‚Sehen‘ contra ‚Erkennen‘ als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.185 KB)
‚Sehen‘ contra ‚Erkennen‘. Die Erschießung Kaiser Maximilians und Die Eisenbahn von Edouard Manet
in: Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, hrsg. von Gert Mattenklott (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderband), Hamburg 2004, S. 83-101.
Die beiden Gemälde, die in diesem Beitrag betrachtet werden, Die Erschießung Kaiser Maximilians und Die Eisenbahn von Edouard Manet (1868/69 und 1872/73, Abb. 1 und 2, S. 98 und 99), erscheinen unmittelbar einschlägig für das, worauf dieser Band und die ihm zugrundeliegende Tagung ziel(t)en: die Differenzierung und Relationierung unterschiedlicher Erfahrungsformen. Einschlägig ist das erste der beiden Gemälde bereits durch die Zugehörigkeit zur Gattung der Historienmalerei, die jeweils darauf angewiesen ist, daß sich die ästhetische Erfahrung des Bildes mit der Vermittlung von Wissen, Erinnerung oder Ideen verbindet. Die Repräsentationsfunktion der Historienmalerei verklammert ästhetische Erfahrung und Wissensproduktion: Sie zielt auf eine besondere Wahrnehmung des Gegenstandes, der zugleich ‚erkannt‘ und in einer bestimmten Weise ‚gesehen‘ werden soll. Dieser grundsätzliche, bildsystematische Aspekt wird im Falle Manets durch eine bildgeschichtliche Dimension ergänzt. In der langen Geschichte der Historienmalerei markiert das Gemälde die Schwelle, an der das soeben skizzierte Repräsentationsmodell in eine Krise gerät – eine Krise, von der sich die Gattung nicht erholen sollte. Das Ästhetische und das Epistemische streben hier in einer so dramatischen Weise voneinander weg, daß der Bildsinn ins Offene geführt wird.
Die schwankende Rezeption des Bildes bestätigt dies. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts galt es als Beleg für die Auffassung, Manet gehe es in erster Linie um reine Malerei: Wer ein so dramatisches Geschehen wie eine Erschießung mit solcher Teilnahmslosigkeit male, führe beispielhaft vor, wie ein Inhalt zugunsten der Form geopfert werden könne. Manet positioniere sich damit, so schien es, als entschiedener Verfechter malerischer Autonomie, der sich nicht nur von der traditionellen Aufgabe der Historienmalerei entbinde, der Sache des Staates zu dienen, sondern mit seiner Indifferenz sogar die Verpflichtung zurückweise, in seinem Bild überhaupt etwas auszusagen. Georges Bataille formulierte diese Auffassung am radikalsten, als er die Spezifik von Manets Gemälden darin sah, jeden literarischen Sinn und jede Referenz auf tradierte Normen und Konventionen zum Schweigen zu bringen: „Der Text“, schrieb Bataille, „wird durch das Bild ausgelöscht. Und was das Bild bedeutet, ist nicht der Text, sondern dessen Auslöschung.“
In den letzten Jahrzehnten hingegen kehrte sich die Einschätzung des Bildes um. Vor allem in der angelsächsischen Sozialgeschichte der Kunst wurde es zum genau gegenteiligen Beweisstück. Ein Maler, der sich jenem damals bedeutsamen Ereignis zuwende, könne kein nur auf Leinwand, Pinsel und Farbe konzentrierter Künstler sein, so wie es für seine impressionistischen Kollegen zu gelten scheint. Manet zeige sich vielmehr als politisiertes Subjekt, als ‚peintre engagé‘. Die zur Schau gestellte Indifferenz habe nicht die Absicht, malerische Autonomie herauszustellen, sondern sei eine sorgfältig kalkulierte kritische Strategie. Damit aber stimmen die beiden gegensätzlichen Bewertungen in einem entscheidenden Punkt überein, den sie lediglich unterschiedlich bewerten. Offensichtlich klafft in Manets Bild genau das auseinander, was im klassischen Repräsentationsmodell ineinander aufgeht, nämlich was im Bild ‚erkannt‘ wird und was das Bild zu ’sehen‘ gibt. Dieser Diskrepanz soll im folgenden nachgegangen werden, und zwar durch eine Analyse dessen, was man die kommunikativen Strukturen des Bildes nennen könnte.
Vorab sei jedoch den Fakten und dem Wissen Tribut gezollt und der historische Hintergrund von Manets Gemälde kurz rekapituliert. Erzherzog Maximilian von Österreich, nach dem Urteil der Zeitgenossen ein treuherziger, wohlmeinender Mann von romantischer Gefühlslage, wurde in den 1860er Jahren zum Spielball französischer Machtpolitik, zur Hauptfigur eines von Anbeginn an zum Scheitern verurteilten imperialen Zwischenspiels an einem dafür ungeeigneten Ort. Der jüngere Bruder des österreichischen Kaisers und ehemalige Generalgouverneur der Lombardei lebte nach der Einigung Italiens ohne offizielle Stellung zurückgezogen in einem verspielten Schlößchen bei Triest, von wo ihn Napoleon III., Kaiser der Franzosen, mit dem Versprechen weglockte, ihn im fernen Mexiko zum Kaiser krönen zu lassen, geschützt von einer starken französisch-österreichisch-mexikanischen Allianz. Als die französischen Truppen, die unter dem Vorwand der Schuldeneintreibung in Mexiko einfielen, den Widerstand des mexikanischen Präsidenten, Benito Juares, und seiner Armee nicht brechen konnten und überdies Frankreich von den Vereinigten Staaten immer dringender aufgefordert wurde, seine Soldaten aus dem von den USA selbst als Einflußsphäre betrachteten Mexiko abzuziehen, erkannte Napoleon die Aussichtlosigkeit seiner kolonialen Intervention, holte die Truppen nach Frankreich heim und ließ Maximilian schutzlos zurück. Dieser wurde kurz darauf gefangengesetzt und wenige Tage später, am 17. Juni 1867, erschossen. Napoleons grandioses, für Maximilian fatales außenpolitisches Debakel läutete den Niedergang des Zweiten Kaiserreichs ein, das vier Jahre später mit der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg besiegelt sein sollte.
