisiert, wie es bereits bei der Mauer des Erschießungsbildes zu beobachten war. Beide Figuren stehen in einer spezifischen, allerdings sehr unterschiedlichen Relation zum Betrachter. Die Frau blickt den Betrachter mit jenem bei Manet so häufig anzutreffenden Gesichtsausdruck an, der vor allem signalisiert, daß er bemerkt worden ist. Zugleich hält ihn der Blick auf Distanz, ja stößt ihn sogar, einem Repoussoir gleich, ein wenig zurück. Die Rückenfigur des Mädchens hingegen wiederholt die Position des Betrachters innerhalb des Bildes. Das Mädchen steht an einer innerbildlichen Nahtstelle: an der Grenze zum Raum hinter dem Gitter, den es betrachtet. Auf diese Weise befindet es sich gewissermaßen zugleich im und vor dem Bild: Innerhalb des Bildes sieht es, was der Betrachter als Bild sieht. Durch ihre antagonistische Ausrichtung werden die beiden Figuren zu einer Janusfigur, welche die Beziehung von Bild und Betrachter reflektiert – sie zugleich spiegelt und bricht.
Entscheidend ist nun aber, daß das ‚Bild im Bild‘ jenseits des Gitters ‚blind‘ ist. Statt der Eisenbahn, die der Titel verspricht, sehen wir lediglich eine amorphe Wolke. Das Mädchen – und mit ihm der Betrachter – blicken auf einen weißen Fleck. Entsprechend dazu hat das Mädchen kein Auge: Auch es ist ‚blind‘, so daß die Metapher des ‚verlorenen Profils‘ hier buchstäblich zu werden scheint. Der ‚blinde Fleck‘ durchkreuzt, was man das Sichtbarkeitsversprechen eines Bildes nennen könnte. Im Rahmen der fiktiven Kohärenz des Sichtbaren, die ein Bild üblicherweise herstellt, müßte das Mädchen ’sehen‘ können, oder umgekehrt formuliert, müßte das Bild dem Mädchen – und dem Betrachter – etwas ‚zeigen‘. Auf der einen Seite verknüpft Manet Betrachter- und Bildraum durch die Nähe der Figuren, durch deren lebensgroße Darstellung sowie durch den Blickkontakt zur sitzenden Frau. Auf der anderen Seite aber kappt er die Verbindung zwischen den beiden Räumen, indem er sie durch die weiße Wolke förmlich ausradiert. Inmitten des Bildes, das vom Sehen handelt, nistet sich eine essentielle Unsichtbarkeit ein.
Das Mädchen der Eisenbahn gehört wie die Soldaten der Erschießung Kaiser Maximilians zu den phantasmatischen Figurationen in Manets Œuvre, die auf der Ebene des Dargestellten nicht zu fixieren sind, da in ihnen stets etwas fehlt oder nicht an seinem Platz zu sein scheint. Wo bleibt beispielsweise, so mag man sich fragen, der rechte Arm und die rechte Schulter des Mädchens? Deren Fehlen fällt angesichts des fleischigen, perspektivisch unverkürzt raumgreifenden linken Arms besonders auf. Warum bläht sich der Rock in einer Weise, als bedecke er einen enormen Bauch? Und sind womöglich die zwei äußerst präzise gemalten, sogar jeweils einen Glanzpunkt aufweisenden Kügelchen, die am Ohr des Mädchens baumeln, als ‚Ersatz‘ der fehlenden Augen aufzufassen? In anderer Weise irritierend wirkt die zur Schürze verlängerte Schleife des Mädchens, die als einziges Bildelement ganz in die Frontalität gekehrt ist. Ihre Materialität scheint sich von derjenigen des dunkelblauen Kleides der Frau deutlich zu unterscheiden. Mit ihrem strahlenden, ins Silberne changierenden, geradezu roh aufgetragenen Blau oszilliert sie zwischen einem Stück Stoff und einem Stück Malmaterie. Der Eindruck entsteht, als wäre der Darstellungsprozeß hier an einem Punkt angehalten worden, an dem die Materialität der Farbe noch nicht in die Materialität des darzustellenden Gegenstandes übergegangen ist. Die Faktur – als Materialität von Farbe, Leinwand und Pinselschrift – und die Textur – als Oberflächenstruktur des dargestellten Stoffes – fallen zusammen. So läßt sich die blaue Schürze weder auf die Repräsentation eines Außerbildlichen noch auf die materielle Gegebenheit des Bildes als Bild reduzieren. Vielmehr erweist sie sich als eine Stelle, an der die Erscheinung der außerbildlichen Wirklichkeit und die Materialität des Bildes sich ‚berühren‘. Wir begegnen dem malerischen Paradox einer so ‚konkreten‘ Darstellungsweise, daß Anfang und Ende des Darstellungsprozesses, Figuration und Disfiguration, Zeichen und bedeutungsloser Fleck ineinanderfließen.
