Manet Velázquez Krise Spanien Reise

Manets Reise zu Velázquez als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 2.281 KB)

spacer

Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie

in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.

Einleitung

In seinem Essay über Vorgestellte Reisen erinnert Gert Mattenklott an die Möglichkeit, schon vor dem Antritt einer Reise zu erkennen, daß man das Beste daran schon hinter sich hat. Sein Beispiel ist Joris-Karl Huysmans‘ Romanfigur des Esseintes. Dieser sah sich bei einer Kutschenfahrt durch den Pariser Nebel und dem Besuch eines englischen Restaurants im Bahnhofsviertel so entschieden nach London versetzt, daß er zu der Überzeugung kam, die Wirklichkeit könne dahinter nur zurückbleiben. Beruhigt nahm er seine Koffer und fuhr nach Hause, denn: „Wozu sich bewegen, wenn man so herrlich in einem Stuhl reisen kann?“ Zur selben Überzeugung hätte auch Édouard Manet kommen können, als er 1865 eine Spanienreise zu planen begann, so gründlich hispanisiert war das damalige Paris und so lebendig das innere Spanien, das er sich selbst geschaffen hatte. Aus welchen Gründen er dennoch fuhr, ist das Thema der folgenden Ausführungen. Zu schildern gibt es allerdings weder einen dramatischen Reiseverlauf noch denkwürdige Vorkommnisse unterwegs, denn äußerlich war die Reise ereignisarm. Als um so komplexer erweist sich deren innere, psychische Dimension. Die Reise galt der längst verstorbenen Malerpersönlichkeit des Velázquez, deren Nähe Manet im Augenblick einer tiefen künstlerischen und persönlichen Krise suchte. Daß es Manet nicht nur um das Studium von Velázquez‘ Meisterwerken im Prado ging, sondern daß er deren Schöpfer hier endgültig als eine ‚innere Figur‘ installierte, mit der er in seiner Malerei dialogisierte, ist die nachfolgend auszuführende These. Um Manets Spanienreise als Ausdruck einer Krise wie auch als Weg zu ihrer Bewältigung zu begreifen, ist mancher ‚Umweg‘ erforderlich, der vom Reisethema im engeren Sinne wegführt.

Punkt Manet Velazquez Einleitung
Manet Velazquez Kapitel I: Spanien in Paris
Kapitel II: Der Zögling Goyas
Kapitel III: Maître Velázquez
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2
Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität
spacer
Manets Reise zu Velázquez als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 2.281 KB)

Max Beckmann Expressionismus Existenzialismus Exil

Beckmann „Die Reise“ als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 3.121 KB)

spacer

Max Beckmann: Die Reise (1944)

in: Expressiv! Expressive Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Katalog Fondation Beyeler, München/New York 2003, S. 122-123.

Beckmanns Expressionismus ist ein Existenzialismus. „Dieser unendliche Raum“, schreibt er 1915, „dessen Vordergrund man immer wieder mit etwas Gerümpel anfüllen muss, damit man seine schaurige Tiefe nicht so sieht. Was würden wir armen Menschen machen, wenn wir uns nicht immer wieder eine Idee schaffen würden von Vaterland, Liebe, Kunst und Religion, mit der wir das finstre schwarze Loch immer wieder so ein bisschen verdecken können. Dieses grenzenlose Verlassensein in der Ewigkeit. Dieses Alleinsein. “ Beckmanns Weltbild prägt sich in den Verheerungen des ersten Weltkriegs, später als Exilant des Dritten Reiches in Paris und Amsterdam. Er wird zum Maler der Conditio humana seiner Epoche, die er in einer Mischung aus Sachlichkeit und allegorischer Chiffrierung zu erfassen versucht. Die Malerei bedeutet für Beckmann aber nicht allein die Darstellung menschlicher Existenz, sondern vielmehr die eigentliche Konkretion, die sich der von ihm als unwirklich und gespenstisch erfahrenen Wirklichkeit entgegensetzen lässt, ihm „Sicherheit gibt gegen die Unendlichkeit des Raums.“

Im traumartigen Bild Die Reise (Öl auf Leinwand, 90 x 145 cm, Privatbesitz) verdecken ein Figurenfries und eine bildparallel geführte Eisenbahn das Nirgendwo, in dem sich die Szene abspielt, die „schaurige Tiefe“, die an den Bildrändern und in der Lücke zwischen Lokomotive und Waggon gleichwohl sichtbar wird. Aus dem Zug winken uniformierte Männer heftig erregt den auf dem Bahnsteig wartenden Menschen zu, einem Hotelboy, einer Krankenschwester sowie zwei Prostituierten. Letztere dürften zugleich, wie die Koffer zu lesen geben, als Allegorien zweier wichtiger Lebensorte Beckmanns zu deuten sein: Berlin und Paris. An der Seite der „Berlinerin“ sitzt eine verhüllte, weinende Frau – sowohl ein Sinnbild der Zerstörung der Stadt als auch von Beckmanns Unvermögen, dorthin zurückzukehren. Nicht nur das Gestikulieren der Uniformierten, sondern auch die Bewegungsrichtungen der beiden Frauen laufen diametral auseinander. Während die „Berlinerin“ sich abwendet, scheint die „Pariserin“ dem Zug dorthin nachzuwinken, wohin er aufbrechen wird. Dadurch wird das Bild von seiner Mitte her förmlich zerrissen. Mit dem Aufbruch verbindet sich keine in die Zukunft weisende Zuversicht. Eher droht dieser die labile Gegenwart zu zerbrechen und das Wenige an Raum, das durch die Plastizität und die Figurenkonstellation entstanden ist, wieder aufzulösen. Zur Entstehungszeit des Bildes, 1944, als die Deutschen an allen Fronten zurückgeschlagen werden, denkt Beckmann über die Emigration in die Vereinigten Staaten nach. Eine Rückkehr ins zerstörte Deutschland lehnt er ab, den gescheiterten Versuch der Vorkriegsjahre, sich in Paris durchzusetzen, wird er nicht wiederholen. Die Reise allegorisiert den Aufbruch zu einem dritten, ungewissen Ort.