Kurz nach dem Bekanntwerden dieser fernen Ereignisse beginnt Manet eine fast zwei Jahre dauernde Arbeit an dem Thema. Fünf Fassungen entstehen, von denen hier allein die letzte und endgültige betrachtet werden soll. Schon im ersten Entwurf legt sich Manet auf ein Darstellungsschema fest, das er nicht mehr verändern wird. Es orientiert sich an Goyas Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid (Abb. 3, S.100), einem Bild, das er bei seinem Prado-Besuch 1865 gesehen haben könnte, mit Sicherheit aber aus Reproduktionen kannte. Manet übernimmt Goyas zweipoligen, in eine Täter- und Opfer-Seite geteilten Bildaufbau. Ebenso behält er die Positionierung der Protagonisten bei, die jeweils in Dreiviertelansicht von hinten oder von vorne gesehen sind. Gleichzeitig verändert er Goyas Darstellungsschema in bedeutsamer Weise. So reduziert er die Gruppe der Opfer auf drei Figuren, Kaiser Maximilian und die beiden mit ihm erschossenen Generäle Mejía und Miramón. Des weiteren modifiziert er Goyas aufgefächerte Zeitstruktur, die das Geschehen in ein Vorher, Jetzt und Nachher differenziert. Bei Goya erwarten die einen die Schüsse noch, während andere bereits erschossen am Boden liegen; Manet hingegen versammelt alles im zugespitzten Jetzt der Schußabgabe selbst. Mit dem Unteroffizier am rechten Bildrand führt er überdies eine dritte Partei ein, die zwar der Seite der Soldaten zuzuordnen ist, von der Handlung aber gleichwohl abgesondert bleibt. Schließlich wird auch die Bühne des Geschehens neu gefaßt. Hinter den Figuren zieht Manet eine bildebenen-parallel verlaufende Mauer hoch, und am rechten Bildrand wird die Mauer einfach abgeschnitten, ohne jeden Hinweis darauf, wie der Raum jenseits des gezeigten Ausschnitts wohl beschaffen sein dürfte. Auch die oberen und unteren Bildränder bleiben auffällig unartikuliert. Während am unteren Bildrand der Boden unter den Füßen des Betrachters ohne Zäsur weiterzulaufen scheint, wäre da nicht die Bildgrenze selbst, öffnet sich über der Mauer ein Ausblick auf einen Hügel, der jedoch abrupt abgeschnitten wird. Die Perspektive des Landschaftshintergrundes wirkt dabei eigentümlich aufgeklappt. Sie erweckt den Anschein, als begänne hinter der Mauer eine andere Welt – oder aber ein anderes Bild, denn es könnte sich ebensogut um eine gemalte Kulisse handeln. Die räumliche Unbestimmtheit überträgt sich auf die Protagonisten des Bildes, die seltsam ortlos wirken. Wie sie in diesen eigentümlich inkonsistenten Raum gelangt sind, bleibt ebenso offen wie das Wohin ihres Abgangs, wenn sie ihre Arbeit verrichtet haben werden.
Während Goya kompakte, klar voneinander getrennte Gruppen formt, zieht Manet insbesondere die Gruppe der Soldaten auseinander. Ein lockerer Figurenfries entsteht, an dem besonders hervorzuheben ist, daß er auch Maximilian und die beiden Generäle einbezieht. Goyas antagonistische Gegenüberstellung von Schießenden und Opfern wird dadurch aufgeweicht. Das Ornamentale und Rhythmische dieses Figurenfrieses verstärken auffällige Farb- und Formwiederholungen. Sie zeigen sich nicht nur innerhalb der Gruppe der Soldaten, deren Képis, Ohren, Gürtel, Säbel, Gamaschen und Schuhe eine iterative Struktur ausbilden, sondern umgreifen darüber hinaus auch die drei zu Exekutierenden. Dies geschieht durch die Annäherung der Kleidungsfarbe und das sich jeweils stark abhebende Weiß, vor allem aber aufgrund des Gleichklangs von geschwungenen Linien, die sowohl bei den Gürteln der Soldaten als auch bei der Konturlinie der Hemden der beiden Generäle zu beobachten ist. Hierbei ist signifikant, daß Manet – wie an den Malschichten ablesbar wird – zuallerletzt den weißen durchhängenden Lederriemen am vordersten Gewehr einfügte, der eine visuelle Brücke zwischen den Gruppen der Opfer und der Täter schlagt. Auch ein Goldton springt von Figur zu Figur, läuft als Streifen an Mejías Hose entlang, springt zur Krempe von Maximilians Sombrero und von da zu den Säbeln der Soldaten. Das Weiß und das Gold wandern durch das Bild, einem ‚flottierenden Signifikanten‘ gleich, der keinen fixierten Platz und keine fixierte Bedeutung besitzt, sondern dessen Bedeutung in der Zirkulation selbst zu liegen scheint. Auf diese Weise entsteht ein visueller Rhythmus, der das Bild in seiner ganzen Breite durchläuft – bei Mejías Arm am linken Bildrand beginnt, über die einzelnen Figuren hinwegläuft und rechts im Gewehr des Unteroffiziers ausklingt. Am rechten Bildrand angekommen, leitet das Gewehr, das den Bildrand weniger überschneidet als vielmehr zu berühren scheint, zum oberen Mauerabschluß über, wo die Bewegung über die Gruppe der Zuschauer hinweg bis zum leuchtenden urnenförmigen Grabmonument in der linken oberen Bildecke zurückläuft. Dieses rhythmisierte Zirkulieren läuft sowohl der zeitlichen Zuspitzung der Handlung als auch der Schußrichtung entgegen. Es entsteht eine Art laterale Drift, in der die heterogenen Elemente des Bildes zueinander in eine oszillierende Interaktion treten und die zugleich zur Folge hat, den Blick des Betrachters zu dezentrieren und über das Bildfeld hinweg zu zerstreuen.