Die gewiß seltsamste Stelle im Bild dürfte jedoch ein anderer ‚Berührungspunkt‘ sein: derjenige zwischen dem Mädchen, dem Gitter und der weißen Wolke. Blickt das Mädchen eigentlich zwischen den Stäben hindurch, oder hat es nicht vielmehr die Gitterstange unmittelbar vor seinem Auge? Manet hat diese entscheidende Stelle nachträglich modifiziert. Er veränderte die Position der Gitterstangen, die nun in der Bildmitte kleinere Abstände aufweisen als zu den Seiten hin, außerdem korrigierte er das Profil des Mädchens, das ursprünglich die Gitterstange ganz überdeckte. Damit schuf er die jetzige Konstellation, in der die Stange das unsichtbare Auge abzudecken scheint. Die Wolke, in die das Mädchen blickt, befindet sich nicht im offenen Raum hinter den Gitterstangen, sondern hängt zwischen diesen. Unmittelbar oberhalb des Mädchenkopfes wird dies besonders deutlich: Das Weiß setzt sich nicht hinter den Gitterstäben fort, ja berührt sie nicht einmal, sondern läßt einen schmalen braunen Streifen des Hintergrundes stehen. Offensichtlich hat Manet die Wolke zuletzt ins Bild gemalt, indem er die Intervalle zwischen den Stäben ausfüllte. Das aber heißt, daß Manet weniger etwas gemalt als vielmehr etwas ausgelöscht hat. Hier ist nicht gemalt, was man sieht, noch ist gemalt, was man nicht sieht: Es ist gemalt, daß man nicht sieht.
Obgleich jede Beschreibung des Bildes fast zwangsläufig davon spricht, das Mädchen schaue in eine Wolke hinein, wird ebenso deutlich, daß diese Wolke in erster Linie bloße weiße Farbmaterie ist. Wie aus Manets Bildtitel geschlossen werden kann, steht sie zwar für den Dampf, den ein in den Bahnhof Saint-Lazare – der sich weiter links außerhalb des Bildfeldes befände – einfahrender Zug ausstößt. Doch ähnlich wie bei der Schleife des Mädchens löst sich das Weiß von dieser denotativen Funktion, indem es nicht, oder zumindest unzureichend, auf einen außerbildlichen Referenten verweist. Das Weiß wird zu etwas und nichts zugleich – zu ’no/thing‘. Dieses ‚Nichts‘ läßt Illusion und Illusionsdurchbrechung, Täuschung und Enttäuschung zusammenfallen, da es die Darstellung genau dort auslöscht, wo es um ein Hindurchsehen ginge. Auf diese Weise wird die Wolke zur ‚mise en abîme‘ des Bildes. Sie verdoppelt das Bild, um es im gleichen Zuge wortwörtlich ‚zugrunde‘ gehen zu lassen.
Das Mädchen steht, wie eingangs beschrieben, innerhalb des Bildes für den Betrachter vor dem Bild, so wie auch die Gitterstäbe die Bildgrenze innerbildlich wiederholen. Das ‚Nicht-sehen‘ des Mädchens gilt demnach – zumindest teilweise – auch für den Betrachter. Dem Paradox der Malerei, das Die Eisenbahn entfaltet, geht das Paradox ästhetischer Erfahrung parallel, daß das Bild einen dort ‚anzublicken‘ scheint, wo es am äußerlichsten und materiellsten erscheint: an den Stellen, wo die Repräsentation kollabiert und das Bild zugrunde geht. Indem die weiße Wolke oder auch die blaue Schürze sich als Negatives im Bild selbst manifestieren, verschlagen sie einem die Sprache, verschlagen sie einem das Bild. Gerade in diesen Augenblicken aber ’subjektiviert‘ sich das Bild, sind wir selbst im Bild ‚anwesend‘. Zielt das pragmatisch orientierte Sehen darauf ab, das Sehfeld als plastisch gegliederten Raum zu strukturieren, so wird hier, im Zentrum des Bildes, jegliche Plastizität neutralisiert. Das Sehen wird auf seinen Grund zurückgeführt – auf einen Grund, der ‚formlos‘ und ‚unmenschlich‘ ist.
Vor ein paar Jahren gelang es Juliet Wilson-Bareau, die Hausfassade in der linken oberen Bildecke als Außenseite von Manets neubezogenem Atelier in der Rue de Saint-Pétersbourg zu identifizieren: Dieses Atelier habe hinter dem Fenster, das sich an die äußerste Gitterstange schmiege, gelegen. Das Detail bestätigt der Entdeckerin den Realismus des Bildes. Was es zeige, habe Manet von seinem Standort, den er im Garten des befreundeten Malers Alphonse Hirsch bezog, tatsächlich genau so sehen können. Denn von dort aus seien nicht nur die zum Bahnhof Saint-Lazare führenden Gleise, sondern eben auch die Fassade des neuen Ateliers zu erblicken gewesen. Damit scheint sich der bislang rätselhaft gebliebene Sinn des Bildes zu entschlüsseln. Es feiere, so Wilson-Bareau, das neue Atelier und verweise zugleich auf das eigene malerische Vorgehen, das auch bei einem so offensichtlichen Plein-air-Bild, wie Die Eisenbahn es sei, auf der Atelierarbeit basiere. Manet, der „pariserischste aller Maler“, habe mit dem Gemälde einen Beweis dafür geliefert, wie wichtig ihm der Bezug seiner Malerei zum städtischen Umfeld gewesen sei. Genau wie auch das übrige Œuvre spiegle es das sich verändernde Gewebe der Stadt – in diesem konkreten Falle den Einzug der Eisenbahn in das Weichbild des alten Paris – sowie die verschiedenen sozialen und politischen Kräfte, welche die Stadtgeschichte formten.