Bewegung und Stillstand, angstvolles Verharren und Vorwärtsstürmen fliessen ineinander. Möglich wird dies durch die ornamentalen Lineamente, welche die Figuren in großzügigen Schwüngen übergreifen. Beckmann legte seine Bilder zunächst mit Kohlestrichen an, die er aus dem vollen Schwung des Armes direkt auf die Leinwand zeichnete und im Verlauf des Malprozesses durch Konturen aus Ölfarbe ersetzte. Das Verfahren erzeugt Kontinuität und Diskontinuität in einem. Die in dichtem Schwarz um die Figuren gelegten Konturen verbinden die einzelnen Bildelemente miteinander, schneiden aber auch lauter isolierte Bildflächen aus, über deren Farbe und Erscheinungsweise je einzeln entschieden wird – was den für Beckmanns Spätwerk typischen Glasfenster-Effekt erzeugt. Dem Widerstreit zwischen linearer Kontinuität und farblicher Diskontinuität gesellen sich weitere Antagonismen hinzu: zwischen leuchtender, beinahe pastellener Farbigkeit und dichtem Schwarz, zwischen ornamentaler Flächigkeit und stellenweise fast greifbarer Plastizität, zwischen der Gravität der Körper und der Leere des Raums. Dies alles steigert den Widerstreit in der Figurengruppe, der durch die auseinanderlaufenden Bewegungsimpulse und die divergierenden Verhaltensformen der Figuren aufbricht. Beckmanns Bild baut einen physischen und psychischen Druck auf, der das Bild beinahe beben lässt. „Auf der Suche nach der Heimat, aber er hatte sein Daheim auf dem Wege verloren“, notiert Beckmann im Januar 1943 in sein Tagebuch; und wenig später, ebenso trotzig wie resigniert: „Den festen Entschluss – trotz gehen oder nicht gehen – dieses Leben zu Ende zu leben.“

Zola Manet Moderne Form Informe

Manet Zola als Druckversion (PDF mit Abb. 635 KB)

spacer

Das Fleisch des Malers. Manet malt Zola, Zola schreibt über Manet

in: Magazin der Basler Zeitung, Nr. 13, 3.4.1999, S. 6-7.

Kapitel V: Der Aspekt der Peinture

Tatsächlich erscheint mir Zolas Manet-Deutung dort am originellsten zu sein, wo er – unfreiwillig – an die Grenzen des Verstehens und der Sprache kommt, wo sich in seiner platten Genieästhetik und seinem wissenschaftsgläubigen Optimismus Löcher zeigen. Gleichwohl vermag die Thematisierung des „Unförmigen“, die sich bei Zola ankündigt und die künstlerische Moderne wie ein Schatten begleiten wird, höchstens einen Aspekt von Manets Bildern zu erfassen. Denn jedes moderne Kunstwerk ist, in jeweils unterschiedlicher Gewichtung, zugleich „unförmig“ und Form, Verweigerung und Ermöglichung der bildnerischen Darstellung.
Gerade das Bildnis Zolas erlaubt es, den bei Manet so augenfälligen Aspekt der malerischen Gestaltung, den Aspekt der „Peinture“ zu erkennen, die von Poussin bis Matisse das Lebenselixier der französischen Kunst ist. Und schliesslich gilt für das „Unförmige“, dass auch dieses in der Kunst nur als Effekt möglich ist, das heisst als das Paradox eines kalkulierten Unförmigen.
Man löst sich nur ungern davon, sich die Begegnung grosser Köpfe der Vergangenheit als geistige Gipfeltreffen vorzustellen. Zola und Manet waren einander zweifellos von Nutzen und haben sich mit der Hilfe des jeweilig anderen profiliert. Doch ihre Persönlichkeiten und Interessen waren wohl zu verschieden, um sich verbinden zu können. Zolas maskenartiges Gesicht und der abwesende Blick, der sich von der bezaubernden Umgebung abwendet und auf anderes richtet, bleibt in Manets Bildnis stehen als Ausdruck der Fremdheit, die die beiden trennt.

Kapitel I: Einleitung
Kapitel II: Zolas Kunstauffassung …
Kapitel III: … auf Manet angewendet
Kapitel IV: Das Bild als Artefakt
Manet Zola Kapitel V Kapitel V: Der Aspekt der Peinture
spacer
Manet Zola als Druckversion (PDF mit Abb. 635 KB)

Zola Manet Velazquez Japanischer Farbholzschnitt

Manet Zola als Druckversion (PDF mit Abb. 635 KB)

spacer

Das Fleisch des Malers. Manet malt Zola, Zola schreibt über Manet

in: Magazin der Basler Zeitung, Nr. 13, 3.4.1999, S. 6-7.

Kapitel IV: Das Bild als Artefakt

Manet gibt Zola den eleganten und gleichwohl deutlichen Wink, dass den Bezugsrahmen seiner Bilder nicht allein die „Schöpfung“ und sein „Temperament“ bilden, sondern dass sich dazwischen der „Filter“ anderer Bilder schiebt, das heisst bereits bestehende künstlerische Formulierungen, an denen er sich orientiert. Vor allem mit Velásquez hat er sich durch sein ganzes Werk hindurch auseinandergesetzt. Nach der Rückkehr von seiner Spanienreise 1865 schreibt er an einen Freund, was alleine die Reise gelohnt habe, sei das Werk von Velásquez gewesen. Dieser sei der „der Maler der Maler“, in dessen Werk er die Realisation seines Ideals in der Malerei gefunden habe. Eine Zeichnung von 1876 zeigt eine phantasmagorische Überblendung des eigenen Ateliers mit demjenigen Velásquez in den „Meninas“, und die Haltung, in der sich Velásquez dort darstellt, ahmt Manet nach, als er 1879 ein Selbstportät malt.

