Performance Theater Katharsis Aristoteles Psychoanalyse

Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst als Druckversion (PDF mit Fn. 11.2 MB)

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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst

in: Grenzen der Karthasis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin/New York 2009, S. 199-230.

Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit

Das aristotelische Katharsis-Konzept ist ein ästhetisches Wirkungskonzept. Wie immer man dessen konkretes Funktionieren bestimmt, gemeinsam bleibt den jeweiligen Bestimmungen, daß ein theatrales Geschehen bei seinen Zuschauern affektive Wirkungen auslöst, die als ein wesentliches, vielleicht sogar als das primäre Ziel der dramatischen Aufführung anzusehen sind. In den Diskussionen um die Performance-Kunst der 1960er und 1970er Jahre wurde auf das Katharsis-Konzept vielfältig zurückgegriffen. Es versprach eine Antwort auf die Fragen, die insbesondere diejenigen Performances aufwarfen, die Gewalt und Verletzung einsetzten: Warum trieben sich Künstler/innen an solche physische und psychische Grenzen, und: Warum sollte sich ein/e Betrachter/in ein solches Geschehen anschauen?

Die Schnittmenge zwischen einem theatralen Konzept, das die Reinigung oder Läuterung der Betrachter als künstlerisches Ziel begreift, und der Performance-Kunst lag für viele insbesondere zeitgenössische Interpreten auf der Hand. Denn Performances, die üblicherweise im institutionellen Rahmen der bildenden Kunst angesiedelt waren, trieben die bildende Kunst in Richtung des Theaters. Die Kommunikation zwischen Künstler und Betrachter erfolgte hier nicht durch Objekte, sondern geschah durch den Körper des Performers, und zwar in der unmittelbaren raumzeitlichen Gegenwart. Entscheidender noch war der Umstand, daß es die meisten Performances auf die Erzeugung starker emotionaler Spannungen anlegten – Spannungen im Inneren des Künstlers, zwischen Künstler und Betrachter sowie im Inneren des Betrachters. Obwohl die einzelnen Performances intentional, formal und ideologisch stark divergierten, teilten sie die Absicht, ihre Inhalte auf eine möglichst suggestive und affektorientierte Weise zu vermitteln. Häufig geschah dies im ausdrücklichen Rückgriff auf rituelle Praktiken, wobei der eher vage gebrauchte Begriff des Rituals für ein performatives Verhalten stand, das mit den antithetischen Formeln von Ekstase und Disziplin, Rohem und Stilisiertem, expressiver Naivität und intellektueller Allusion umschrieben werden kann. Dieser Rückgriff auf Ritualität war gegen andere Rituale gerichtet, die durchkreuzt und aufgebrochen werden sollten: gegen Rituale des verdinglichten und durch den Markt korrumpierten Kunstgenusses ebenso wie gegen erstarrte Verhaltensformen des Alltags. Dabei vollzog sich die Performance-Kunst, deren Hochphase in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre fiel, in einer Zeitstimmung, die in Nordamerika und Europa von der Eskalation des Kalten Krieges in der Kubakrise und im Vietnamkrieg, von der Expansion der kapitalistischen Warenwirtschaft, aber auch von den ersten globalen Rezessionen der Nachkriegszeit, vom Vordringen massenmedialer Wirklichkeitsvermittlung bzw. Wirklichkeitserzeugung sowie von verschärften Konflikten zwischen den Generationen und Geschlechtern, in den USA auch zwischen den Ethnien, geprägt war. In die politisch-religiöse Befreiungssehnsucht, die sich in unterschiedlichster Weise manifestierte, integrierte sich, so schien es, auch die Bewegung der Performance-Kunst, wenn sie der entgleisenden Moderne archaisierende Ausdruckskonzepte entgegensetzte und diese mit aktuellen gesellschaftlichen Anliegen verband. Auch sie wurde zu einem Träger der Hoffnung auf Reinigung vom falschen und Eintritt in ein wahreres Leben.

Wenn ich im Folgenden der Frage nachgehe, ob und inwiefern Performances auf Katharsis angelegt waren, sind dazu einige Vorbemerkungen nötig. Der von mir gewählte Weg besteht in der Rekonstruktion der Absichten und kommunikativen Strukturen einiger Performances, die sich im Abstand von inzwischen gut dreißig Jahren als herausragend und prägend erwiesen haben. Damit ist eine methodische Vorentscheidung getroffen, die dem Vorgehen von vornherein Grenzen setzt. Denn die Frage nach der kathartischen Wirkung von Performances könnte auch anders gestellt werden, nämlich indem man sie konsequent historisierte und kontextualisierte. Als Wirkung eines Kunstwerkes hätte dann all dasjenige zu gelten, als was es in seiner Zeit aufgefaßt wurde, ungeachtet der Möglichkeit eines unbewußten oder bewußten misreadings. Die Möglichkeit, daß die Wirkung einer Performance weder ihrer Absicht entsprach noch auch demjenigen, was wir heute als deren kommunikative Struktur rekonstruieren können, war bei Performances stets gegeben. Selbst wenn sie andere Ziele verfolgten, konnten sie als kathartische Rituale aufgefaßt werden – einfach deshalb, weil sie so aufgefaßt werden wollten. Zum einen lag dies an der religiös-politisch-ästhetischen Gemengelage, in welcher die Performance-Kunst sich vollzog. Im kulturellen Kontext der 1960er und 1970er Jahre erzeugte deren Außenseiter-Status, der sich nicht zuletzt darin manifestierte, daß sie sich häufig an halböffentlichen oder privaten Orten vor handverlesener Zuschauerschar vollzogen, ein Gruppengefühl durch Exklusion, ein emphatisches Gefühl des Dabeiseins trotz (oder gerade wegen) der möglichen Drastik der Aktionen. Zum anderen lag es am Ungewohnten, bald Sinndunklen, bald Brutalen des Vorgeführten, das unter den ‚aufgeladenen‘ Rezeptionsbedingungen zu kaum kontrollierbaren Verstehensvollzügen führte. Eine Aktion konnte scheitern, weil der Performer Handlungen oder Symbole einsetzte, die für ihn mit komplexer Bedeutung befrachtet waren, denen jedoch das Potential abging, die Brücke zum Publikum zu schlagen. Umgekehrt konnten Handlungen und Symbole für das Publikum ein anderes Potential haben, als der Performer beabsichtigt hatte, so daß die der Aktion zugeschriebene Bedeutung vor allem jene war, die der Betrachter darauf projizierte. Eine und dieselbe Aktion konnte zudem ganz unterschiedlich als reinigend aufgefaßt werden. Entweder wurde sie als Reinigung von genau den Emotionen verstanden, die von der Performance erzeugt wurden, das heißt als Abreaktion oder aber Abhärtung. Gegensätzlich dazu konnte die produzierte Emotionalität als aufrüttelnde Schockerfahrung erfahren werden, die vom Zustand innerer Leere und Entfremdung befreite. Eine dritte Variante erkannte den Sinn der Performances in der Sensibilisierung für diejenigen Körper- und Seelenzustände, von denen die Performance handelte. Darin spiegelten sich dieselben Lesarten, die auch der Kernsatz der aristotelischen Katharsis-Lehre, die Tragödie erreiche eine Katharsis der Emotionen, erlaubt. Denn auch darunter konnte man dreierlei verstehen: die Reinigung von den Emotionen, die Reinigung durch Emotionen oder aber die Reinigung der Emotionen. Im Unterschied zur intensiven philologischen Bemühung der Aristoteles-Exegese, diese unterschiedlichen Lesarten in ihrer Plausiblität gegeneinander abzuwägen, neigen die Interpreten und Historiographen der Performance-Kunst dazu, sie ineinanderfließen zu lassen, auch wenn sie miteinander unvereinbare Antworten auf die beiden von Performances aufgeworfenen Fragen gaben, warum Künstler/innen sich solchen Grenzzuständen aussetzten, und warum Betrachter/innen ihnen dabei zuschauen sollten. Eine prinzipielle Parteilichkeit ist spürbar, die das Erzeugen starker Emotionen und das Durchkreuzen künstlerischer und gesellschaftlicher Normen in einer Weise begrüßt, welche die genauere Analyse der Absicht-Wirkung-Relation oder der konzeptionellen Struktur der jeweiligen Performance für entbehrlich oder gar kontraproduktiv hält.