Doch wie schon das ‚Nichts‘ der Wolke die Eisenbahn und all das, wofür diese in verkehrstechnologischer, urbanistischer und sozialer Hinsicht steht, gerade nicht zeigt, bezeugt auch das Detail der Atelierfassade weniger den Realismus des Bildes, sondern bestätigt vielmehr dessen selbstreflexiven Charakter, der den Eigensinn der Malerei und ihrer Erfahrung herausstellt. Vergegenwärtigt man sich, daß zwischen dem Gitter und der Fassade ausgedehnte Gleisanlagen liegen, wird offensichtlich, um wieviel zu nahsichtig letztere wiedergegeben ist. Die Weite des Raums wird auf der rechten Bildseite deutlich, an den Details eines Bahnwärterhäuschens und zweier Gleisarbeiter, vor allem aber an der Entfernung der Häuserzeile, welche die Atelierfassade eigentlich fortsetzt. Die Außenseite von Manets Atelier wirkt demgegenüber gleichsam ins Bild eingeblendet – neben der Wolke erscheint sie als ein weiteres ‚Bild im Bild‘. Wenn wir uns den Malprozeß vergegenwärtigen, dann kehrt hier zudem die antagonistische, die Wendungen nach innen und nach außen verklammernde Bildstruktur auf anderer Ebene wieder. Manet malt die Außensicht des Raumes, in dem das Bild entsteht. Er malt den Ausblick zum Fenster hin, hinter dem er sich während des Malens befindet – und von wo aus umgekehrt der Ort zu sehen wäre, an dem das Mädchen steht und hinüberschaut. So befindet sich der Maler zugleich ‚da‘ und ‚dort‘, drinnen und draußen, vor dem Bild und zugleich hinter dem Fenster, das im Bild erscheint. Die Blindheit von Manets Atelierfenster erscheint dabei wie ein letzter Hinweis darauf, daß Malen für Manet keineswegs bedeutet, einen geeigneten Standpunkt zu beziehen, um dann zu malen, was man sieht, so wie es die realistischen Lesarten des Bildes suggerieren, die das Bild als Fortsetzung des soziopolitischen oder literarischen Pariser Großstadtdiskurses mit anderen Mitteln begreifen.
In Manets Gemälden konfligieren ‚Sehen‘ und ‚Erkennen‘ durch die Unbestimmtheit der Relationen innerhalb des Bildes wie auch zwischen Bild und Betrachter. Die zentral gesetzten Leerstellen wirken als ‚Nullpunkte der Malerei‘, welche die Malerei qua Diskurs, Logos oder Erkenntnis auslöschen, im selben Zuge aber qua Erfahrung des Außersemiotischen, des Unaussprechlichen und des faszinierten Blicks in ihrer Potentialität herausstellen. Manets Malerei prägt eine Dialektik von Versprechen und Versagung. Die Eisenbahn läßt das Sehen erblinden, und dies anhand des Motivs eines Ausblicks und eines Mädchens, das sich in diesen Ausblick vertieft. Die Provokation der Erschießung Maximilians wiederum liegt darin, die Erwartung eines geschlossenen Bildsinns ausgerechnet mit einem Historienbild, dem Musterfall eines sinnfälligen Figuren- und Ereigniszusammenhangs, zu unterlaufen. Der in den Gemälden eröffnete Widerstreit zwischen Ästhetischem und Epistemischem bezeugt, daß Manet zu den entschiedenen Verfechtern malerischer Autonomie gehört. Mit vielen anderen Malern seiner Zeit teilt er das Anliegen, alles im weitesten Sinne ‚Literarische‘ aus der Malerei auszustoßen. Diese soll auf keinen Text rückführbar sein, ja noch nicht einmal auf einen heteronomen ‚Diskurs‘, der von außen bestimmen könnte, wonach sich ihre Herstellung und ihre Betrachtung zu richten haben. Daraus erklärt sich die zunehmende Tendenz zur ‚Offenheit‘ und zum ‚Unvollendeten‘, das sich in der Malerei dieser Zeit zu manifestieren beginnt. Denn beides unterläuft die Möglichkeit, dem Bild eine bestimmte Aussage entnehmen zu können, und fordert den Betrachter auf, die dem Werk inhärente Polysemie zu erforschen, ohne sie je ausschöpfen zu können. In diesem größeren Feld aber besteht Manets Eigenart darin, ebenjenen heteronomen ‚Diskurs‘ nicht einfach von vornherein auszugrenzen, so wie es jene Impressionisten praktizieren, die den Gang in die Natur als Gegenentwurf zur städtischen Zivilisation begreifen. Vielmehr ruft er ihn im Bild ausdrücklich auf, um ihn vor unseren Augen abbrechen zu lassen.