Der spanische Meister ist künstlerisches Vorbild und Alter ego zugleich. Was ihn an Bildern wie den „Trinkern“ fasziniert haben dürfte, sind Eigenschaften, die in Manets Kompositionen wiederzufinden sind, so etwa die Spannung zwischen dem konfrontierenden, durch Blicke aus dem Bild akzentuierten Betrachterbezug und der gleichzeitigen streng bildparallelen, friesartigen Aufreihung der Figuren, die den Tiefenraum an die Bildfläche zurückbindet. Und auch Velásquez Bilder zeichnet die Dialektik von Konzentration und Zerstreuung, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit aus – Aspekte, die er in den „Meninas“ zum Höhepunkt führt.

In einem anderen Brief, den Manet noch aus Madrid schreibt, findet sich eine Stelle, die die Brücke zum japanischen Farbholzschnitt schlägt. Velásquez‘ aussergewöhnlichstes Bild, schreibt Manet, sei das Porträt eines Schauspielers, bei dem der Hintergrund verschwinde und der von nichts als Luft umgeben sei. Tatsächlich zeigen sich zwischen Velásquez „Pablo de Valladolid“ und dem japanischen Farbholzschnitt erstaunliche Parallelen. Der „skandalöse“ Modernismus der Olympia, Velásquez caravaggeskes Frühwerk und fernöstliche Grafik: Was kunsthistorisch nicht leicht zusammenzubringen ist – die Rede vom verbindenden „Realismus“ besagt wenig -, verbindet sich in Manets bildnerischem Denken und ist im“Bild im Bild“ des Bildnisses Zolas auch grossartig ineinanderkomponiert.

Aufgrund der Divergenzen von Zolas und Manets Bildauffassungen führt das „heimliche Selbstbildnis“ (Emil Maurer), das Manet dem Bildnis Zolas unterschiebt, zwangsläufig zu einer deutlichen Korrektur Zolas. Die „Lehre“ dieser Korrektur lautet: Ein Bild ist, vor allem anderen, ein Artefakt, und als solches steht es nicht nur im weiten Zusammenhang der Menschheitsgeschichte und Gottes Schöpfung, sondern vor allem im wesentlich konkreteren Zusammenhang der Geschichte der Kunst und ihrer jeweiligen bildnerischen Verfahren.

Was am Bildnis Zolas ins Auge fällt, ist der insistierende Verweis auf das Bild als Bild. Zum einen geschieht das durch die Komposition, die mit dem Netz der Orthogonalen, den bildparallelen Flächen und der Ausschnitthaftigkeit die „Bildlichkeit“ des Sichtbaren an jeder Stelle manifest werden lässt. Das Bild ist nicht Sein – „Natur“, „Fleisch“ oder „Temperament“ – sondern Erscheinen, und zwar nicht nur von etwas, sondern immer auch seiner selbst.

Zum anderen geschieht es durch das Motiv des „Bildes im Bild“, das das Bildnis Zolas zu einem Beispiel von „Meta-Malerei“ macht. Gewiss hat Zola Manet darin richtig beschrieben, dass er ihn im Bemühen sieht, aus der Boudoir-Malerei des offiziellen Salons auszubrechen und die Kunst auf die Höhe der Zeit zu bringen. Noch heute werden Bilder wie das „Frühstück im Freien“ oder die „Olympia“ oft als „Geburt der Modern“ angesehen. Doch vereinseitigt Zola Manets Modernität, indem er sie als strikten Empirismus des Sehens und als „Vergessen“ der Tradition begreift.

Manets Bilder zeichnen sich durch die Dialektik aus, die Krise der offiziellen Malerei des Salon durch den Rückgriff auf bildnerische Lösungen der Tradition – auf Velásquez, Giorgione, Tizian und andere – zu überwinden. Darin ist Manet Cézanne vergleichbar, dessen Ziel es ebenfalls war, unter den Bedingungen der Moderne mit dem gleichzuziehen, was er die „Kunst der Museen“ nennt, und die sich für ihn in Poussin oder Veronese inkarniert. Was Cézanne dabei als das Problem der „Realisation“ beschreibt, meint nichts anderes als die Schwierigkeit, diesen historischen Spagat zu vollziehen.

Als der alternde Zola es 1896 ein letztes Mal unternimmt, über den Salon zu schreiben, wird er die Geister, die er rief, nicht mehr los:

„Ach, wie viele Lanzen habe ich für den Triumph des Farbflecks gebrochen! Aber hätte ich den schrecklichen Missbrauch vorhersehen können, der nach dem Sieg der so richtigen Theorie des Künstlers mit dem Fleck getrieben werden sollte? Im Salon gibt es nurmehr Farbflecken, ein Porträt ist nurmehr ein einziger Fleck, Figuren sind nurmehr Flecken, nichts als Flecken sind Bäume, Häuser, Kontinente und Meere. Man gelangt übergangslos vom Beitrag eines Malers, der einfach ein Nebeneinander von weissen Flecken ist, hin zum Beitrag eines anderen Malers, der ein Nebeneinander von schwarzen Flecken ist. Es ist scheusslich, scheusslich, scheusslich.“

Es wird den Nachfolgenden vorbehalten bleiben, eine Verbindung zwischen einer Auffassung der künstlerischen Konzeption als „unbewusst“ und der Unförmigkeit des „Flecks“, der dabei entsteht, zu ziehen. Zola berührt eine Grenze, die im 20. Jahrhundert in vielfacher Weise thematisch wird. Wir finden sie bei Künstlern des „Unförmigen“ wie Jean Dubuffet, der 1950 eine Paraphrase der „Olympia“ malt, die jetzt tatsächlich ein zum Fleck zerdrückter Körper zu sein scheint, sowie in den Texten Georges Batailles, des frühen Jean-Paul Sartre, Jacques Lacans oder des späten Roland Barthes.