Es dürfte bereits deutlich werden, worauf eine solche Beschreibung von Manets Historiengemälde zielt: auf die eigentümliche Untiefe des Bildes sowie auf etwas, was man als Nicht-Sehen bei voller Sichtbarkeit bezeichnen könnte. Denn obschon der Betrachter unmittelbar, ohne jegliche räumliche Zäsur, vor dem Erschießungsgeschehen steht, scheint er dennoch gewissermaßen nichts zu sehen und nichts zu hören. Bataille brachte dies in dem bereits genannten Essay auf den Punkt, als er schrieb, man könne sich des Eindrucks der Schläfrigkeit, der von dem Bild ausgehe, nicht entziehen: Das Bild erinnere an die „Betäubung eines Zahns.“
Um diesem widersprüchlichen Effekt von Manets Darstellungsweise näherzukommen, sei eine Unterscheidung herangezogen, die Umberto Eco hinsichtlich der aristotelischen Konzeption des Dramas trifft. Nach Eco enthält jede Dramenhandlung zwei unterschiedliche Ebenen, die er als ‚Handlung‘ und ‚Aktion‘ bezeichnet. Die ‚Handlung‘ stellt die äußere Organisation der Fakten dar und dient zugleich dazu, eine wesentlichere Schicht des Dramas, die ‚Aktion‘, sichtbar zu machen. Deren Differenz erläutert er am Beispiel von Ödipus: Der nach den Ursachen der Pest forschende, sich als Vatermörder und Ehegatte der Mutter entdeckende und sich daraufhin blendende Ödipus – das ist die ‚Handlung‘ des Mythos. Die tragische ‚Aktion‘ hingegen spielt sich auf einer tiefer liegenden Ebene ab, nämlich derjenigen des komplexen Zusammenwirkens von Schicksal und Schuld. Während die ‚Handlung‘ völlig eindeutig ist, steht die ‚Aktion‘ vielen und unabschließbaren Deutungsmöglichkeiten offen. Die Kunst des Dramas lebt, so Eco, von ebendieser Spannung, die sich zwischen der verständlich angelegten äußeren ‚Handlung‘ und der Komplexität der darin aufscheinenden ‚Aktion‘ herstellt.
Diese Unterscheidung kann unmittelbar auf die Historienmalerei übertragen werden. Goyas 3. Mai 1808 inszeniert eine leicht verständliche Handlung zwischen gegeneinander agierenden Protagonisten. Doch zweifellos geht es Goya um mehr. Um dies herauszustellen, bietet er eine Reihe von Mitteln auf. Das Bild ist nicht nur zweigeteilt, sondern differenziert deutlich zwischen einer ‚guten‘ und einer ‚bösen‘ Seite. Da sind auf der einen Seite die Opfer, die wehrlos um Gnade flehen. Die Hauptfigur, vom Licht hell beleuchtet, trägt Wundmale und erinnert mit ihren hochgestreckten Armen an den gekreuzigten Christus. Ihnen stehen dunkle, gesichtslose und in anonymsierender Reihung aufgestellte Soldaten gegenüber, deren Aggressivität ihrer Körperhaltung überdeutlich eingeschrieben wird. Goya verwendet eine chiffrenhaft zugespitzte Darstellungsweise, für die er sich an der tagespolitischen propagandistischen Graphik orientiert. Diese wertende Gegenüberstellung beabsichtigt, im Betrachter eine bestimmte Einstellung zum gemalten Geschehen zu erwirken. Es zeigt den Konflikt nicht nur, sondern hält zugleich die Lösung bereit, wie dieser zu bewerten sei. In Ecos Begriffen gesprochen: Es zeigt die ‚Handlung‘ in so eindeutiger, beinahe plakativer Weise, daß über die zugrundeliegende, die Protagonisten motivierende ‚Aktion‘ nicht gerätselt werden muß.
Ecos narrationslogische Unterscheidung erlaubt es zugleich, die Funktion eines für die Historienmalerei signifikanten Merkmals zu erkennen. Ein Historienbild bietet dem Betrachter einen sozusagen ‚idealen‘ Blick auf das dargestellte Geschehen. Die Idealität dieses Blicks drückt sich darin aus, daß sich der Betrachter an jener Stelle, die ihm das Bild zuweist, geschehenslogisch niemals hätte aufhalten können. Die privilegierte Situierung gegenüber dem Ereignis ist unter anderem deshalb möglich, weil er in dieses nicht einbezogen ist: Er sieht, ohne selbst gesehen zu werden. Der ideale Betrachterstandpunkt korreliert der idealen Intention des Historienbildes, das sich nicht im Vorzeigen einer Handlung erschöpft, deren Augenzeugen wir werden sollen, sondern vielmehr jene sinnbildliche Dimension aufscheinen lassen will, die Eco mit dem Begriff der ‚Aktion‘ belegt. Die maximale Sichtbarkeit der ‚Handlung‘ bleibt niemals Selbstzweck, sondern bildet die Voraussetzung dafür, daß die Reflexion über die ‚Aktion‘ überhaupt in Gang kommt.
Daß Manet diese Konvention aufgreift und zugleich innerbildlich reflektiert, verdeutlicht besonders ein Bildelement: die Zeugen des Erschießungsgeschehens, die über die Mauer schauen. Manet spielt hier mit dem Kontrast zwischen der Mauer, auf welche die Augenzeugen klettern müssen, um sehen zu können, und der Bildfläche, durch welche der Betrachter auf das Geschehen blicken kann, die ihn aber zugleich vor den Protagonisten des Geschehens zu verbergen scheint. Die Augenzeugen im Bild spiegeln die Position des Betrachters vor dem Bild also gerade nicht, sondern verdeutlichen ihm e contrario die Eigenart seiner unsichtbaren Gegenwart am Geschehensort.
Mit der Konstruktion dieser idealen Betrachtersituierung fordert Manet diesen ebenso auf, sich zum dargestellten Geschehen in ein reflektierendes, bewertendes Verhältnis zu setzen, wie es auch für Goya und sein Gemälde gilt. Doch gerade dies will nun bei der Erschießung Kaiser Maximilians nicht gelingen. Einige der Gründe dafür wurden bereits genannt: die den Blick zerstreuende, ornamentalisierende Bildstruktur sowie die irritierende Untiefe der Darstellung, die den kulissenhaften Landschaftsausblick genauso betrifft wie die einzelnen Figuren, die, wenn es die Rundungen ihrer weißen Ledergürtel nicht gäbe, so flach und unkörperlich wären, wie es ihre gleichsam versiegenden Schatten anzeigen.