Genau dies aber möchte ich hier versuchen, um der undifferenzierten und unscharfen Anwendung des Katharsis-Konzeptes entgegenzuwirken. Man kommt um die hermeneutische Aufgabe nicht herum, zunächst die kommunikativen Strukturen der einzelnen Werke zu untersuchen, bevor von deren Wirksamkeit die Rede sein kann. Unter ‚Katharsis‘ verstehe ich im Folgenden zunächst ausschließlich deren aristotelische Bestimmung, und zwar deshalb, weil sich Aristoteles ebenfalls auf die Wirkung von Kunst bezieht, ja, genauer noch, auf die Wirkung einer theatralen Darbietung, wozu im weitesten Sinne und mit signifikanten Abweichungen, von denen gleich zu sprechen sein wird, auch Performances gezählt werden können. Erst später werde ich kurz auf die Frage eingehen, ob für die Diskussion der Wirksamkeit von Performances statt auf das aristotelische womöglich eher auf das psychoanalytische Katharsis-Konzept zurückgegriffen werden sollte.

Punkt Performance Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit
Pfeil Performance Kapitel II: Performance als künstlerische Form
Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater
Kapitel IIb: Der Betrachterbezug von Performances
Kapitel IIc: Performer versus Schauspieler
Kapitel IId: Das Ende einer Performance
Kapitel III: Katharsis und Kritik
Kapitel IV: Resümee
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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst als Druckversion (PDF mit Fn. 11.2 MB)

Kunst Künstler Kommunikation Kritik

Vorwort zu KünstlerKritiker als Druckversion (PDF mit Fn. 290 KB)

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Vorwort

in: KünstlerKritiker. Zum Verhältnis von Produktion und Kritik in bildender Kunst und Musik, hrsg. von Michael Custodis, Friedrich Geiger, Michael Lüthy und Sabine Slanina, Saarbrücken 2006, S. 7-10.

„Was vielleicht einen Künstler besser erscheinen lässt als einen anderen, ist, dass sein kritisches Gespür wacher ist. Vielleicht ist er keineswegs begabter, er hat einfach das bessere kritische Gespür.“ (Francis Bacon)

Die Moderne überantwortet dem Künstler die Aufgabe, sein Tun zu rechtfertigen, was zuvor, im Rahmen der paternalistischen Bindung an Herrscherhäuser oder der professionellen Organisation in Gildenstrukturen, nicht notwendig gewesen war. Als jedoch die Autonomisierung der Kunst, von den Künstlern ebenso ersehnt wie in ihren sozialen und ökonomischen Konsequenzen nur schwer zu bewältigen, ein eigengesetzlich strukturiertes Feld der Kunst entstehen lässt, muss sich darin manches erst herausbilden. Dazu gehören eine neue Funktion der Kunst, eine Neubestimmung der Figur des Künstlers, eine neue ökonomische Basis künstlerischer Arbeit sowie nicht zuletzt eine neue Form der Kommunikation über Kunst. Folgen wir Pierre Bourdieus Definition gesellschaftlicher Felder, die er auch auf das Feld der Kunst ausdehnte, sind dies Orte einer Interaktion, in welcher die Rollen, Plätze, Zuständigkeiten und Objektbestimmungen immer neu ausgehandelt werden. Im Rahmen solch gesellschaftlicher Interaktion entsteht auch die moderne Kunst- und Musikkritik. Sie übernimmt die Aufgabe, zwischen Künstlern, Experten und dem immer breiter werdenden Publikum zu vermitteln. Zugleich beansprucht sie die Bestimmungshoheit darüber, was oder wer legitimerweise als Kunst und als Künstler gelten kann. So betreibt die Kritik das doppelte Geschäft, im Inneren das künstlerische Feld zu regulieren und es zugleich nach außen hin kommunikabel zu machen.