Kapitel I: Einleitung
Kapitel II: Zolas Kunstauffassung …
Kapitel III: … auf Manet angewendet
Punkt Manet Zola Kapitel IV Kapitel IV: Das Bild als Artefakt
Manet Zola Kapitel V Kapitel V: Der Aspekt der Peinture
spacer
Manet Zola als Druckversion (PDF mit Abb. 635 KB)

Zola Manet Genieästhetik Positivismus Porträt

Manet Zola als Druckversion (PDF mit Abb. 635 KB)

spacer

Das Fleisch des Malers. Manet malt Zola, Zola schreibt über Manet

in: Magazin der Basler Zeitung, Nr. 13, 3.4.1999, S. 6-7.

Kapitel III: … auf Manet angewendet

Gerade von diesem „Wie“, das in der Moderne stets die Reflexion der künstlerischen Darstellungsmittel einschliesst, hat Zola aber keinen Begriff. So ergibt sich für ihn die Schwierigkeit, zu formulieren, was Manets Bilder zeigen. Er argumentiert zunächst negativ. Manet gehe es nicht länger um die Suche nach absoluter Schönheit. Er male weder die Geschichte noch, die Seele, weder diesen Gedanken, noch jene historische Tat. Was man Komposition nenne, existiere für ihn nicht. Der Betrachter müsse vorgehen, so heisst es weiter, wie der Künstler selbst vorgegangen sei. Er müsse die Schätze der Museen und die Regeln der Kunst vergessen, die Erinnerung an all die Bilder der toten Malern verscheuchen: „Er muss nur noch die Natur sehen, wie sie ist.“

Die Behauptung künstlerischer Unmittelbarkeit gerät jedoch zwangläufig in Aporien hinein. Eine direkte Darstellung der Dinge ist ausgeschlossen. Doch die Umsetzung des Wahrgenommenen ins Medium des Bildes trifft auf Gesetze und Eigenschaften dieses Mediums, die notwendig anerkannt werden müssen, wenn darin etwas zur Erscheinung kommen soll. Das Bild ist kein transparentes Medium, sondern der materielle Faktor, der das, was das Bild zeigt, bestimmt. Wie also bestimmt Zola positiv, was ein Bild Manets in seiner Unmittelbarkeit zu sehen gibt? Wie ein Refrain wiederholt Zola die „Aufrichtigkeit“ und „Schlichtheit“ der Darstellung, die die Realität der Dinge wahrhaftig wiedergebe. Doch das eigentlich Auffällige liegt in der Insistenz, mit der er von den „grossen Farbflecken“, den „Massen“ und „einfachen Stücken“ spricht, in die sich die Dinge in Manets Sehen transformierten. Nicht nur die Olympia wird als „blasser Fleck vor schwarzem Hintergrund“ beschrieben. Die eine Frauengestalt des Frühstücks im Freien bilde „inmitten des Grüns einen wunderbaren weissen Fleck“. Ein Kopf vor einer Wand sei „ein mehr oder weniger weisser Fleck auf einem mehr oder weniger grauen Hintergrund“, die Bekleidung der Figur werde zu einem „blauen Fleck neben dem weissen“.

Die ganze Persönlichkeit des Malers, so lautet die Erklärung für diese Verwandlung, bestehe in der Organisationsweise seines Auges: „Er sieht hell, und er sieht grossflächig.“ Und als er sich fragt, „was dies alles bedeuten soll“, gibt er die bereits zitierte Antwort: „Sie wissen es nicht so recht und ich auch nicht.“ Inmitten der Mischung aus romantischer Genieästhetik und positivistischem Wissenschaftsglauben, die Zolas Manet-Deutung prägt, blitzen Georges Batailles berühmte Sätze zur „Olympia“ auf, die dieser fast hundert Jahre später schreiben wird:

„Was das Bild bedeutet, ist nicht der Text, sondern dass es ihn auslöscht. Diese Frau ist Nichts. Was sie ausdrückt, was sie ist, ist der ‚heilige Schrecken‘ ihrer Gegenwart, deren Einfachheit die der Abwesenheit ist.“

Die Aporie des Sprechens von der „Unmittelbarkeit“ mündet in ein „das da“, das keinen Namen hat, in einen „bedeutungslosen Fleck“, ein „Nichts“. Das erscheint als die zwangsläufige Konsequenz einer Theorie, die die Wahrnehmung wie zugleich auch die Entstehung eines Kunstwerks ins dunkle Innere des Subjekts verlegt, wo sich die Lichtstrahlen der Realität nach Massgabe eines physiologischen und psychologischen „Mechanismus“ brechen.

Manets Bildnis Zolas zeichnet sich durch mehrere Funktionen aus. Es ist erstens der Dank für die vom Porträtierten erfahrene Unterstützung, zweitens ein Literatenbildnis und drittens eine „gemalte ästhetische Deklaration“ (Emil Maurer). Mit dieser dritten Funktion scheint Manet die Gelegenheit ergriffen zu haben, das eigene Verständnis seiner Kunst in Abgrenzung von Zola darzulegen.

Das Gemälde rückt den etwa in Lebensgrösse gezeigten Schriftsteller hart an den Bildrand heran. Auf dem streng bildparallel gegebenen Sessel sitzt er aufrecht und selbstbewusst, den Kopf ins Profil gewendet. Zola wendet sich von seiner Lektüre ab, nicht jedoch dem Betrachter zu. Dieser in unbestimmte Ferne gerichtete Blick ist bemerkenswert, da uns aus Manets Bildern meistens ein konfrontierender Blick trifft.