Ebenso bedeutsam dafür ist jedoch die Unbestimmtheit der Akteure. So haben die Protagonisten entweder kein Gesicht, oder aber ihr Gesichtsausdruck bleibt leer. Dabei unterscheidet sich die Gesichtslosigkeit der Soldaten von derjenigen bei Goya beträchtlich. Deren verlorene Profile sind im Sinne Wolfgang Isers ‚Leerstellen‘, die aufgrund der Rezeptionsvorgaben des Bildes als Fremdheit, Kälte, Bösartigkeit oder Gewissenlosigkeit gefüllt werden können. Bei Manet indes können die Leerstellen nicht gefüllt werden, sondern bleiben semantische Lücken. Darüber hinaus scheint hier sogar ein Prozeß der Defiguration einzusetzen. Vor allem das enge Zusammenschieben der Untergruppe von Soldaten am rechten Rand des Erschießungspelotons führt hier zu einer völligen Entstellung (Abb. 4, S. 101). Es bleibt nicht nur unklar, wie das schmutzige Braun, das die Gesichter stellenweise bedeckt, zu deuten wäre, sondern das Gesichtsfleisch wird derart unförmig, daß beispielsweise beim hintersten Soldaten unentscheidbar wird, ob die helle Partie, die sich ungefähr dort befindet, wo sein Kinn zu vermuten wäre, zu ihm gehört oder nicht eher als einzig sichtbarer Fleck eines ansonsten kaum zu erahnenden weiteren Soldaten angesehen werden muß. Wendeten sich diese Figuren zum Betrachter hin um, dann zeigten sie keine Fratze wie bei Goya, sondern nichts, kein Gesicht. Die abgewandten Soldaten evozieren ein Gefühl der Leere, das in eine beklemmende Fülle umschlägt, und weisen eine Reglosigkeit auf, die in die phantasmatische Gegenwart von Quasi-Subjekten umschlägt.
Entleert erscheint auch der Gesichtsausdruck Kaiser Maximilians, der Hauptfigur des Geschehens (Abb. 5, S.101). Manet stand hier vor dem Problem, wie das Gesicht eines Menschen darzustellen sei, der dem Tod ins Auge blickt – wobei er diesen Augenblick durch die Darstellung der Schußabgabe noch zuspitzte. Doch anstelle starker Erregung wird Maximilians Gesicht zur flachen Scheibe, die Konturen des Bartes und der Nase lösen sich auf, die Augen verwandeln sich in bloße schwarze Tupfer. Manet löscht das Gesicht aus, doch so, daß das Ausgelöschte am Ort der Auslöschung negativ präsent bleibt. Maximilians Physiognomie wird zum hellen Fleck, in dem ‚face‘ und ‚effacement‘, Gesicht und Auswischung, ineinander aufgehen.
Die vielleicht überraschendste Figur in Manets Gemälde – und zugleich diejenige, die in Goyas Gemälde keinen Vorläufer hat – dürfte jedoch der Unteroffizier am rechten Bildrand sein (Abb. 6, S. 101). Zumeist wird sein Manipulieren als Vorbereitung des Gnadenschusses gedeutet, doch bei näherer Betrachtung wird sein Tun durchaus unklar. Der Unteroffizier achtet kaum auf das Spannen des Abzugs, sondern blickt darüber hinweg ins Unbestimmte. Aber noch dies ist vielleicht zu positiv formuliert, denn er erscheint in einer Weise geistesabwesend, die ihn weder bei sich noch bei etwas außerhalb seiner, ja noch nicht einmal ganz ‚da‘ sein läßt, so daß er selbst das Erschießungsgeschehen, das sich unmittelbar neben ihm ereignet, offensichtlich nicht wahrnimmt. Gleichzeitig steht die Figur in einem privilegierten Bezug zum Betrachter. Die prominente Plazierung, die Sichtbarkeit seines Gesichts und die Außenposition, die er dem Geschehen gegenüber einnimmt, lassen ihn zu einem Gelenk zwischen Bild und Betrachter werden. Seine Stellung erinnert an diejenige einer innerbildlichen Reflexionsfigur, deren Funktion Michael Fried in einer exemplarischen Studie analysierte. Als Beispiel dient Fried eine Radierung nach einem ehemals van Dyck zugeschriebenen Gemälde (Abb. 7, S. 100). Es zeigt Belisarius, einen ehemaligen General in Justinians Armee, dem drei Frauen Almosen geben. Nach Fried ist die heimliche Hauptfigur des Bildes jedoch der Soldat, der dem Betrachter räumlich am nächsten steht und Belisarius versunken betrachtet. Offensichtlich sinnt er über dessen Schicksal nach, das den ehemals ruhmvollen General in Armut und Blindheit brachte. In der Deutung dieser Figur geht Fried von einem Brief Diderots aus, in dem sich dieser bewundernd über das Bild äußert. Es sei die Figur des Soldaten, so Diderot, die den Betrachter alle übrigen Figuren vergessen lasse. Er wiederhole innerhalb des Bildes die Position des Betrachters und werde damit zu dessen innerbildlicher Identifikationsfigur: Man blicke auf Belisarius gewissermaßen mit den Augen des Soldaten. Er lasse das Bild moralisch werden, da er dem Betrachter verdeutliche, daß es um die Kontemplierung von Belisarius‘ Schicksal gehe. Formuliert man Diderots Gedanken in Ecos Begriffen, vollzieht sich in dieser Figur der Übergang vom Nachvollzug der ‚Handlung‘ zur Reflexion über die tiefer liegende ‚Aktion‘. Manets Unteroffizier spielt auf diese innerbildliche Reflexionsfigur an, verkehrt sie jedoch in ihr Gegenteil, da der Unteroffizier das Geschehen ja gerade nicht wahrnimmt. Gleichwohl stellt sich eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen dem Belisarius-Stich und Manets Erschießungsbild her. Wenn Diderot schreibt, man blicke auf das dargestellte Geschehen gewissermaßen mit den Augen dieser innerbildlichen Reflexionsfigur, scheint nun auch bei Manet die Behauptung nicht abwegig, man blicke auf das Geschehen mit genau jenem aus Raum und Zeit fallenden Blick, der den Unteroffizier auszeichnet.