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Edouard Manet. Bild und Blick in Manets Malerei

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Bild und Blick in Manets Malerei

Berlin: Gebr. Mann Verlag, 2003.

Inhalt:

Dank

Einleitung: Bild und Blick im Zeichen künstlerischer Autonomie

I. Manets Umbau der klassischen Bildordnung

1. Raffael, Manet und die Partnerschaft zwischen Betrachter und Bild
2. Die Dialektik von ‚für sich‘ und ‚für uns‘ des Bildes
3. Kohärenz oder Inkohärenz?
4. Die Umkehrung des klassischen Bildraums
5. Diesseits von Albertis ‚Fenster‘

II. Der ent/gleitende Augenblick: Dans la serre

1. Die Struktur der Ellipse
2. Der Blick und die Frage der Entfremdung von Manets Figuren
3. Oszillationen
Exkurs: Michael Fried über „Manets Modernismus“

III. Unter dem Blick der Faszination: Le chemin de fer

1. Ausblick und Blindheit
2. Die Textur des Sichtbaren und die Faktur der Malerei
3. Faszination (Blanchot)
4. Realismus?
Exkurs: Manet und der Impressionismus

IV. Vom Mehrwert der Beschränkung: Olympia

1. Alexandre Cabanels Naissance de Vénus
2. Geschlechterdiskurs
3. Tizians Venere d’Urbino und Manets Olympia
4. Die ‚Polyperspektivität‘ des Bildes
5. Drei Querbezüge: Cézanne, Picasso, Flaubert
6. Die bildgeschichtliche Stellung der Olympia

V. Ein doppeltes ‚Ausführen‘: L’exécution de Maximilien

1. Bemerkungen zum Forschungsstand
2. Delaroche (Akademische Historienmalerei, Teil A)
3. Gérôme (Akademische Historienmalerei, Teil B)
4. Die Bostoner Exécution und der Rückgriff auf Goya
5. Die Mannheimer Exécution und die Rückkehr zu einer idealen Betrachterposition
6. Ein Bild im Zustand seiner Betäubung
7. Die Gegenwart des Malers im Bild
8. Die ‚Erzählung‘ der Exécution

VI. Der Spiegel des Subjekts: Un bar aux Folies-Bergère

1. Clarks Deutung der inkorrekten Spiegelung
2. Was die Barfrau sieht
3. Wo der Betrachter steht
4. Montage

Koda: Manet und Velázquez

1. Ein lebenslanger Dialog
2. Las meninas und die Idee der Repräsentation
3. Ein zweifaches Ende als Beginn

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Register

Edouard Manet Baudelaire Benjamin Salon Subjektivität

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Bild und Blick in Manets Malerei

Berlin: Gebr. Mann Verlag 2003.

Einleitung, Abschnitt V

Im ‚Blickwechsel‘ zwischen Bild und Betrachter verweben sich indessen Intimität und Anonymität. Die dem Betrachter zugekehrten Gesichter bleiben inselhaft, die Blicke scheinen gleichermaßen aus dem Nichts zu kommen und ins Nichts zu gehen. Wer ist ihr Adressat? Alle und niemand zugleich. Es sei die „Menge“, so Walter Benjamin in seinem Aufsatz über Charles Baudelaire, die im 19. Jahrhundert zum Gegenstand und Publikum der Kunst werde. Doch die Menge, so heißt es dort weiter, sei eine ambivalente Textur. Ihre Erfahrung werde immer wieder durch unvermittelte, schockartige Begegnungen ‚punktiert‘, deren Protagonisten sich aber fremd blieben und auch gleich wieder verlören. Baudelaire hat diesen Zusammenprall von Intimität und Anonymität, Getroffensein und Entzug im berühmten Gedicht an eine „Passantin“ beschrieben: „Ein Blitz … und dann die Nacht!“
Der offizielle Salon, in dem Manet trotz häufiger Zurückweisung durch die Jury auszustellen beharrte, bildete mit dem auch noch in den 1860er und 1870er Jahren massiven Publikumsandrang und der nach wie vor großen sozialen Bandbreite an Besuchern eine Art Mikrokosmos der ‚Stadt der Menge‘, die nach der Logik der Bühne, der Kulisse und des Spektakels organisiert war. In diesem Rahmen, in dem das einzelne Bild unter den Tausenden von Exponaten – im Salon von 1880 stellten 5 184 Künstler und 4 267 Maler aus – unterzugehen drohte, provozierten Manets Bilder solche Baudelaireschen ‚Begegnungen‘ durch einen Blick, der den Salonflaneur unvermittelt traf und von der Menge der Besucher für einen Augenblick isolierte. Manets Bilder fielen durch den forcierten Außenbezug aus jedem Zusammenhang und zerrissen die ästhetische Textur der flächendeckend Rahmen an Rahmen gehängten Bilder. Es wurde zur stehenden Wendung der Salonkritiker, davon zu sprechen, Manets Bilder schlügen „ein Loch in die Wand“. Gleichwohl paarte sich auch hier die ‚Begegnung‘ mit einem Entzug, nicht nur weil es bloß ein Bild war, von dessen Blick man erfaßt wurde, sondern weil der Betrachter erkennen mußte, daß dieser Blick an ihm vorbei- oder durch ihn hindurchging, er folglich nicht der ‚Gemeinte‘ war. Die beiden Bedeutungen von ‚cela me regarde‘ – ‚es schaut mich an‘ und ‚es geht mich an‘ – traten in irritierender Weise auseinander.
Auf dem schwankenden Boden einer Zeit, in der das Problem der Kommunikation sich auf allen Ebenen stellte, schuf Manet eine Malerei ‚von Angesicht zu Angesicht‘, die weniger ein Modell der Welt entwarf als vielmehr ein Modell der – prekären, instabilen und immer nur punktuellen – Beziehung zur Welt. Sie kommunizierte weniger bestimmte Inhalte, sondern Subjektivität selbst, sofern man unter Subjektivität die Vermittlung von Selbst und Welt versteht.