Seit ihrem Aufschwung zu Beginn der Moderne befindet sich die Kunst- und Musikkritik jedoch zugleich in einer paradoxen Situation. In der Vormoderne bestimmten sich die Künste nach zwei Seiten hin. Zum einen wurden sie als Mimesis begriffen, als Spiegel der Natur, zum anderen hatten sie eine rhetorisch-pragmatische Funktion, die sie lehrreich, bewegend oder angenehm machen sollte. In der romantischen Kunstkonzeption, die zu den wesentlichen Triebkräften der Autonomisierung gehörte, tritt nun aber eine dritte, die anderen beiden in den Hintergrund drängende Dimension hervor: die Bestimmung der Kunst als Expression. Kunst wird nun als ein Inneres aufgefasst, das sich im Kunstwerk auf eine kaum aufzuklärende und kaum zu kontrollierende Weise entäußert. Diese expressive Funktion entzieht sich, im Unterschied zur mimetischen und zur rhetorisch-pragmatischen, der Kritik, und dies in voller Absicht. Denn die Kritik verbindet sich zwangsläufig mit jenen tradierten Normen, von denen man sich im Namen der inneren Notwendigkeit abzusetzen bemüht. Dass in der Romantik die uneingeschränkte Authentizität zur Leitkategorie wird, hängt folglich auch mit der bewussten Abwehr von Kritik in ihrer herkömmlichen normativen Funktion zusammen. Daraus aber erwächst der Kunst ein doppeltes Kommunikationsproblem. Problematisch wird nicht nur die Vermittlung zwischen dem subjektiven Inneren des Künstlers und der Außenseite des Kunstwerks, sondern zugleich die Vermittlung jener subjektivierten künstlerischen Praxis an das Publikum, das nicht anders kann, als die einzelne künstlerische Hervorbringung an übersubjektiven Kriterien zu messen.

Die Kämpfe um Plätze, Rollen, Legitimitäten und Diskurse im Allgemeinen und die Probleme der Kritik im Besonderen führen dazu, dass Künstler in der Moderne immer häufiger die Notwendigkeit empfinden, neben ihrer künstlerischen Produktion selbst kritisch tätig zu werden. Sie agieren als Kritiker des eigenen Werks, indem sie ihren eigenen künstlerischen Standpunkt zu bestimmen suchen, und zugleich als Kritiker anderer, indem sie sich gegenüber der zurückliegenden und der zeitgenössischen Kunst situieren. Die starke Zunahme von Künstlerschriften und Manifesten in der Moderne indiziert jene kritische Selbstermächtigung der Produzenten von Kunst und Musik, sich gegen die institutionalisierte Kritik und die an der Tradition orientierten kanonischen Positionen auszusprechen, um Raum für eigene und neue Auffassungen zu schaffen. Doch auch das einzelne Werk tritt immer häufiger als implizite oder sogar explizite Kritik vorangegangener oder gegenwärtiger künstlerischer Praktiken auf. In beiden Fällen geraten Kreativität und Kritik in ein spannungsvolles, sich nicht selten wechselseitig bedingendes Verhältnis. So scheint in der Figur des Künstler-Kritikers die für die Moderne bezeichnende Erfahrung eingeschlossen, sich die Normen selbst setzen zu müssen, ohne aber die Brücken zum Kunst- bzw. Musikpublikum sowie zu den parallel laufenden künstlerischen Strömungen abzubrechen. Die kritische Selbstverortung bezieht sich dabei auf zwei unterschiedliche Koordinaten. Einmal arbeitet der moderne Künstler mit Blick auf das Museum, die Bibliothek oder das Repertoire, also mit Blick auf den eigenen Ort in der Geschichte. Zu dieser vertikalen, diachronen Koordinate gesellt sich die horizontale, synchrone Koordinate, wenn sich der Künstler zugleich an der eigenen Gegenwart misst, sowohl im künstlerischen wie im außerkünstlerischen Sinne. Die kritische Bestimmung und Deutung von Geschichte und Gegenwart sind nicht zu trennen von der Selbstverortung darin.

Die Tagung, die dem vorliegenden Band zugrunde liegt, wurde von Musik- und Kunstwissenschaftlern gemeinsam konzipiert und durchgeführt. Entsprechend gleichgewichtig waren auch die Beiträge verteilt. Den Organisatoren ging es nämlich nicht zuletzt um die Frage, ob sich im Vergleich von Musik und bildender Kunst strukturelle Muster der Relation von künstlerischer Produktion und Kritik erkennen lassen. Um den Perspektivenwechsel von einer Kunstkritik, unter der man gemeinhin die Tätigkeit professioneller Kritiker versteht, zu jener hier interessierenden Doppelfigur des Künstler-Kritikers deutlich zu machen, wurde die Tagung durch eine Podiumsdiskussion eröffnet, die je zwei Komponisten (Moritz Eggert und Heiner Goebbels) und bildende Künstler (Christian Jankowski und Eran Schaerf) miteinander ins Gespräch brachte. Die Diskussion zum Verhältnis von Produktion und Kritik, die nachfolgend dokumentiert wird, kreiste schwerpunktmäßig um die Selbstkritik der Kunst, die Kritik der professionellen Kritiker sowie den kritischen Dialog der Künste untereinander. Darauf folgten drei Sektionen mit jeweils zwei Vorträgen, die das Sektionsthema aus musikwissenschaftlicher oder kunsthistorischer Perspektive in den Blick nahmen und hier als überarbeitete Aufsätze in drei Abteilungen vorgelegt werden.

Die erste Abteilung gilt Komponisten und Künstlern als Kritikern. Die beiden Aufsätze von Susanne Kogler und Sabine Slanina gehen kasuistisch vor, indem sie zwei Komponisten (Robert Schumann und Hugo Wolf) beziehungsweise einen Künstler (Eugène Delacroix) herausgreifen, die nicht nur als Kritiker tätig waren, sondern diese Tätigkeit als integralen Bestandteil ihrer Produktivität begriffen. Beide Untersuchungen bewegen sich in einem zeitlich engen und sozialgeschichtlich spezifischen Rahmen, der mit dem Autonomieproblem am Beginn der Moderne unmittelbar verknüpft ist. Auf diese Weise exponieren sie zugleich den Problemhorizont des ganzen Bandes. Sowohl an Schumann und Wolf wie auch an Delacroix lässt sich das kunstkritische Vorgehen beobachten, die Tradition der eigenen Kunst auf eigene Weise zu reformulieren, um daraus eine Kritik der Gegenwart hervorgehen zu lassen und zugleich das eigene Tun in eine künstlerische Entwicklungsgeschichte integrieren zu können, die von jener maßgebenden Vergangenheit unmittelbar in eine der Gegenwart überlegene Zukunft zu führen scheint.