Mit diesem Kunstgriff vermittelt Manet Nähe und Ferne der Figur, ausserdem vermeidet er jeglichen Eindruck des Posierens. Indem sich Zolas Aufmerksamkeit auf etwas richtet, das wir nicht sehen können, entzieht sich uns die Figur als ganze. Umso deutlicher sind uns die Dinge „zugewandt“, die Zola umgeben. Vor dem dunklen Fond entfalten sie eine leuchtende, beinahe schwebende Präsenz. Sie verstärkt sich durch die Umkehrung der klassischen Farbordung, denn sie alleine, nicht aber die Figur, sind die Träger der Buntwerte im Bild. Obgleich sie räumlich hinter der Figur liegen, treten sie optisch nach vorne, auf die Ebene der Figur. So entsteht eine Oberflächenspannung, die an die Stelle einer tiefenräumlichen Bildordnung tritt. Die Gestaltung dieser Oberfläche ist in höchstem Masse kalkuliert. Die auffälligen Horizontalen und Vertikalen spielen auf das Rechteck des Bildfeldes an. Sie begrenzen zugleich Gegenstände, die die Bildfläche innerbildlich wiederholen: den japanischen Wandschirm, das knapp sichtbare Bild oben links oder den Grafik-Steckrahmen. Ein paar Schrägen durchbrechen das orthogonale Liniengeflecht. Raumerschliessend wirken sie sich allerdings kaum aus. Sie dienen vielmehr dazu, die verschiedenen Bildzonen miteinander zu verbinden. So wird durch eine solche Schräge die Sessellehne über das Buch mit der Schreibfeder auf dem Tisch verbunden, um dort rechtwinklig umzuspringen und zum Steckrahmen zu führen. An dieser kompositorischen Gelenkstelle befindet sich die blaue Broschüre, die Zolas Manet-Essay enthält, und dessen gut lesbarer Titel dazu dient, das Bild indirekt zu signieren.

Kennzeichnend für Manets Gemälde, die von dieser Zeit an entstehen, sind die Überschneidungen der Bildgrenzen. Im Bildnis Zolas sind alle wesentlichen Bildelemente angeschnitten, links der Paravent, oben das Gemälde, rechts der Steckrahmen und der Tisch, unten der Sessel und die Beine Zolas. So entwickelt das Gemälde einen paradoxen Betrachterbezug. Die bildparallele Ausrichtung der Darstellung nimmt gleichsam konfrontierenden Bezug auf den Betrachter. Gleichzeitig wird der Blick, der lotrecht auf das Gemälde trifft, konsequent in die Fläche umgelenkt und gleichsam zentrifugal an die Bildränder geführt. Die illusionistische, tiefenräumliche Überschreitung des Bildes kollidiert mit der anti-illusionistischen, die materielle Fläche betonenden Ausschnitthaftigkeit. Nicht nur der Blick Zolas, sondern auch die jeweils vom Bildrand unterbrochenen Dinge zeigen an, dass es jenseits des Bildfeldes etwas zu sehen gäbe, das durch dessen Beschränkung notwendig unsichtbar bleibt.

Fassen wir diese Beobachtungen zusammen, so lässt sich von einer Spannung zwischen Konzentration und Zerstreuung sprechen, die gleichermassen Zolas Gesichtsausdruck wie die Erscheinung des Bildes als ganzes prägt, und zwar vom Detail des Broschüren-„Fächers“ über die lineare Komposition bis zur Verteilung der Farbe. Manet arbeitet sein Leben lang an diesem balancierenden Bildkonzept, verfeinert es immer weiter. Es ist sein Verfahren, dem „Augenblick des Sehens“ eine – gänzlich unimpressionistische – Form zu geben.
Manet suchte in der Kunst der Tradition wie auch der eigenen Gegenwart nach Formulierungen, die ihm dafür behilflich sein konnten. Der Rahmen, in dem drei Drucke stecken, ist als „Bild im Bild“ eine der kostbaren Stellen in Manets Œuvre, die von diesem wichtigen Aspekt spricht. Es ist bezeichnend, dass Zola in seiner Beschreibung des Porträts über dieses „Bild im Bild“ hinweggeht – was angesichts der eingefügten Olympia, die Zolas Verteidigung dieses Bildes Tribut zollt, nur umso auffälliger erscheint. Im Steckrahmen wird die Olympia von einem Druck nach den Trinkern von Velásquez sowie einem japanischen Farbholzschnitt eines Ringers hinterfangen. Zwischen die „Natur des Künstlers“ und die „Natur des Sichtbaren“, die sich in Zolas Theorie zum Kunstwerk verbinden, schiebt sich eine Instanz, die Zolas „Naturalismus“ ausblendet. Die Olympia präsentiert sich vor dem Hintergrund bildnerischer Konzepte, die durch Velásquez und den japanischen Farbholzschnitt exemplarisch vertreten sind. Bildnerische Konzepte meint dabei Grundsätzlicheres als spezifische Vorlagen oder Quellen, da dann hinter der Olympia Tizians Venus von Urbino hervorschauen müsste, auf der sie unmittelbar basiert.

Kapitel I: Einleitung
Kapitel II: Zolas Kunstauffassung …
Punkt Manet Zola Kapitel III Kapitel III: … auf Manet angewendet
Manet Zola Kapitel IV Kapitel IV: Das Bild als Artefakt
Kapitel V: Der Aspekt der Peinture
spacer
Manet Zola als Druckversion (PDF mit Abb. 635 KB)

Zola Manet Kunsttheorie Temperament Naturalismus

Manet Zola als Druckversion (PDF mit Abb. 635 KB)

spacer

Das Fleisch des Malers. Manet malt Zola, Zola schreibt über Manet

in: Magazin der Basler Zeitung, Nr. 13, 3.4.1999, S. 6-7.