An diesem Punkt läßt sich die Schwierigkeit, das Bild zu ‚lesen‘ – also ’sehen‘ und ‚erkennen‘ zueinander zu führen -, genauer bestimmen. Dafür sei noch einmal auf Isers Begriff der Leerstelle zurückgegriffen, die sowohl für das Entstehen bildlicher Narration wie für die Involvierung des Betrachters konstitutiv ist. Bei Goya antworten Leerstellen auf Rezeptionsvorgaben, beispielsweise in Gestalt der gesichtlosen Soldaten, deren Gemütsverfassung der Betrachter aufgrund des bildnerischen und narrativen Zusammenhangs imaginär ergänzen kann. Bei Manet indessen treffen nicht Leerstellen und Rezeptionsvorgaben aufeinander, sondern Leerstellen auf Leerstellen. Keine Figur hilft dem Betrachter, die jeweils anderen zu verstehen, weswegen die Leerstellen auch nicht verschwinden, so wie es Isers rezeptionsästhetisches Modell vorsieht. In Maximilians Gesichtsausdruck finden wir keinerlei Hinweis auf die Eigenart der Gesichter, in die er blickt, in der Mimik des Unteroffiziers keinen Kommentar zum daneben sich vollziehenden Geschehen, usw. Der Bilddiskurs wird beständig unterbrochen, ja, durchlöchert. Zugleich verschiebt sich die Stiftung bildnerischen Zusammenhangs auf eine andere Ebene: auf die sub-semantische Ebene der ornamentalen Rhythmik, der formalen und farblichen Iterationsstruktur. Während die Figuren in dieser Weise formal miteinander verkoppelt werden, fällt der szenische Zusammenhang auseinander; und während der historische Sinn erlischt, drängen sich die Dinge in den Vordergrund, leuchtende Gamaschen, schimmernde Säbelgriffe, gerötete Ohren. Damit aber klafft die entscheidende, bildbestimmende Lücke in der Erschießung Kaiser Maximilians zwischen dem, was Eco als ‚Handlung‘, und dem, was er als ‚Aktion‘ definierte, das heißt zwischen dem äußeren und dem inneren Zusammenhang des dargestellten Geschehens. Während die Handlung nicht nur übersichtlich und klar, sondern geradezu zeichenhaft überspitzt dargestellt wird, gewinnt der Betrachter gleichzeitig keinerlei Einblick in das motivierende Innere der Figuren und die tiefere Bedeutung des sich vollziehenden Ereignisses. Die verschiedenen Modifikationen, die Manet zwischen dem ersten Entwurf und der endgültigen Fassung vornimmt, forcieren genau diese Diskrepanz, in dem sie den widersprüchlichen Kurs verfolgen, im selben Zuge die Übersichtlichkeit der ‚Handlung‘ und die Opazität der ‚Aktion‘ zu steigern. Es fallen Schüsse – doch man erfährt nicht, warum, noch was auf sie folgen wird, noch worin ihre Moral besteht. Die Antinomie zwischen Indifferenz und kritischem Engagement, Inhalt und Form, reiner Malerei und politisch brisantem Sujet, die immer wieder als Charakteristikum von Manets Historienbild herausgestrichen wurden, begründen sich darin. Es handelt sich um das Paradox, daß die Bedeutung der Erschießung Maximilians nicht aus dem Dargestellten, sondern aus dem nicht Dargestellten folgt.
Was also erzählt Manets Historienbild, oder anders gewendet: Wie stellt sich Geschichte in ihm dar? Mit dem Rekurs auf Goyas bedeutungsgeladenes Gemälde weckt Manet Erwartungen, um jedoch bei laufendem Spiel die Regeln zu ändern und den Betrachter in eine Situation zu verwickeln, die er nicht kennt. Besonders ein Aspekt erscheint dabei signifikant. Im Vergleich mit Goyas Bild wird deutlich, daß Manets Erschießungsbild die Dialektik der Geschichte aufhebt, die sich im Historienbild jeweils als Opposition zweier Parteien zeigt und die als eine Konstante der Historienmalerei seit der Antike gelten kann. Diese Aufhebung zeigt sich zunächst an den Protagonisten, deren Verhalten zu unscharf bleibt, um wirklich als dialektisch aufeinander bezogen heraustreten zu können, des weiteren an der bildstrukturellen Verkettung der opponierenden Figurengruppen zu einem durchlaufenden Fries und schließlich an der Einführung einer dritten Partei, welche die Dualität von Tätern und Opfern unterläuft. An die Stelle der Dialektik der Geschichte tritt bei Manet die Dialektik von Lesbarkeit und Unlesbarkeit, Transparenz und Opazität. ‚Res gestae‘ und ‚historia rerum gestarum‘, konkretes Ereignis und durch plausible Erzählung gestifteter Sinn, werden im Bild nicht mehr miteinander vermittelt. Entweder schließen wir daraus, die dargestellten Ereignisse seien keinem Referenzrahmen von Werten und Normen und keinem Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen, oder wir gestehen uns ein, daß uns der Referenzrahmen und die Gesetze dessen, was wir sehen, verborgen bleiben. Manets Erschießungsbild führt Geschichte an die Grenze ihrer Nicht-Darstellbarkeit, da sie sich in den gezeigten Figuren nicht ‚verkörpert‘ und in der Handlung nicht sinnfällig wird. Es zeigt ein Geschehen, das auf einen ganzen Katalog von Bedeutungen verweist – auf die Moralität von Gut und Böse oder auf den Konflikt zwischen individuellem Schicksal und überpersönlichen Kräften, um zugleich seinen Aufenthalt dort zu nehmen, wo diese Bedeutungen fehlen. Historische Transzendenz verwandelt sich in ästhetische Immanenz: in ein ‚Kreisen‘ des Sinns, in dem das signifikante Material beständigen Metamorphosen, Iterationen und lateralen Verschiebungen unterliegt, gerade deshalb aber zu keiner fixierbaren Bedeutung gerinnt. Ästhetischer und historischer Sinn, Anschauung und Erkenntnis treten in einer Weise auseinander, daß der Betrachter gezwungen wird, beides fortlaufend gegeneinander zu bestimmen. Die Krise, die sich in Manets Bild zeigt, ist gewiß auch jene des Zweiten Kaiserreichs, dessen Ende sich mit dem mexikanischen Fiasko abzuzeichnen begann. Vor allem aber offenbart Manets Historiengemälde die Krise bildnerischer Semantik. Es zeigt das Unanschaulichwerden von Geschichte, was der Historienmalerei zwangsläufig den Boden entzieht.