Bild und Blick im Zeichen künstlerischer Autonomie
Abschnitt II
Abschnitt III
Abschnitt IV
punkt Abschnitt V
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Edouard Manet Autonomie Velazquez Cezanne

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Bild und Blick in Manets Malerei

Berlin: Gebr. Mann Verlag 2003.

Einleitung, Abschnitt IV

Legt man den analytischen Akzent auf das Bild-Betrachter-Verhältnis sowie auf Manets bildgeschichtliche Position, läßt sich die gängige Auffassung konkretisieren, Manet sei einer der entschiedensten Verfechter malerischer Autonomie. Im Hinblick darauf sind im Frankreich des 19. Jahrhunderts zwei Schritte der Autonomisierung zu unterscheiden. Zunächst, nach dem Ende des Ancien régime und verstärkt in der Romantik, ging es darum, die Malerei von der Aufgabe zu entbinden, eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen – einem Auftrag zu gehorchen oder einer Sache zu dienen, beispielsweise der Sache des Staates. Der zweite Schritt war entschieden radikaler. Manet – wie nach ihm so mancher Künstler der klassischen Avantgarden – wies die Verpflichtung zurück, in seinen Bildern überhaupt etwas aussagen zu müssen. Die Ausdifferenzierung eines autonomen malerischen Feldes vollzog sich insbesondere durch die Abwehr alles ‚Literarischen‘ im weitesten Sinne. War es in der Romantik, etwa bei Delacroix, noch allgegenwärtig, wurde es jetzt als aufzusprengende Umklammerung empfunden. Das Bild sollte auf keine Textquelle rückführbar sein, ja noch nicht einmal auf einen heteronomen ‚Diskurs‘, der von außen bestimmte, wonach sich seine Herstellung und seine Betrachtung zu richten habe. Daraus erklärt sich die zunehmende Tendenz zur ‚Offenheit‘ und zum ‚Unvollendeten‘: Beides unterlief die Möglichkeit, dem Bild eine bestimmte Aussage abfordern zu können. Georges Bataille hat dies vielleicht am bündigsten benannt, als er Manets Spezifik darin sah, jeden literarischen Sinn, aber auch jede Referenz auf tradierte Normen und Konventionen zum Schweigen gebracht zu haben: „Der Text“, so Bataille, „wird durch das Bild ausgelöscht. Und was das Bild bedeutet, ist nicht der Text, sondern dessen Auslöschung.“
Manet aber destruierte nicht nur bestehende Bindungen, sondern suchte zugleich nach neuen. Im normativen Vakuum, das durch den Niedergang der Académie des Beaux-Arts entstand, schuf er sich zwei Orientierungspunkte, die er dem brüchig gewordenen akademischen Wertesystem entgegensetzte. Die erste betraf das Problem der Legitimität des Künstlers, also die Frage, wer ein Maler sei respektive sich gerechtfertigterweise so nennen dürfe. Bislang hatte die Académie das Monopol besessen, die ‚wahren‘ Künstler von den ‚anderen‘ zu scheiden, deren Ablehnung ihnen unter anderem verwehrte, im offiziellen Salon auszustellen. Daß die Autorität der ehemals übermächtigen Selektionsinstanz der Académie schwand, zeigte sich gerade an den heftigen Kämpfen, die zu Manets Zeit um die Definition des ‚wahren‘ Künstlers und um die Zulassung zum Salon geführt wurden. In dieser Legitimitätskrise suchte Manet die ‚autonome‘ Rückversicherung bei jenen Malern der Vergangenheit, in deren Bildern er Vorläufer seiner eigenen künstlerischen Absichten zu entdecken glaubte. In Tizian und in Rubens erkannte er ‚Wahlverwandte‘ – vor allem aber in „maître Velásquez“. Ihn bezeichnete er als den größten Maler, der je gelebt habe, als „peintre des peintres“, bei dem er die Erfüllung seines Ideals in der Malerei gefunden habe. Wenn er sich nun explizit auf diese Maler bezog, so sollte deren nicht-akademische, zu jener Zeit jedoch wachsende Autorität seiner Malerei, die das Akademische so offensichtlich mißachtete, sozusagen die künstlerische ‚maîtrise‘ verleihen. Ebenso wichtig dürfte sein, daß Manet in diesen Künstlern Persönlichkeiten zu erkennen glaubte, deren aristokratischer Habitus und weitgehende künstlerische Autonomie sich wechselseitig zu begründen schienen. In ihnen fand er ein Künstlerbild vorgeprägt, dem er – unter den anderen historischen Bedingungen des ‚Dandyismus‘ – selbst nachzuleben versuchte.
Die andere Orientierung hingegen betraf den Betrachter, dem sich Manets Bilder nicht nur im metaphorischen Sinne, sondern wortwörtlich ‚zuwandten‘, um mit ihm in einen ‚Dialog‘ von bislang unbekannter Unmittelbarkeit zu treten. Die eigentliche Pointe dieser ‚Zuwendung‘ offenbart sich erst vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Strebens nach malerischer Autonomie. Dieses Streben löste einen tiefgreifenden Wandel aus, der sowohl die Produktion wie auch die Rezeption der Kunst betraf und in dem historische, soziologische und ästhetische Aspekte kaum zu trennen sind. Als die herkömmlichen kommunikativen Brücken zwischen Kunst und Publikum – die literarisch fundierte Motivwelt, das Ensemble von geteilten Normen und Werten, all das, was Bataille zusammenfassend den „Text“ nannte – nicht mehr trugen, begann sich ein künstlerisches Selbstverständnis herauszubilden, das jeden außerästhetischen ‚Nutzen‘ der Kunst ablehnte und den absoluten Primat der Form gegenüber dem Inhalt behauptete. Parallel dazu veränderte sich die Einstellung der Rezipienten. Indem sie ebenfalls zunehmend der Auffassung waren, Kunst sei allein zum Zwecke ästhetischer Erfahrung geschaffen, gaben auch sie der Form gegenüber dem Inhalt den Vorrang. Damit waren die Voraussetzungen für eine Malerei gegeben, die das ‚reine‘, ‚absolute‘ Sehen zum Ausgangspunkt und zum Ziel der Kunst erklärte, ein solches Sehen aber umgekehrt auch vom Betrachter forderte. Wollte man diese Verabsolutierung des Sehens mit einem Namen verbinden, wäre wohl am ehesten derjenige Paul Cézannes zu nennen. Bei Manet hingegen gewann diese neuartige ‚Kommunikation‘ zwischen Produzent und Rezipient eine Form, die in gewisser Weise zwar naheliegen konnte, aber bis heute nichts von ihrer provokanten Radikalität einbüßte: Manet ließ das ‚reine Sehen‘ mit einem konkreten, inkarnierten Blick zusammenfallen, der sich aus dem Bild heraus auf den Betrachter richtete.