Kapitel II: Zolas Kunstauffassung …

Zum Höhepunkt kommt die Allianz der beiden im Jahr 1868. Manet stellt im Salon das Bildnis Zolas aus, Zola wiederum widmet Manet die Buchausgabe seines dritten Romans, „Madeleine Férat“. Die Übereinstimmung scheint perfekt. Nicht Zola, sondern höhere Mächte haben sie zusammengeführt. Es sei die Masse, die seine Freundschaft für Manet gewollt hätte, schreibt Zola in seiner Widmung.

Doch die Freundschaft ist asymmetrisch. So emphatisch Zola sie beschwört, so verhalten reagiert Manet. Auch wenn ihn Zolas Fürsprache inmitten der hagelnden Kritik tröstet, wird er sich in dessen Beschreibungen nur bedingt wiedergefunden haben. Neben den Briefen, die seine Zurückhaltung durch ihre Kürze und ihre allgemeinen Formulierungen bezeugen, ist das Bildnis Zolas der wichtigste Hinweis darauf. Im Grunde widerlegt es Zolas Kunst- und Manet-Verständnis Punkt für Punkt.

Zola entwickelt seine Kunstauffassung vor der Begegnung mit Manets Bildern, auf die er, wie er schreibt, seine Sichtweise der Kunst „bloss anwende“. In mancherlei Hinsicht ist sie wenig originell und greift auf gängige rhetorische Topoi der Kunstschriftstellerei zurück. Ihr Erfolg liegt jedoch in ihrer radikalen Einfachheit. Im Zuge einer vernichtenden Kritik an Pierre-Joseph Proudhons nachgelassenem Werk „Von den Grundlagen und der sozialen Bestimmung der Kunst“ spricht er sich gegen jede moralische oder politische Inanspruchnahme der Kunst aus. Der idealisierten Darstellung der Wirklichkeit, die nach Proudhon zu einer sittlichen und physischen Verbesserung der Menschheit führen soll, stellt er die Formel gegenüber, an der er Zeit seines Lebens festhalten wird: „Die Kunst ist eine Ecke der Schöpfung, gesehen durch ein Temperament.“ Moderner formuliert – als „Kunst ist die subjektive Sicht des Künstlers auf die Welt“ -, unterschrieben manche die Definition auch heute noch.

Zolas Standpunkt ist jedoch kein subjektivistischer Relativismus. Das Kunstwerk setzt sich aus zwei Elementen zusammen, dem Element der unveränderlichen Natur, das den Werken als gemeinsames Mass dienen kann, und dem Element des Individuellen, des „Temperaments“, das unbegrenzt veränderlich ist. Das „Temperament“, das Baudelaires romantische Kunsttheorie noch auf die Imagination des Künstlers bezog, versteht Zola als physiologischen und psychologischen „Mechanismus“ der Wahrnehmung. So sehr das Kunstwerk Ausdruck eines Individuums ist, so sehr vermag es gleichzeitig der Erkenntnis der Natur einen neuen Aspekt hinzuzufügen.

Zola entwirft eine grossartige Vision, in der sich die Dualitäten von Subjekt und Welt, Natur und Geschichte versöhnen. Er wünscht sich, die Gemälde aller Maler wären in einem riesigen Saal versammelt, in dem das Epos der menschlichen Schöpfung Seite für Seite gelesen werden könnte. Das Thema wäre stets die gleiche Natur, die gleiche Realität, und die Variationen die besonderen Weisen, mit denen die Künstler Gottes Schöpfung wiedergegeben hätten. Das Schöne zeigte sich hier nicht länger als ein absolutes, allgemeingültiges Mass.

„Das menschliche Leben selbst wird das Schöne, das menschliche Element, das sich mit dem unveränderlichen Element der Realität vermischt und eine der Menschheit gehörende Schöpfung hervorbringt.“

Der entscheidende Faktor in Zolas Formel scheint mir jedoch weder die „Schöpfung“ noch das „Temperament“ zu sein, sondern das, was beide zusammenbringt und zum Kunstwerk werden lässt – dieses unscheinbare „gesehen durch“ („vu à travers“). In einem langen Brief aus dem Jahr 1864 entwickelt Zola die dafür grundlegende „Filter-Theorie“.
„Jedes Kunstwerk ist wie ein Fenster, das auf die Schöpfung hin geöffnet ist. In die Fensteröffnung ist eine Art transparenter Filter eingepasst, durch den hindurch man die Objekte mehr oder weniger verändert erblickt. In einem Kunstwerk sehen wir die Schöpfung durch einen Menschen, durch ein Temperament, eine Persönlichkeit hindurch. Der Künstler setzt sich in den direkten Kontakt mit der Natur, sieht sie auf seine Weise, ist von ihr durchdrungen, und schickt sodann ihre Lichtstrahlen zurück, die er wie ein Prisma, entsprechend seiner Natur, bricht und färbt.“

Die Metapher vom Kunstwerk als „geöffnetem Fenster“ greift auf die klassische Definition des neuzeitlichen Bildes zurück, die Leon Battista Alberti in seinem Traktat „Über die Malerei“ (1435) prägt. Doch Zola verändert die Metapher auf bedeutsame Weise. Bei Alberti steht der Maler diesseits des Fensterrahmens, durch den hindurch er die Objekte erblickt, die er zu malen beabsichtigt. Das Bildfeld entspricht einem vertikalen Schnitt durch die Sehpyramide. Diese Dreiteilung von sehendem Subjekt, Rahmen des Sehens und gesehenem Objekt verkürzt Zola auf das Gegenüber von sehendem Subjekt als „Filter“ und gesehenem Objekt. Der „Filter“ liegt nicht länger zwischen dem Maler und der Welt, sondern die Persönlichkeit des Malers ist selbst dieser „Filter“. Somit kann, nach Zola, die Wahrnehmung unmittelbar ins Kunstwerk übergehen, und umgekehrt erblicken wir in einem Kunstwerk die Welt nicht durch ein Bild, sondern durch eine Persönlichkeit hindurch. Der „Filter“ im Inneren des Malers und die Leinwand des Bildes fallen zusammen, das Subjekt ist gleichsam auf den Rahmen des Bildes gespannt.