Die zweite Abteilung gilt dem Kunstwerk als Ort und Instanz der Kritik. Die Texte von Michael Custodis und Bernhard Kerber fragen danach, inwieweit ein Werk bewusst oder unbewusst eine Position bezieht, die zugleich als Kritik aufzufassen ist: als Kritik an tradierten Darstellungsformen, vorherrschenden Produktionsweisen, kanonischen Rezeptionsweisen oder Klischees über Künstler und Kunst, die das Kunstwerk in einer Spannung zwischen Selbstbezug und Fremdbezug hält. Kerber widmet sich dabei vor allem der Dimension des Selbstbezugs, indem er mit Blick auf die konzeptuelle Wendung der Kunst seit Duchamp die selbstkritische Rückwendung der Kunst auf sich selbst exponiert. Im Zeichen der permanenten modernistischen Selbstüberbietung der Kunst falle das Kunstmachen, so Kerbers These, mit der Arbeit am Kunstbegriff zusammen. Custodis wiederum widmet sich dem anderen Pol der im Kunstwerk zu konstatierenden Spannung, dem Fremdbezug. Bei der Analyse eines späten Schönberg-Werkes, A Survivor from Warsaw op. 46 von 1947, geht es einerseits um die Darstellung des Undarstellbaren, konkret der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten. Zum anderen geht es um die im Stück nachweisbare Auseinandersetzung mit Bach, den Schönberg gegen dessen Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten als Referenz für das eigene Schaffen zu sichern versuchte.

Die dritte Abteilung schließlich, mit Aufsätzen von Volker Straebel und Karl Schawelka, geht den Interferenzen zwischen Musik und bildender Kunst nach. Sie untersucht Fälle von Wahlverwandtschaft zwischen Musik und bildender Kunst und fragt danach, wodurch der Ausgriff der einen Kunst auf die jeweils andere motiviert sein könnte. Straebels Text zeigt auf, wie Potenziale, die in der amerikanischen und europäischen Avantgardemusik der Nachkriegszeit verborgen lagen, erst in der Rezeption durch bildende Künstler aktiviert wurden: in Konzeptkunst, Happening und Performance, d.h. in Praktiken, welche die Grenzen der bildenden Kunst sprengten und sich wesentlich der Inspiration durch jene neuartigen musikalische Formen verdankten. Schawelka nähert sich dem Thema über das Phänomen der Synästhesie, das er am Beispiel von Klee untersucht. Schawelkas Argumentation verlässt die erwartbaren Bahnen, indem er zeigen kann, dass Klee die neurophysiologischen Verbindungen zwischen den Sinnen zu einer Zeit fruchtbar machte, als sie von der Neurophysiologie selbst kaum erforscht waren. Da Klee selbst kein Synästhetiker war, entsprang seine Verbindung von Hören und Sehen einem analytischen und zugleich genuin künstlerischen Anliegen. Der Rekurs auf das Musikalische eröffnete ihm den Weg, die bildende Kunst über ihren angestammten Bereich hinauszutreiben.

Die Tagung und der vorliegende Band wurden bewusst knapp gehalten. Den Herausgebern ging es nicht um ein möglichst vollständiges Vermessen des Feldes, sondern vielmehr um das exemplarische Aufzeigen der Perspektiven, unter denen es in den Blick genommen werden kann. Unser Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die dieses Projekt im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der Freien Universität Berlin ermöglichte. Wir danken außerdem den beteiligten Künstlern sowie den Referentinnen und Referenten für die Bereitschaft, sich auf das Thema einzulassen. Last but not least danken wir Melanie Baumgärtner, Dahlia Borsche, Tobias Geissmann und Markus Kettern für ihre Hilfe bei der Redaktion.

Richard Shiff production materiality mediality modernism

Modernist Praxis – Richard Shiff as print version (PDF with fn. 93 KB)

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Retracing Modernist Praxis: Richard Shiff

a response to an essay by Richard Shiff, published in German in: Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfahrung in der Kunst, hrsg. von Gertrud Koch und Christiane Voss, München 2005, S. 135-138. – Translation: Julia Bernard

„My emphasis is very much on processes of making-techniques. Accordingly, by representation I refer to an act of depiction, both (iconic) figuration and (symbolic) configuration. I do not use the term representation to signify the adequation of re-presentation, that is, some second presentation bearing the full ‚presence‘ of the original. The nineteenth-century sources whom I cite seem very much aware that representations may at times seek to approach re-presentation, but do not attain that end.“ (Richard Shiff)