Bild und Blick im Zeichen künstlerischer Autonomie
Abschnitt II
Abschnitt III
punkt Abschnitt IV
Edouard Manet - Pfeil Abschnitt V
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Edouard Manet Formalismus Greenberg Impressionismus Offenes Kunstwerk

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Bild und Blick in Manets Malerei

Berlin: Gebr. Mann Verlag 2003.

Einleitung, Abschnitt III

Der Umstand, daß die Frage nach der Einheit des Œuvres offenblieb beziehungsweise implizit oder explizit negativ beantwortet wurde, wirkt sich auf das Verständnis von Manets kunsthistorischer Stellung aus. So beabsichtigen die folgenden Studien zugleich, zu einer differenzierteren bildgeschichtlichen Positionierung des Œuvres zu gelangen. Dafür muß Manet aus der formalistischen Sichtweise herausgelöst werden, die in ihm die Gründungsfigur einer Malerei der Flächigkeit und „reinen Optikalität“ (Clement Greenberg) erkennen will. Denn Manet ist kaum in das Schema einer Kunstentwicklung einzugliedern, die, von ihm ausgehend, über den Impressionismus, Cézanne und den späten Monet zum Abstrakten Expressionismus Jackson Pollocks oder Barnett Newmans führen soll. Manet initiiert auch nicht den Übergang vom Bild als ‚Körper‘ zum Bild als ‚Feld‘. Blickt man auf die Kunst des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts, so verweisen Manets Bilder in ihrer Widersprüchlichkeit und ihrem ausdrücklichen Betrachterbezug vielmehr auf einen anderen Aspekt der Moderne. Seine Malerei hat, schlagwortartig gesagt, mehr mit Umberto Ecos „offenem Kunstwerk“ als mit Greenbergs „pure opticality“ zu tun.
Für Manets bildgeschichtliche Positionierung ist die Bilderkette, die ihn mit der Vergangenheit verbindet, von genauso großer Bedeutung. Manet pflegte ein intensives ‚Gespräch‘ mit den alten Meistern. Dabei ging es ihm keineswegs, wie so oft behauptet wird, um die Distanzierung, ja Liquidierung der Tradition, mit dem Ziel, die Tabula rasa der Moderne zu eröffnen. Vergleicht man Manets Olympia mit Tizians Venere d’Urbino oder L’exécution de Maximilien mit Francisco de Goyas 3 de mayo, aber auch, was sich auf den ersten Blick weniger aufzudrängen scheint, Un bar aux Folies-Bergère mit Diego Velázquez’ Las Meninas, gelangt man zu einem anderen Ergebnis. Zwischen Manets Gemälden und den Bildern, auf die er sich bezog, sind die Übereinstimmungen nämlich ebenso signifikant wie die Differenzen. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn man die jeweiligen Bildpaare vor dem Hintergrund der zeitgenössischen akademischen Malerei betrachtet. Vor der Folie von Alexandre Cabanels Naissance de Vénus rücken Olympia und Tizians Venere d’Urbino erstaunlich nahe zusammen. Das aber eröffnet die Frage, was diese beiden Bilder gemeinsam haben und über die Zeiten hinweg miteinander verbindet. Manets Malerei eröffnet die Chance, nicht nur – einmal mehr – die Kluft zwischen Tradition und Moderne zu betonen, sondern auch nach den Merkmalen zu fragen, die Tizians oder Velázquez’ Malerei mit dem ‚offenen Kunstwerk‘ der Moderne verknüpft. Greift die modernistische Rede von der tabula rasa zu kurz, so sollte man andererseits auch der postmodernen Versuchung widerstehen, im häufigen Zitieren und Umarbeiten älterer Gemälde eine proto-surrealistische Assemblage-Technik oder eine ‚Appropriations-Kunst‘ avant la lettre erkennen zu wollen. Manets Œuvre, so die hier auszuführende These, ist ein bildgeschichtliches Scharnier, das Tradition und Moderne zugleich trennt und verbindet. Im Rekurs auf die Tradition suchte Manet nach deren unabgegoltenem Potential, um es für die eigenen, gegenwartsbezogenen Absichten fruchtbar zu machen.