Damit erhält auch Zolas Diktum, Manets Bilder seien „das Fleisch und Blut des Malers“, eine andere Färbung. Denn die Schöpfung des Kunstwerks, die sich im Inneren des Künstlers im Augenblick der Wahrnehmung vollzieht, gleicht der Zeugung eines Kindes. Der Künstler müsse verstehen, schreibt Zola in einem Artikel über Hippolyte Taine, dass die Werke zärtlich geliebte Kinder seien, denen man sein Blut und sein Fleisch gäbe. Je mehr sie dabei ihren Vätern gleichten, desto berührender seien sie. Den Augenblick der „Zeugung“ eines Kunstwerks begreift Zola konsequenterweise als unbewusst – denn wie sollten wir ein Wissen davon haben, was wir im Augenblick der Zeugung entstehen lassen?
Eine solche Auffassung des Kunstwerks schliesst nun aber das Verständnis des Bildes als Artefakt, als bewusst Geschaffenes, aus. Was in Zolas Kunsttheorie fehlt, ist ein Verständnis des Bildes, das sich nicht allein dem Sehen, sondern vor allem dem konkreten Tun des Künstlers verdankt. Diese Feststellung mag erstaunen, gehört Zolas Manet-Deutung doch zu den frühen Beispielen einer „formalistischen“ Kunstauffassung, die das motivische „Was“ zugunsten des „Wie“ relativiert – für Manet sei, so Zola, das Sujet ein blosser „Vorwand zum Malen“.

Kapitel I: Einleitung
Punkt Manet Zola Kapitel II Kapitel II: Zolas Kunstauffassung …
Manet Zola Kapitel III Kapitel III: … auf Manet angewendet
Kapitel IV: Das Bild als Artefakt
Kapitel V: Der Aspekt der Peinture
spacer
Manet Zola als Druckversion (PDF mit Abb. 635 KB)

Zola Manet Salon Kunstkritik Olympia

Manet Zola als Druckversion (PDF mit Abb. 635 KB)

spacer

Das Fleisch des Malers. Manet malt Zola, Zola schreibt über Manet

in: Magazin der Basler Zeitung, Nr. 13, 3.4.1999, S. 6-7.

Kapitel I: Einleitung

Als Emile Zola 1867 seinen zweiten Roman „Thérèse Raquin“, eine Tragödie von Elend, Ehebruch, Mord und Selbstmord, veröffentlicht, sieht er sich den wüsten Beschimpfungen ausgesetzt, er habe eine Kloake, einen Kehrichthaufen, eine Schmutz- und Blutpfütze geboten. Der zweiten Auflage, die im Frühjahr 1868 erscheint, stellt er daher ein Vorwort voran, in dem er sein literarisches Verfahren rechtfertigt.

Er habe, schreibt Zola, ganz einfach die analytische Arbeit an zwei lebenden Körpern vorgenommen, wie sie Chirurgen an Leichen vornähmen. Es sei hart, wenn man nach einer solchen allein der Wahrheit verpflichteten Arbeit den Vorwurf der Leute höre, man habe keinen anderen Zweck verfolgt, als anstössige Szenen zu schildern. Er habe sich in der Lage eines Malers befunden, „der ohne den leisesten sinnlichen Gedanken nackte Körper wiedergibt und zutiefst erstaunt ist, wenn ein Kritiker seiner Entrüstung über die lebendige Dastellung des Fleisches Ausdruck gibt“.

Der Maler, an den Zola beim Schreiben dieser Zeilen denkt, ist Edouard Manet, dessen „lebendige Darstellung des Fleisches“ der „Olympia“ im Salon von 1865 ebenfalls heftige sittliche Empörung hervorrief.

Die Annäherung Zolas an Manet ist so stürmisch wie kalkuliert. In der ersten Kunstkritik, mit der er an die Öffentlichkeit tritt, den Berichten über den Salon von 1866, nimmt Zola den Maler mit Worten in Schutz, mit denen er sich im Vorwort zu „Thérèse Raquin“ ein Jahr später selbst verteidigen wird: Manet sei ein Künstler, der allein die Wahrheit suche, ohne dabei auf den Zeitgeschmack oder das moralische Empfinden Rücksicht zu nehmen. Zwar kennt er damals Manet und dessen Werke kaum, doch nach den Wirbeln um das „Frühstück im Freien“ und um die „Olympia“ weiss er um den Skandalwert dieses Namens.

Dem acht Jahre älteren Maler ist bereits gelungen, wonach der junge, ehrgeizige Zola sucht: mit Werken, die einer künstlerischen Revolution gleichkommen, ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu treten. Die erhoffte Wirkung tritt auch ein. Zolas Verteidigung des Malers bringt dem Herausgeber des „L’Événement“ eine solche Flut von Protesten ein, dass er ihm die Berichterstattung über den Salon entzieht. Im letzten Artikel verabschiedet sich Zola mit den pathetischen Worten, immer die Partei der Besiegten zu ergreifen. Zwischen den unbezähmbaren Temperamenten und der Masse bestehe ein offener Kampf, in dem er für die Temperamente einstehe und die Masse angreife. Sein Prozess sei entschieden, und er sei verurteilt worden.