This quotation from an early article of Richard Shiff’s delineates his area of research very precisely. The „act of depicting“ around which the (in the interim) numerous studies circle is investigated within the time-frame of a Modernism that, beginning in the early nineteenth century, undertook replacing the old conceptions of artistic practice-for example, the theory of mimesis-with new ones. At the center of these revisions stood rather less the relationship between original and copy, as in the case of mimetic theory, but much more the procedure which occurred involving artist, the chosen medium of representation, and the object to be represented-a procedure whose many-layered and process-related nature had occasionally so distinctly advanced that it appeared to become the artwork’s actual content. Shiff devotes his attention, in short, to representation after the end of classical representation.
In this process, two things continually remain in view: artistic praxis, that is „making“ with its respective techniques; and at the same time the now-anticipated, now-fulfilling theory running parallel, which frames and reflects the praxis but is in turn re-oriented by it. Shiff emphasizes the rhetorical character of both levels: not only the theory, which attempted to shift art into a particular light, but also the praxis, which in Modernism aimed at representing the process of representation at the same time-that is, to display how decisively what is represented is shaped by the medium’s singularity and the specific artistic techniques. Precisely the direct, unmediated, and authentic procedures which artists willingly subscribe to since the anti-academic turning-point of Modernism are rhetorical, to the extent that they stage directness and authenticity as an effect. It has to do in each case, according to Shiff, with the paradox of a represented immediacy.
While the early texts devote themselves rather to the theoretical discourses of especially the nineteenth century, his more recent ones turn increasingly to the inter-relation between artist and medium. In a „close reading“ of the material pictorial surface as the trace of making, they delineate the singularity of respective representational acts. It is that „contact“ of artist and medium within the artwork that Shiff means with „the physicality of picturing“. Yet the analyses of works also make clear how little theory and practice can be separated in Modernism, which was to be so strongly characterized by programs and concepts. For certain essential terms of Modernist discourse-for example, originality, abstraction, materialization, or embodiment-again and again come into play without fail, in that the works appear to thematize precisely these terms and concepts.
Conversely, that rather discourse-theoretically oriented article from which the opening quote derived develops a central problem of Modernist praxis. The artists of Modernism find themselves confronting the difficulty, according to Shiff, of on the one hand generating works that are indebted to authentic and singular expression, but on the other of developing a style that clearly identifies their own works as Monets, Picassos, or Lichtensteins. They confront the task of inventing a handwriting that is immediate, and nonetheless remains repeatable from work to work. Shiff found an exceedingly impressive formulation for this contradiction. What the artists must achieve is a „technique of originality“. In Modernism, this takes the place of the old techniques of representation learned in the course of artistic training-chiaroscuro, the carefully distinct stages in the working process between first sketch and concluding varnish, the calculated reference to earlier masters, and so forth.
In the article under consideration here, this problematic comes to light in the discussion of Georges Seurat’s pointillist screen of dots, which Seurat described on the one hand as his personal style and on the other as a mere procedure used. Seurat resolves that problem prepared in advance by Shiff, in that he developed a de-subjectivized neutral painting procedure, whose inventor he praised himself as, to which repeatability was nonetheless ascribed from the beginning. Seurat was not alone in his solution. Many artists of Modernism secured their individual recognizability essentially through the choice of a medium that precisely disavowed the quality of handwriting, in order to permit itself to be all the more multifariously made use of. One might think for example of Yves Klein’s „International Klein Blue“, with which he covered pictorial surfaces and objects of very diverse natures; of Warhol’s silkscreen, which appeared to be suited to everything, and possessed the capacity to transform everything into a „Warhol“; or the white linear cubes of Sol LeWitt, which allow themselves to be organized into ever-new structures. Shiff pursues the psychological basis for efforts in the direction of a simultaneously individual and impersonal „look“ in a variety of more recent texts, and his conjecture has it that the artists are seeking in this way to avoid three things: first, the clichés about artistic self-expression existing since the aesthetic of genius; second, the ideological positional reference compelling them to struggle for the „right“ Modernism; and third, the illustration of their own personality, to the extent that it could be considered to be socially and culturally shaped. With the paradoxical effect of an impersonal handwriting, according to Shiff, one tried to save the „actual“ personality from societal finish and stylistic pigeonholing.
Shiff grouped his early studies of this complex of themes within exemplary investigations of Cézanne’s working process, which work their way through what the artist understood with his favorite term „réalisation“. In his pictures, Cézanne attempted at any given time to realize many things at once: first of all, the motif (for example, Mont Sainte-Victoire) in its endless multiplicity; further, the feelings that the motif released in the artist; and finally, the concrete painting itself, whose generation could first bring the other „realizations“-that of the motif, and that of feelings-to light. The „process of making“ meant for Cézanne allowing the opposed movements of recording a sensory impression and the depositing of paint on a canvas, the „impression“ and the „expression“, to merge into a single gesture. Cézanne’s patchy non-focus can be grasped as that technique permitting the painter to impress the individual marks on the canvas with that decisive semantic ambivalence between iconic reference to the motif, and indexical reference back to the painter. The tensions within the aesthetic object result from this multi-layered, legible working process. They express themselves as ambivalences of the painted surface-between seeing and touching, flatness and depth, materiality of the paint medium and immateriality of the pictorial effect. Moreover, it is not only the tensions on the subject- or object-side of art that Shiff investigates, but above all the metonymic transfers which take place between them. They make it possible for tensions within the image to stand in for tensions within the working process or in the artist’s subjectivity, for example in that the image is understood as anthropomorphized and the canvas is grasped as a skin, which like human skin possesses the ability to breathe. In this fashion, Shiff distinguishes precisely between what a picture is, and what it is supposed to produce as an effect-a distinction that is immediately connected with that between thing and sign. For as Shiff’s already mentioned remarks about the „technique of originality“ demonstrate, an artwork is not simply original or not original; what is much more decisive is whether it is capable of producing originality as an effect, for example by means of a skillful staging of indexicality. The modern artist is, according to Shiff, a master of that metonymic transfer which shifts a sign or an action from one context into another. It is these metonymic transfers that can lead, for example, to the artwork’s materiality standing in for the corporeality of a person, or-to take up the example of Seurat again-that seeing and touching alternatingly refer to one another. Seurat achieved this in that he transposed seeing into a series of point-like touches on the canvas, which transform themselves back into the viewer’s perception, as if it does not have to do with painted dots but rather on the contrary with flickering light.
A final tension within the artworks discussed by Shiff should be adressed here, namely that between the materiality and the mediality of the image. In this connection, it seems to have to do with a difference that has an historical dimension. In relation to Chuck Close’s portraits, Shiff speaks of their presenting the image as well as at the same time „the things out of which it is made“ (in the original, „the stuff“). This sturdy expression-„stuff“-surprises one, for it accentuates the materiality of the image in a very specific way. „Stuff“ is, according to his interpretation, oppositional, frequently untidy, perhaps even dirty, but nonetheless close and important to oneself, as is apparent in the expression „my stuff“. „Stuff“ exhibits precisely not that abstract immateriality of the medium which present-day media theory presupposes, when it emphasizes the media- and sign-based nature of our communication. A specific aspect of artistic Modernism could possibly lie in the significance of „stuff“ for the working process, which would have in the interim become a bygone. The mediality of art, ranging from Delacroix up until the Abstract Expressionists-that is, the time-frame Shiff devotes his attention to-is grasped very materially and like a „thing“. That is also still valid for Chuck Close, whom Shiff indeed brings into relation with the phenomenon of digitalization and the generation of new technologies like television or the computer, who nevertheless translates the experience of them back into the old medium of oil painting. With the widespread entry into art of the so-called „media“, which are themselves now employed as a working medium, materiality and mediality appear to increasingly move away from one another. But what, if the diagnosis is correct, does this mean for the metonymic transfer that Shiff elaborates upon, especially for the exchange relationship between the materiality of the artwork and the corporeality of the artist? What happens to the „physicality of picturing“ under these different conditions? The answer to this would be studies which continued the line that Shiff draws, extending it from the early nineteenth century through the 1960s, into our present time. They would have to evaluate the still-unclear consequences that the de-materialization and digitalization of media have for the production and experiencing of art. The precision with which Richard Shiff analyzes works and the discourse accompanying them would be desired of the discussion of this just now beginning.