Bild und Blick im Zeichen künstlerischer Autonomie
Abschnitt II
punkt Abschnitt III
Edouard Manet - Pfeil Abschnitt IV
Abschnitt V
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Edouard Manet Paradoxie Widersprüchlichkeit Gesamtwerk

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Bild und Blick in Manets Malerei

Berlin: Gebr. Mann Verlag 2003.

Einleitung, Abschnitt II

Solche Eigenheiten von Manets Malerei sind wiederholt bemerkt und in unterschiedlicher Weise gedeutet worden. Negative Würdigungen nennen sie deren „Absurdität“ (Theophile Thoré, 1863) oder „Inkonsistenz“ (Timothy Clark, 1984), eine positive Würdigung spräche von Verdichtung, Prägnanz oder Komplexität. Die hier vorgelegten Studien rücken diese Eigenschaften in den Mittelpunkt. Die Ausgangsthese lautet: Die Widersprüchlichkeiten bilden – um es selbst widersprüchlich auszudrücken – den ‚Kern‘ von Manets Bildern. Sie sind deren „punctum“, wie Roland Barthes sagen würde: deren ‚Pointe‘ und ‚Loch‘ zugleich.
Die Vorgehensweise, die sich daraus ableitet, beruht auf vielen methodischen Voraussetzungen, die sich in der Auseinandersetzung mit der facettenreichen und heterogenen Manet-Forschung gebildet haben. Sie im einzelnen zu referieren, möchte ich dem Leser an dieser Stelle ersparen. Lediglich in Exkursen – die auch übersprungen werden können – werden einige wichtige Gesichtspunkte der Literatur diskutiert. Der methodische Grundgedanke dieser Studien läßt sich jedoch mit wenigen Worten formulieren. Er liegt in der strikten Wechselseitigkeit zwischen der Interpretation der Bilder und der Analyse des Bezugs von Bild und Betrachter, oder noch knapper gesagt, in der analytischen Verschränkung von Bildstruktur und Betrachterbezug.
In rezeptionsorientierter Perspektive versucht das Close reading ausgewählter Hauptwerke, die Eigenart der einzelnen Bilder im Lichte ihrer ästhetischen Erfahrung zu erfassen. In produktionsorientierter Perspektive wird es zugleich darum gehen, den strukturellen Zusammenhang des Gesamtwerks herauszuarbeiten. Diesbezüglich gilt es, einer Folge der seit längerem dominierenden sozialgeschichtlichen Manet-Forschung entgegenzuwirken. Aufgrund der Inhaltslastigkeit dieser Forschungsrichtung ist ihr Interesse an bildstrukturellen Fragen ohnehin eher gering. Gleichzeitig werden immer ausgefeiltere Untersuchungen zu einzelnen Bildern vorgelegt, die sie in alle möglichen Zusammenhänge stellen, nur nicht in den Zusammenhang des Œuvres. Sie rücken dem einzelnen Bild zu nah und dem Gesamtwerk zu fern, mit dem Ergebnis, daß die Konturen beider verschwimmen. Was zeitlich auseinanderliegende Werke wie das frühe Déjeuner sur l’herbe und das späte Un bar aux Folies-Bergère oder thematisch divergierende Bilder wie Olympia, L’exécution de Maximilien und Dans la serre miteinander verbindet, ist als Frage so dringlich wie unter den augenblicklichen Forschungsprämissen kaum zu beantworten.

Bild und Blick im Zeichen künstlerischer Autonomie
punkt Abschnitt II
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Abschnitt IV
Abschnitt V
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Edouard Manet Blick Bildraum Komposition

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Bild und Blick in Manets Malerei

Berlin: Gebr. Mann Verlag 2003

Einleitung: Bild und Blick im Zeichen künstlerischer Autonomie

„Es ist wirklich ein geheimnisvolles Tausch-Zeremoniell, das seinen letzten Schritt vollzieht, wenn der Spaziergänger scheinbar ohne Grund vor einem Bild stehenbleibt und es betrachtet.“ (Louis Marin)