Was die paradoxale Bildstruktur und das widersprüchliche Bild-Betrachter-Verhältnis betrifft, stellt Die Erschießung Kaiser Maximilians keinen Sonderfall in Manets Œuvre dar; wir begegnen ihnen immer wieder, und zwar bei ganz unterschiedlichen Darstellungsgegenständen. Ein zweites Bildbeispiel soll dies verdeutlichen. Auf den ersten Blick hat Die Eisenbahn (Abb. 2, S. 99) mit dem Erschießungsbild nichts gemein: hier ein Genrebild der Pariser ‚vie moderne‘, dort die Darstellung eines Ereignisses im fernen, beinahe exotischen Mexiko; hier ein Motiv, mit dem sich Manet auf sein unmittelbares Umfeld bezieht – in der linken oberen Bildecke läßt er die Fassade seines eigenen Ateliers auftreten -, dort ein Sujet, über das er nur durch Zeitungsberichte und spärliches photographisches Material informiert war und für dessen Komposition er auf die Bildformel eines anderen Künstlers zurückgreift. Auf kompositorischer Ebene hingegen zeigen sich überraschende Ähnlichkeiten. Der Mauer des Erschießungsbildes entspricht das Gitter der Eisenbahn, die beide ein schmales Raumsegment über die gesamte Bildbreite hin ausgrenzen und zugleich ein Dahinter sichtbar werden lassen. Bis in die Details der Körperhaltung gleichen die Soldaten der ansonsten ganz anderen Figur des Mädchens, das durch das Gitter blickt. Schließlich kontrastiert Manet in beiden Gemälden die Zugewandtheit der Figur(en) links mit dem abgewandten, ‚verlorenen Profil‘ der Figur(en) auf der rechten Seite. Obschon also die beiden Bilder gattungsmäßig und motivisch erheblich divergieren, werden sie durch eine verwandte Bildstruktur miteinander verklammert. Dieser Befund ließe sich über die beiden hier herausgegriffenen Beispiele hinaus erweitern. Sie erwiesen sich dann als Glieder einer Bilderreihe, in der anhand von sehr unterschiedlichen Sujets immer wieder ähnliche strukturelle Merkmale inszeniert werden. Was mich an dieser Stelle allerdings vorrangig interessiert, ist die Art und Weise, wie auch in der Eisenbahn ‚Sehen‘ und ‚Erkennen‘ auseinanderlaufen, ja, in einen Konflikt zueinander geraten – in einen Konflikt, der das eigentliche Sujet des Bildes zu sein scheint.
Die Eisenbahn zeigt eine Gouvernante mit ihrem Schützling oder, ebenso denkbar, eine Mutter mit ihrer Tochter, die sich in einem flachen Raumabschnitt aufhalten, der einerseits vom Eisengitter, andererseits von der Bildgrenze begrenzt wird. Während der Blick der Frau die Bildgrenze überschreitet, schaut das Mädchen durch die Zwischenräume des Gitters hindurch. Damit werden die Bildfläche und das Gitter, die parallel zueinander verlaufen, in derselben Weise analogisiert, wie es bereits bei der Mauer des Erschießungsbildes zu beobachten war. Beide Figuren stehen in einer spezifischen, allerdings sehr unterschiedlichen Relation zum Betrachter. Die Frau blickt den Betrachter mit jenem bei Manet so häufig anzutreffenden Gesichtsausdruck an, der vor allem signalisiert, daß er bemerkt worden ist. Zugleich hält ihn der Blick auf Distanz, ja stößt ihn sogar, einem Repoussoir gleich, ein wenig zurück. Die Rückenfigur des Mädchens hingegen wiederholt die Position des Betrachters innerhalb des Bildes. Das Mädchen steht an einer innerbildlichen Nahtstelle: an der Grenze zum Raum hinter dem Gitter, den es betrachtet. Auf diese Weise befindet es sich gewissermaßen zugleich im und vor dem Bild: Innerhalb des Bildes sieht es, was der Betrachter als Bild sieht. Durch ihre antagonistische Ausrichtung werden die beiden Figuren zu einer Janusfigur, welche die Beziehung von Bild und Betrachter reflektiert – sie zugleich spiegelt und bricht.
Entscheidend ist nun aber, daß das ‚Bild im Bild‘ jenseits des Gitters ‚blind‘ ist. Statt der Eisenbahn, die der Titel verspricht, sehen wir lediglich eine amorphe Wolke. Das Mädchen – und mit ihm der Betrachter – blicken auf einen weißen Fleck. Entsprechend dazu hat das Mädchen kein Auge: Auch es ist ‚blind‘, so daß die Metapher des ‚verlorenen Profils‘ hier buchstäblich zu werden scheint. Der ‚blinde Fleck‘ durchkreuzt, was man das Sichtbarkeitsversprechen eines Bildes nennen könnte. Im Rahmen der fiktiven Kohärenz des Sichtbaren, die ein Bild üblicherweise herstellt, müßte das Mädchen ’sehen‘ können, oder umgekehrt formuliert, müßte das Bild dem Mädchen – und dem Betrachter – etwas ‚zeigen‘. Auf der einen Seite verknüpft Manet Betrachter- und Bildraum durch die Nähe der Figuren, durch deren lebensgroße Darstellung sowie durch den Blickkontakt zur sitzenden Frau. Auf der anderen Seite aber kappt er die Verbindung zwischen den beiden Räumen, indem er sie durch die weiße Wolke förmlich ausradiert. Inmitten des Bildes, das vom Sehen handelt, nistet sich eine essentielle Unsichtbarkeit ein.