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Modernistische Praxis – Richard Shiff als Druckversion (PDF mit Fn. 292 KB)

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Die modernistische Praxis nachvollziehen. Richard Shiff

in: Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfahrung in der Kunst, hrsg. von Gertrud Koch und Christiane Voss, München 2005, S. 135-138.

„Mein Akzent liegt eindeutig auf dem Prozess des Machens – auf den Techniken. Entsprechend verstehe ich Repräsentation als einen Darstellungsakt, der zugleich (ikonische) Figuration und (symbolische) Konfiguration ist. Ich gebrauche den Begriff Repräsentation nicht im Sinne eines Erreichens von Re-Präsentation, d.h. einer Art zweiten Erscheinens, das die volle ‚Präsenz‘ des Originals besäße. Die Quellen des 19. Jahrhunderts, die ich zitiere, scheinen ein sehr klares Bewusstsein davon zu haben, dass sich Repräsentation zwar hin und wieder der Re-Präsentation anzunähern versucht, dieses Ziel jedoch nicht erreicht.“ (Richard Shiff)

Dieses Zitat aus einem frühen Aufsatz umreißt Richard Shiffs Forschungsfeld sehr genau. Der „Darstellungsakt“, um den die inzwischen zahlreichen Studien kreisen, wird im Zeitraum jener Moderne untersucht, welche seit dem frühen 19. Jahrhundert die alten Auffassungen künstlerischer Praxis, beispielsweise die Mimesis-Lehre, durch neue zu ersetzen unternahm. Im Mittelpunkt dieser Neufassungen stand weniger die Beziehung von Urbild und Abbild wie im Falle der Mimesis-Theorie, sondern vielmehr der Vorgang, der sich zwischen Künstler, gewähltem Darstellungsmedium und darzustellendem Gegenstand abspielt – ein Vorgang, dessen Vielschichtigkeit und Prozessualität das Kunstwerk bisweilen so deutlich hervorkehrt, dass er zum eigentlichen Inhalt des Kunstwerks zu werden scheint. Shiffs Augenmerk gilt, kurz gesagt, der Repräsentation nach dem Ende der klassischen Repräsentation.

Im Blick bleibt dabei stets zweierlei: die künstlerische Praxis, d.h. das Machen mit seinen jeweiligen Techniken, und zugleich die parallel laufende, bald vorwegnehmende, bald nachvollziehende Theorie, welche die Praxis rahmt und reflektiert, von dieser aber selbst wiederum neu ausgerichtet wird. Shiff betont den rhetorischen Charakter beider Ebenen: sowohl der Theorie, welche die Kunst in ein bestimmtes Licht zu rücken versucht, als auch der Praxis, die es in der Moderne darauf anlegt, im Dargestellten zugleich den Darstellungsprozess darzustellen, d.h. vorzuführen, wie entschieden das Dargestellte durch die Eigenart des Mediums und die spezifischen künstlerischen Techniken geprägt wird. Gerade die direkten, unmittelbaren und authentischen Verfahren, welche sich die Künstler seit der anti-akademischen Wende der Moderne gerne zuschreiben, sind insofern rhetorisch, als sie die Direktheit und Authentizität als Effekt inszenieren. Es handelt sich jeweils, so Shiff, um das Paradox einer repräsentierten Unmittelbarkeit.

Während sich die früheren Texte eher den theoretischen Diskursen insbesondere des 19. Jahrhunderts widmen, wenden sich die jüngeren verstärkt der Wechselbeziehung zwischen Künstler und Medium zu. In einem close reading der materiellen Bildoberfläche als der Spur des Machens vollziehen sie die Eigenart der jeweiligen Repräsentationsakte nach. Es ist jene „Berührung“ von Künstler und Medium im Kunstwerk, die Shiff mit dem „Physischen des Abbildens“ (im Original: „the physicality of picturing“) meint. Doch auch die Werkanalysen verdeutlichen, wie wenig sich im Modernismus, der von Programmen und Konzepten so stark geprägt wurde, Theorie und Praxis trennen lassen. Denn gewisse Kernbegriffe des modernistischen Diskurses – beispielsweise Originalität, Abstraktion, Materialisierung oder Verkörperung – kommen unweigerlich immer wieder ins Spiel, indem die Werke häufig ebendiese Begriffe und Konzepte zu thematisieren scheinen. Umgekehrt entfaltet jener eher diskurstheoretisch ausgerichtete Aufsatz, dem das einleitende Zitat entstammt, ein zentrales Problem modernistischer Praxis. Die Künstler der Moderne stehen nämlich Shiff zufolge vor der Schwierigkeit, einerseits Werke hervorzubringen, die sich authentischer und singulärer Expression verdanken, andererseits aber einen Stil zu entwickeln, der die eigenen Werke deutlich als Monets, Picassos oder Lichtensteins ausweist. Sie stehen vor der Aufgabe, eine Handschrift zu erfinden, die unmittelbar ist und dennoch von Werk zu Werk wiederholbar bleibt. Für diesen Widerspruch fand Shiff eine überaus einprägsame Formulierung. Was die Künstler erreichen müssten, sei eine „technique of originality“, eine „Technik der Originalität“. Diese trete in der Moderne an die Stelle der alten, im Laufe der künstlerischen Ausbildung erlernten Techniken der Repräsentation – des Helldunkels, der sorgfältig unterschiedenen Stufen im Werkprozess zwischen erster Skizze und abschließendem Firnis, dem kalkulierten Verweis auf frühere Meister usw.