Im Musée imaginaire hat Manet einen sicheren Platz. Hören wir seinen Namen, erscheinen Bilder vor dem inneren Auge: Olympia, Déjeuner sur l’herbe, Un bar aux Folies-Bergère. Ebenso schnell drängen sich Wörter auf: Modernität, Skandal, Zweites Kaiserreich, Paris; oder: Realismus, Flächigkeit, impressionistischer Pinselstrich. Diese Wörter sind gleichzeitig zutreffend und unzureichend. Manets Œuvre entspricht ihnen tatsächlich, und man könnte sogar sagen, es sei in inhaltlichem wie formalem Sinne platt: Olympia, das ist eine schnörkellose Malerei der Tatsachen, ein Bild ohne Tiefe, mit einer Figur flach wie eine Spielkarte, gemalt mit hellen, klaren, oft nur als Flecken aufgetragenen Farben. Doch es mögen sich Zweifel einstellen. Die Erscheinung der Bilder stimmt nicht mit einem Sprechen überein, das soviel Einfachheit und Eindeutigkeit suggeriert. Ist Manets Malerei modern, pariserisch, skandalös? Ist sie realistisch oder impressionistisch? Sie ist es – aber auch etwas mehr oder etwas weniger. Eher geht sie von diesem oder jenem aus, um etwas anderes entstehen zu lassen. Mit einem Wort: Sie ist zwiespältig. Manet strebte nach ’skandalöser Modernität‘, suchte aber zugleich die Rückversicherung bei den Alten Meistern, vor allem bei „maître Velásquez“, wie er ihn nannte. Die Bilder sind häufig alles andere als realistisch oder impressionistisch, und die modernen Sujets, ein mondäner Wintergarten, ein Ausblick auf eine Eisenbahntrasse, eine Bar in einem Vergnügungslokal, erscheinen oftmals gar nicht als das eigentliche Darstellungsziel, sondern als Gefäß für etwas Ungreifbares, Flüchtiges, schwer Faßbares. Manets Œuvre provoziert eine Sprecharbeit, deren erste Aufgabe darin besteht, die sich aufdrängenden Wörter zurückzuweisen, sobald man ihre beschränkte Bestimmungskraft erkennt.
Das Sujet der Bilder ist der Blick. Oft ist er das einzige, was in ihnen ‚geschieht‘, ihre eigentliche ‚Handlung‘. Von Anfang an suchte Manet nicht nur das Bild des Menschen, sondern seinen Blick. Seine Neugier richtete sich dabei auf jenen leeren Moment, in dem ein Mensch nicht zu blicken weiß. Eine Art suspense entsteht: Was mögen sie in diesem Augenblick denken? Die andere, gleichermaßen beunruhigende Frage ist: Was sehen sie? Auf beides geben die Bilder keine Antwort. Meistens blicken die Figuren in einen Raum, der jenseits der Bildgrenzen liegt und den wir folglich nicht einsehen können; auch die gezeigten Situationen lassen kaum Rückschlüsse zu. Manet fängt Augenblicke des Übergangs ein, blinde Stellen, in denen die Menschen nicht ganz bei sich, noch nicht einmal ganz da sind. Es handelt sich um ‚Anti-Momente‘ des Daseins, die zwar herausgehoben sind, in denen sich aber nichts entscheidet. Der Blick macht die Menschen auf eine radikale Weise einsam, er wirkt wie ein ‚Fluchtpunkt‘ inmitten des Bildes, in dem Raum und Zeit verschwinden. Wer Manets Figuren ins Auge sieht, entdeckt darin weniger die Fülle des Seins, als vielmehr die „Nacht der Welt“, die Leere der Subjektivität.
Durch die so häufig aus dem Bild heraus gerichteten Blicke kehren sich die Raumenergien um. Die Bilder eröffnen kaum Tiefe, sondern verriegeln sie durch verschiedene bildnerische Maßnahmen. Stattdessen projizieren sie den Raum nach vorne, zum Betrachter hin. Sie fahren auf ihn zu „wie zuweilen Lokomotiven im Film“, so wie es Theodor W. Adorno an den „modernen Gebilden“ der Kunst beobachtete. Der Schauplatz des Bildes ist infolgedessen nicht nur die schmale imaginäre Bühne, auf die der Betrachter sieht. Vielmehr wird der Raum zwischen Bild und Betrachter zum eigentlichen Schauplatz. Die Bildarchitektur ist gleichermaßen rigide und offen, fest und instabil: ein dynamisches Gleichgewicht. Der Betrachter durchläuft die Bilder, ohne wirklich Halt zu finden, da sein Blick durch die Bildstruktur immer auch zerstreut wird. Er trifft auf Bruch- und Nahtstellen, auf Inkohärenzen und Lücken im Darstellungsgefüge, auf eine seltsame Unübersichtlichkeit trotz der Frontalität der Bildanlage und der Nahsicht auf das, was das Bild ihm zu sehen gibt.
Die kompositorische Struktur der Bilder steht damit in engem, reflexivem Bezug zur Eigenart der Blicke. Im Ineinanderfließen von Konzentration und Zerstreuung, Präsenz und Leere, Zuwendung und Distanzierung treffen sich Bildstruktur und Figurenblick. Wir werden nicht nur Zeugen einer Beziehung zwischen den Figuren, die sich durch gegenseitiges Verfehlen auszeichnet. Auch die Beziehung zwischen Bild und Betrachter scheint als nahsichtiges face-to-face auf Unmittelbarkeit und Wechselseitigkeit angelegt, erweist sich jedoch als asymmetrisch und nicht reziprok. Um Heinrich von Kleists berühmte Formulierung aufzunehmen: Dem Anspruch des Betrachters an das Bild antwortet der Abbruch, den es ihm zumutet. Manets letztes Hauptwerk, Un bar aux Folies-Bergère, führt dies mit seiner Spiegelreflexion zum Höhepunkt. Sie schließt den Betrachter ins Bild ein, zugleich aber, weil im Spiegel ein Anderer erscheint als er selbst, auch aus.

punkt Bild und Blick im Zeichen künstlerischer Autonomie
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Abschnitt III
Abschnitt IV
Abschnitt V
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