Das Mädchen der Eisenbahn gehört wie die Soldaten der Erschießung Kaiser Maximilians zu den phantasmatischen Figurationen in Manets Œuvre, die auf der Ebene des Dargestellten nicht zu fixieren sind, da in ihnen stets etwas fehlt oder nicht an seinem Platz zu sein scheint. Wo bleibt beispielsweise, so mag man sich fragen, der rechte Arm und die rechte Schulter des Mädchens? Deren Fehlen fällt angesichts des fleischigen, perspektivisch unverkürzt raumgreifenden linken Arms besonders auf. Warum bläht sich der Rock in einer Weise, als bedecke er einen enormen Bauch? Und sind womöglich die zwei äußerst präzise gemalten, sogar jeweils einen Glanzpunkt aufweisenden Kügelchen, die am Ohr des Mädchens baumeln, als ‚Ersatz‘ der fehlenden Augen aufzufassen? In anderer Weise irritierend wirkt die zur Schürze verlängerte Schleife des Mädchens, die als einziges Bildelement ganz in die Frontalität gekehrt ist. Ihre Materialität scheint sich von derjenigen des dunkelblauen Kleides der Frau deutlich zu unterscheiden. Mit ihrem strahlenden, ins Silberne changierenden, geradezu roh aufgetragenen Blau oszilliert sie zwischen einem Stück Stoff und einem Stück Malmaterie. Der Eindruck entsteht, als wäre der Darstellungsprozeß hier an einem Punkt angehalten worden, an dem die Materialität der Farbe noch nicht in die Materialität des darzustellenden Gegenstandes übergegangen ist. Die Faktur – als Materialität von Farbe, Leinwand und Pinselschrift – und die Textur – als Oberflächenstruktur des dargestellten Stoffes – fallen zusammen. So läßt sich die blaue Schürze weder auf die Repräsentation eines Außerbildlichen noch auf die materielle Gegebenheit des Bildes als Bild reduzieren. Vielmehr erweist sie sich als eine Stelle, an der die Erscheinung der außerbildlichen Wirklichkeit und die Materialität des Bildes sich ‚berühren‘. Wir begegnen dem malerischen Paradox einer so ‚konkreten‘ Darstellungsweise, daß Anfang und Ende des Darstellungsprozesses, Figuration und Disfiguration, Zeichen und bedeutungsloser Fleck ineinanderfließen.
Die gewiß seltsamste Stelle im Bild dürfte jedoch ein anderer ‚Berührungspunkt‘ sein: derjenige zwischen dem Mädchen, dem Gitter und der weißen Wolke. Blickt das Mädchen eigentlich zwischen den Stäben hindurch, oder hat es nicht vielmehr die Gitterstange unmittelbar vor seinem Auge? Manet hat diese entscheidende Stelle nachträglich modifiziert. Er veränderte die Position der Gitterstangen, die nun in der Bildmitte kleinere Abstände aufweisen als zu den Seiten hin, außerdem korrigierte er das Profil des Mädchens, das ursprünglich die Gitterstange ganz überdeckte. Damit schuf er die jetzige Konstellation, in der die Stange das unsichtbare Auge abzudecken scheint. Die Wolke, in die das Mädchen blickt, befindet sich nicht im offenen Raum hinter den Gitterstangen, sondern hängt zwischen diesen. Unmittelbar oberhalb des Mädchenkopfes wird dies besonders deutlich: Das Weiß setzt sich nicht hinter den Gitterstäben fort, ja berührt sie nicht einmal, sondern läßt einen schmalen braunen Streifen des Hintergrundes stehen. Offensichtlich hat Manet die Wolke zuletzt ins Bild gemalt, indem er die Intervalle zwischen den Stäben ausfüllte. Das aber heißt, daß Manet weniger etwas gemalt als vielmehr etwas ausgelöscht hat. Hier ist nicht gemalt, was man sieht, noch ist gemalt, was man nicht sieht: Es ist gemalt, daß man nicht sieht.
Obgleich jede Beschreibung des Bildes fast zwangsläufig davon spricht, das Mädchen schaue in eine Wolke hinein, wird ebenso deutlich, daß diese Wolke in erster Linie bloße weiße Farbmaterie ist. Wie aus Manets Bildtitel geschlossen werden kann, steht sie zwar für den Dampf, den ein in den Bahnhof Saint-Lazare – der sich weiter links außerhalb des Bildfeldes befände – einfahrender Zug ausstößt. Doch ähnlich wie bei der Schleife des Mädchens löst sich das Weiß von dieser denotativen Funktion, indem es nicht, oder zumindest unzureichend, auf einen außerbildlichen Referenten verweist. Das Weiß wird zu etwas und nichts zugleich – zu ’no/thing‘. Dieses ‚Nichts‘ läßt Illusion und Illusionsdurchbrechung, Täuschung und Enttäuschung zusammenfallen, da es die Darstellung genau dort auslöscht, wo es um ein Hindurchsehen ginge. Auf diese Weise wird die Wolke zur ‚mise en abîme‘ des Bildes. Sie verdoppelt das Bild, um es im gleichen Zuge wortwörtlich ‚zugrunde‘ gehen zu lassen.
Das Mädchen steht, wie eingangs beschrieben, innerhalb des Bildes für den Betrachter vor dem Bild, so wie auch die Gitterstäbe die Bildgrenze innerbildlich wiederholen. Das ‚Nicht-sehen‘ des Mädchens gilt demnach – zumindest teilweise – auch für den Betrachter. Dem Paradox der Malerei, das Die Eisenbahn entfaltet, geht das Paradox ästhetischer Erfahrung parallel, daß das Bild einen dort ‚anzublicken‘ scheint, wo es am äußerlichsten und materiellsten erscheint: an den Stellen, wo die Repräsentation kollabiert und das Bild zugrunde geht. Indem die weiße Wolke oder auch die blaue Schürze sich als Negatives im Bild selbst manifestieren, verschlagen sie einem die Sprache, verschlagen sie einem das Bild. Gerade in diesen Augenblicken aber ’subjektiviert‘ sich das Bild, sind wir selbst im Bild ‚anwesend‘. Zielt das pragmatisch orientierte Sehen darauf ab, das Sehfeld als plastisch gegliederten Raum zu strukturieren, so wird hier, im Zentrum des Bildes, jegliche Plastizität neutralisiert. Das Sehen wird auf seinen Grund zurückgeführt – auf einen Grund, der ‚formlos‘ und ‚unmenschlich‘ ist.