Im hier vorliegenden Aufsatz klingt diese Problematik in der Diskussion von Georges Seurats pointillistischem Punktraster an, das Seurat einerseits als seinen persönlichen Stil, andererseits als eine bloß angewandte Methode beschrieb. Seurat löste jenes von Shiff herauspräparierte Problem, indem er ein entsubjektiviertes, neutrales Malverfahren entwickelte, als dessen Erfinder er sich rühmen konnte, dem jedoch die Wiederholbarkeit von Anfang an eingeschrieben war. Seurat steht mit seiner Lösung nicht allein. Manche Künstler der Moderne sicherten sich ihre individuelle Wiedererkennbarkeit wesentlich durch die Wahl eines Mediums, das Handschriftlichkeit gerade verneinte, sich dadurch aber umso vielfältiger einsetzen ließ. Zu denken wäre beispielsweise an Yves Kleins „International Klein Blue“, mit dem dieser Bildoberflächen und Gegenstände sehr unterschiedlicher Art überzog, an Warhols Siebdruck, der auf alles zu passen schien und die Fähigkeit besaß, alles in einen „Warhol“ zu verwandeln, oder die weißen Kantenwürfel Sol LeWitts, die sich zu immer neuen Gebilden anordnen ließen. Den psychologischen Gründen für das Streben nach einem zugleich individuellen und unpersönlichen „look“ geht Shiff in neueren Texten wiederholt nach, und seine Vermutung liegt darin, dass die Künstler auf diese Weise drei Dinge zu vermeiden suchten: erstens die seit der Genieästhetik bestehenden Klischees künstlerischen Selbstausdrucks, zweitens den ideologischen Positionsbezug, zu dem die Kämpfe um die „richtige“ Moderne zwangen, und drittens die Abbildung der eigenen Persönlichkeit, soweit diese als sozial und kulturell geformt gelten konnte. Mit dem paradoxen Effekt einer unpersönlichen Handschrift versuchte man, so Shiff, die „eigentliche“ Persönlichkeit vor gesellschaftlicher Zurichtung und stilistischer Schubladisierung zu retten.

Seine frühen Studien zu diesem Themenkomplex bündelte Shiff in exemplarischen Untersuchungen zu Cézannes Werkprozess, die herausarbeiten, was Cézanne unter seinem Lieblingsbegriff der „réalisation“ verstand. In seinen Bildern versuchte Cézanne jeweils mehreres im selben Zuge zu realisieren: zunächst das Motiv in seiner unendlichen Vielfalt – beispielsweise die Montagne Sainte-Victoire -, des weiteren die Empfindungen, die das Motiv im Künstler auslöste, und schließlich das konkrete Gemälde selbst, dessen Entstehung die anderen „Realisierungen“ – die des Motivs und die der Empfindung – erst ans Licht bringen konnte. Der Prozess des Machens bedeutete für Cézanne, die gegenläufigen Bewegungen des Aufnehmens eines Sinneseindrucks und der Niederlegung von Farbe auf der Leinwand, der „Impression“ und der „Expression“, in einer einzigen Geste ineinander aufgehen zu lassen. Cézannes fleckige Unschärfe lässt sich somit als diejenige Technik begreifen, die es dem Maler ermöglichte, den einzelnen Markierungen auf der Leinwand jene entscheidende semantische Ambivalenz zwischen ikonischem Verweis auf das Motiv und indexikalischem Rückverweis auf den Maler einzuprägen. Die Spannungen im ästhetischen Objekt resultieren aus diesem mehrschichtig lesbaren Werkprozess. Sie schlagen sich nieder als Ambivalenzen der bemalten Oberfläche zwischen Sehen und Berühren, Flachheit und Tiefe, Materialität der Malmittel und Immaterialität des bildnerischen Effekts. Dabei sind es nicht nur die Spannungen auf der Subjekt- und auf der Objektseite der Kunst, die Shiff untersucht, sondern vor allem die metonymischen Transfers, die sich dazwischen ereignen. Sie ermöglichen es, dass Spannungen im Bild für Spannungen im Werkprozess oder im Subjekt des Künstlers einstehen können, beispielsweise indem das Bild anthropomorphisiert und die Leinwand des Bildes als Haut begriffen wird, die wie die menschliche Haut das Vermögen des Atmens besitzt. Shiff unterscheidet dabei genau zwischen dem, was ein Bild ist, und dem, was es als Effekt erzeugen soll – eine Unterscheidung, die mit der Unterscheidung zwischen Ding und Zeichen unmittelbar zusammenhängt. Denn wie Shiffs bereits erwähnte Ausführungen zur „Technik der Originalität“ zeigen, ist ein Kunstwerk nicht einfach originell oder nicht originell; entscheidend ist vielmehr, ob es Originalität als Effekt zu erzeugen vermag, beispielsweise durch eine geschickte Inszenierung von Indexikalität. Der moderne Künstler ist nach Shiff ein Meister jener metonymischen Transfers, die ein Zeichen oder eine Handlung aus einem Kontext in einen anderen verschieben. Erst diese metonymischen Transfers können dazu führen, dass beispielsweise die Materialität des Kunstwerks für die Körperlichkeit eines Menschen einsteht oder – um das Beispiel Seurats wieder aufzunehmen – Sehen und Berühren wechselseitig aufeinander verweisen. Seurat gelang dies, indem er das Sehen in eine Folge punktueller Berührungen der Leinwand umsetzte, die sich in der Wahrnehmung des Betrachters wieder in Visualität zurückverwandeln, so als handle es sich nicht um Farbpunkte, sondern vielmehr um flirrendes Licht.