Ein Jahr später lässt Zola eine längere Studie über Manet folgen, in der er nicht nur dessen Leben und Werke, sondern sich selbst als Richter beschreibt, der wegen seiner Unvoreingenommenheit zum Verfolgten der öffentlichen Meinung wurde. Zola schildert den Maler als kompromissloses Temperament und zugleich als „Kind seiner Zeit“, als „analytischen Maler“, der sich wie ein Wissenschaftler der exakten Beobachtung von Tatsachen zuwende:

„Ich behaupte“, heisst es von der Olympia, „dass dieses Gemälde wahrlich das Fleisch und Blut des Malers ist und dass er nie wieder etwas Vergleichbares erschaffen wird. In ihm kommt sein Temperament vollständig zum Ausdruck, und es enthält nur ihn. Auf weissen Leintüchern liegend, bildet Olympia einen grossen blassen Fleck vor dem schwarzen Hintergrund. Verehrter Meister, sagen Sie jenen doch, dass sie keineswegs das sind, was jene denken, und dass ein Bild für Sie ein blosser Vorwand für eine Analyse ist. Sie benötigten eine nackte Frau, und Sie haben Olympia, die erstbeste, gewählt; Sie benötigten schwarze Flecken, und Sie haben eine Negerin und eine Katze in einer Ecke untergebracht. Was soll dies alles bedeuten? Sie wissen es nicht so recht und ich auch nicht. Aber ich weiss, dass es Ihnen geglückt ist, die Wahrheit von Licht und Schatten, die Realität der Dinge und der Lebewesen kraftvoll in eine eigene Sprache zu übersetzen.“

Zola stilisiert Manet als Mitstreiter und Verwandten im Geiste. Für ihn führt Manet in die Malerei den „Naturalismus“ ein, den er in diesen Jahren als seinen Beitrag zur Literatur zu konzipieren beginnt und ab 1870 in den zwanzig Romanen des „Rougon-Macquart“-Zyklus verwirklichen wird.

Punkt Manet Zola Kapitel I Kapitel I: Einleitung
Manet Zola Kapitel II Kapitel II: Zolas Kunstauffassung …
Kapitel III: … auf Manet angewendet
Kapitel IV: Das Bild als Artefakt
Kapitel V: Der Aspekt der Peinture
spacer
Manet Zola als Druckversion (PDF mit Abb. 635 KB)

Rhetoric advertising art possibility openness

Probability as print version (PDF with illus. 8.639 KB)

spacer

Probability. On Rhetoric in Art

in: Daidalos 64, June 1997 (Special Issue „Rhetoric“), p. 80-89.

Chapter VI

Advertising is structured in such a way that, through the mere inclusion of verbal language, res and argumentum are articulated in contradistinction to one another. In an advertisement, it is possible to distinguish between the thing denotated and the thing connotated, i.e. between the subject of the advertisement (a car, a brand of beer), and the idea meant to be associated with it (freedom, coolness). What advertising employs is precisely not that convergence of fictive and real which allows the experience of art to remain autonomous and which Kant described as „disinterested pleasure.“ Advertising is concerned with making the statement: „if X (this car), then Y (freedom),“ in order to influence a decision in favor of X. In terms of both the means and the end, advertising is clearly closer to rhetoric than is art. Thus it is not surprising that attempts to develop a rhetoric of the image (e.g. by Roland Barthes) are based above all on advertising and not on art.

The fact that rhetoric has merely to do with probability and not with truth was seen, in an anti-rhetorical turn, as evidence of human impoverishment. Unable to recognize truth, humanity musters up rhetoric to compensate for this inability. A look at art, however, provides occasion to reverse the argument. As a single pearl-like strand of ‚possible worlds,‘ it bears witness to humanity’s wealth, its ability to creatively take up residence in the world. The ability to make art not only enables us to interpret the world, but also opens the possibility that everything could be different.

Chapter I
Chapter II
Chapter III
Chapter IV
Chapter V
Punkt Chapter VI
spacer
Probability as print version (PDF with illus. 8.639 KB)

Rhetoric speech art simultaneity succession

Probability as print version (PDF with illus. 8.639 KB)

spacer

Probability. On Rhetoric in Art

in: Daidalos 64, June 1997 (Special Issue „Rhetoric“), p. 80-89.

Chapter V

There are however limits to the analogy between the rhetorical and artistic production of probability, limits which allow us to define more precisely the specifically pictorial character of art. The difference can be summed up in the conceptual pair ’simultaneity‘ and ’succession.‘ In classical rhetorical theory, the oration is developed successivelv in different stages. First. a subject is defined and the corresponding facts are narrated (exordium and narration). This is followed by the argumentation and demonstration, in which opposing arguments are refuted and one’s own position supported (argumentation). Finally, there is the conclusion of the speech (conclusion). This structure has validity even today, as attested by the majority of political speeches or even scholarly lectures. The sequence allows the listener to distinguish between the subject of the speech (res) and the argument presented by the speaker (argumentum), while the art of rhetoric consists in establishing a convincing connection between them over the course of the speech. The work of art is not subject to this successive process. In the work of art, the thing (e.g. ’nature‘) is preexistent in a particular form, appearing only in the way in which it is shown in the artwork. Earlier we saw this principle illustrated in the four pictorial representations of nature; it holds true to the same degree for sculpture as well. Michelangelo’s Victor, Bernini’s St. Theresa, Rodin’s Striding Man, or Giacometti’s Bust of Elie Lotar do not show a thing (‚human being‘) that is first perceived and only later, like a jointed doll, given a particular form, in the same way the orator gradually develops his perspective on the subject at hand. The abstract entity ‚human being‘ and the individual form of the sculpture coincide and enter into an indissoluble union. To ’see‘ a picture or a sculpture is to see. in one and the same moment, the thing and its specific form, the ‚res‘ and the ‚argumentum.‘ This convergence, in which something shows itself as something, is what is meant when we speak of the ‚presence‘ and ‚immediacy‘ of art. This is probably where we come closest to the specific rhetoric of art, as its own peculiar power of persuasion: where at the moment of its reception, art successfully transcends every separation and shows us the ‚world‘ created in the way the work of art formulates it. This reversal is the triumph of art. in which the fictive prevails over the real.

Chapter I
Chapter II
Chapter III
Chapter IV
Punkt Chapter V
Pfeil Chapter VI
spacer
Probability as print version (PDF with illus. 8.639 KB)