Vor ein paar Jahren gelang es Juliet Wilson-Bareau, die Hausfassade in der linken oberen Bildecke als Außenseite von Manets neubezogenem Atelier in der Rue de Saint-Pétersbourg zu identifizieren: Dieses Atelier habe hinter dem Fenster, das sich an die äußerste Gitterstange schmiege, gelegen. Das Detail bestätigt der Entdeckerin den Realismus des Bildes. Was es zeige, habe Manet von seinem Standort, den er im Garten des befreundeten Malers Alphonse Hirsch bezog, tatsächlich genau so sehen können. Denn von dort aus seien nicht nur die zum Bahnhof Saint-Lazare führenden Gleise, sondern eben auch die Fassade des neuen Ateliers zu erblicken gewesen. Damit scheint sich der bislang rätselhaft gebliebene Sinn des Bildes zu entschlüsseln. Es feiere, so Wilson-Bareau, das neue Atelier und verweise zugleich auf das eigene malerische Vorgehen, das auch bei einem so offensichtlichen Plein-air-Bild, wie Die Eisenbahn es sei, auf der Atelierarbeit basiere. Manet, der „pariserischste aller Maler“, habe mit dem Gemälde einen Beweis dafür geliefert, wie wichtig ihm der Bezug seiner Malerei zum städtischen Umfeld gewesen sei. Genau wie auch das übrige Œuvre spiegle es das sich verändernde Gewebe der Stadt – in diesem konkreten Falle den Einzug der Eisenbahn in das Weichbild des alten Paris – sowie die verschiedenen sozialen und politischen Kräfte, welche die Stadtgeschichte formten.
Doch wie schon das ‚Nichts‘ der Wolke die Eisenbahn und all das, wofür diese in verkehrstechnologischer, urbanistischer und sozialer Hinsicht steht, gerade nicht zeigt, bezeugt auch das Detail der Atelierfassade weniger den Realismus des Bildes, sondern bestätigt vielmehr dessen selbstreflexiven Charakter, der den Eigensinn der Malerei und ihrer Erfahrung herausstellt. Vergegenwärtigt man sich, daß zwischen dem Gitter und der Fassade ausgedehnte Gleisanlagen liegen, wird offensichtlich, um wieviel zu nahsichtig letztere wiedergegeben ist. Die Weite des Raums wird auf der rechten Bildseite deutlich, an den Details eines Bahnwärterhäuschens und zweier Gleisarbeiter, vor allem aber an der Entfernung der Häuserzeile, welche die Atelierfassade eigentlich fortsetzt. Die Außenseite von Manets Atelier wirkt demgegenüber gleichsam ins Bild eingeblendet – neben der Wolke erscheint sie als ein weiteres ‚Bild im Bild‘. Wenn wir uns den Malprozeß vergegenwärtigen, dann kehrt hier zudem die antagonistische, die Wendungen nach innen und nach außen verklammernde Bildstruktur auf anderer Ebene wieder. Manet malt die Außensicht des Raumes, in dem das Bild entsteht. Er malt den Ausblick zum Fenster hin, hinter dem er sich während des Malens befindet – und von wo aus umgekehrt der Ort zu sehen wäre, an dem das Mädchen steht und hinüberschaut. So befindet sich der Maler zugleich ‚da‘ und ‚dort‘, drinnen und draußen, vor dem Bild und zugleich hinter dem Fenster, das im Bild erscheint. Die Blindheit von Manets Atelierfenster erscheint dabei wie ein letzter Hinweis darauf, daß Malen für Manet keineswegs bedeutet, einen geeigneten Standpunkt zu beziehen, um dann zu malen, was man sieht, so wie es die realistischen Lesarten des Bildes suggerieren, die das Bild als Fortsetzung des soziopolitischen oder literarischen Pariser Großstadtdiskurses mit anderen Mitteln begreifen.
In Manets Gemälden konfligieren ‚Sehen‘ und ‚Erkennen‘ durch die Unbestimmtheit der Relationen innerhalb des Bildes wie auch zwischen Bild und Betrachter. Die zentral gesetzten Leerstellen wirken als ‚Nullpunkte der Malerei‘, welche die Malerei qua Diskurs, Logos oder Erkenntnis auslöschen, im selben Zuge aber qua Erfahrung des Außersemiotischen, des Unaussprechlichen und des faszinierten Blicks in ihrer Potentialität herausstellen. Manets Malerei prägt eine Dialektik von Versprechen und Versagung. Die Eisenbahn läßt das Sehen erblinden, und dies anhand des Motivs eines Ausblicks und eines Mädchens, das sich in diesen Ausblick vertieft. Die Provokation der Erschießung Maximilians wiederum liegt darin, die Erwartung eines geschlossenen Bildsinns ausgerechnet mit einem Historienbild, dem Musterfall eines sinnfälligen Figuren- und Ereigniszusammenhangs, zu unterlaufen. Der in den Gemälden eröffnete Widerstreit zwischen Ästhetischem und Epistemischem bezeugt, daß Manet zu den entschiedenen Verfechtern malerischer Autonomie gehört. Mit vielen anderen Malern seiner Zeit teilt er das Anliegen, alles im weitesten Sinne ‚Literarische‘ aus der Malerei auszustoßen. Diese soll auf keinen Text rückführbar sein, ja noch nicht einmal auf einen heteronomen ‚Diskurs‘, der von außen bestimmen könnte, wonach sich ihre Herstellung und ihre Betrachtung zu richten haben. Daraus erklärt sich die zunehmende Tendenz zur ‚Offenheit‘ und zum ‚Unvollendeten‘, das sich in der Malerei dieser Zeit zu manifestieren beginnt. Denn beides unterläuft die Möglichkeit, dem Bild eine bestimmte Aussage entnehmen zu können, und fordert den Betrachter auf, die dem Werk inhärente Polysemie zu erforschen, ohne sie je ausschöpfen zu können. In diesem größeren Feld aber besteht Manets Eigenart darin, ebenjenen heteronomen ‚Diskurs‘ nicht einfach von vornherein auszugrenzen, so wie es jene Impressionisten praktizieren, die den Gang in die Natur als Gegenentwurf zur städtischen Zivilisation begreifen. Vielmehr ruft er ihn im Bild ausdrücklich auf, um ihn vor unseren Augen abbrechen zu lassen.