Eine letzte Spannung in den von Shiff diskutierten Kunstwerken sei angesprochen, nämlich diejenige zwischen Materialität und Medialität des Bildes. Hierbei scheint es sich um eine Unterscheidung zu handeln, die eine historische Dimension besitzt. In Bezug auf Chuck Closes Porträts spricht Shiff davon, sie gäben sowohl das Bild zu sehen wie zugleich „die Dinge, aus denen es gemacht ist“ (im Original: „the stuff“). Dieser handfeste Ausdruck – „stuff“ – überrascht. Denn er akzentuiert die Materialität des Bildes in einer sehr spezifischen Weise. „Stuff“ ist seiner Wortbedeutung nach widerständig, häufig unordentlich, vielleicht sogar schmutzig, einem selbst aber gleichwohl nahe und wichtig, wie am Ausdruck „my stuff“ deutlich wird. „Stuff“ weist gerade nicht jene abstrakte Immaterialität des Mediums auf, von der die heutige Medientheorie ausgeht, wenn sie die Medien- und Zeichenbasiertheit unserer Kommunikation betont. In der Bedeutung des „stuff“ für den Werkprozess könnte womöglich eine Spezifik einer künstlerischen Moderne liegen, die inzwischen vergangen wäre. Die Medialität der Kunst wurde von Delacroix bis zu den Abstrakten Expressionisten – also im Zeitraum, dem Shiffs Augenmerk gilt – sehr materiell und „dinghaft“ begriffen. Das gilt auch noch für Chuck Close, den Shiff zwar in einen Zusammenhang mit dem Phänomen der Digitalisierung und der Entstehung neuer Technologien wie Fernsehen oder Computer bringt, der jedoch deren Erfahrung in das alte Medium der Ölmalerei zurückübersetzt. Mit dem breiten Einzug der so genannten Medien in die Kunst, die nun selbst als Arbeitsmedium eingesetzt werden, scheinen sich Materialität und Medialität zunehmend auseinander zu bewegen. Was aber – falls die Diagnose zutrifft – bedeutet dies für die metonymischen Transfers, die Shiff herausarbeitet, insbesondere für die Austauschbeziehungen zwischen der Materialität des Kunstwerks und der Körperlichkeit des Künstlers? Was geschieht unter diesen andersartigen Bedingungen mit dem „Physischen des Abbildens“? Die Antwort darauf wären Studien, die jene Linie, die Shiff aus dem frühen 19. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre zieht, in unsere Gegenwart weiterführten. Sie hätten den noch unklaren Folgen zu gelten, welche die Immaterialisierung und die Digitalisierung der Medien auf die Produktion und die Erfahrung der Kunst haben. Der gerade erst beginnenden Diskussion darüber wäre die Genauigkeit zu wünschen, mit der Richard Shiff Werke und die sie begleitenden Diskurse analysiert.

Andy Warhol Disaster-Diptychon

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Warhols Disaster-Diptychen: Das Dementi als Bildform

in: Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit, hrsg. von Anke Hennig und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 71), Wien/München 2008, S. 475-507.

Inhalt:

Einleitung

1. Death in America

2. Von der Faktografie zur Faktur

3. Blanks

4. Das Dementi als Bildform

Warhol Tod Newman Rodtschenko Philosophy

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Warhols Disaster-Diptychen: Das Dementi als Bildform

in: Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit, hrsg. von Anke Hennig und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 71), Wien/München 2008, S. 475-507.

4. Das Dementi als Bildform

Warhols Investition in die Todesthematik war außergewöhnlich. Doch statt seine Gefühle in die Bilder zu übertragen, übertrug er es an den Betrachter, sich zu seinem (Nicht-)Verhältnis zum Tod ins Verhältnis zu setzen. In den Disaster-Diptychen begegnet diesem ein mehrfaches Dementi, das vom Bild in Form gesetzt und somit als Vorgang sichtbar gehalten wird. Die bedruckten Bildtafeln, um mit ihnen zu beginnen, dementieren die Abbildfunktion, und zwar durch die serielle Wiederholung, die von der Unmöglichkeit zeugt, das Bild des Todes fixieren zu können, sowie durch die Eigenart der Drucke, aus ihrem Abbildstatus auszubrechen und selbst das zu tun, was sie zeigen, beispielsweise selbst zu verunglücken. Die leeren Bildtafeln wiederum dementieren die Zeigefunktion des Bildes. Bei ihnen handelt es sich eigentlich gar nicht um Bilder, sondern lediglich um grundierte Leinwände, also um die materielle Vorstufe eines Bildes, das nicht zustande kam und nur durch die Rahmung den Charakter eines Quasi-Bildes annahm. Warhols Monochrome schwanken zwischen Anfang und Ende eines Bildes. Im Zusammenhang von Diptychen, deren andere Bildtafeln jeweils zwar gegenständlich sind, aber auf Pressefotografien basieren, erscheinen sie zugleich als Kommentare zur (Un-)Möglichkeit der Wirklichkeitsrepräsentation in der Malerei. Diesbezüglich reihen sie sich in die Geschichte von malerischen Dementis ein, die sich auf die eigene Gattung beziehen, angefangen mit Aleksandr Rodcenkos Reine Farbe Rot, reine Farbe Gelb, reine Farbe Blau von 1921 – einem künstlerischen Manifest, das gegen den Illusionismus der traditionellen Malerei gerichtet war und eine neue Bildwirklichkeit jenseits der Repräsentation begründen wollte. Auch Rodcenkos aus drei Einzeltafeln bestehendes Monochrom inszenierte sich als zugleich letztes und erstes Bild, allerdings in einer kulturrevolutionären Perspektive, die Warhol fremd war.

Näher lag, insbesondere für das amerikanische Publikum der 1960er Jahre, die Anspielung der blanks auf Barnett Newmans color field painting, nicht zuletzt wegen der jeweils stattlichen Formate, die das Studioformat von Rodcenkos Triptychon weit hinter sich ließen. Newman verankerte seine neuartige Bildform in der philosophischen Traditionslinie des Erhabenen und bestimmte die Wirkung seiner Bilder als Befreiung und Selbststärkung des Betrachtersubjekts. Zu erreichen versuchte er dies über die Farbe, die er großflächig, unmoduliert und untexturiert auftrug und die er im Bild als selbstbezügliches Quantum „erschaffen“ wollte. Newman betonte, seine Bilder seien weder Abstraktionen der Wirklichkeit noch Darstellungen reiner Ideen, sondern „Verkörperungen eines Gefühls“, das angesichts der Eigenrealität jedes einzelnen Bildes individuell zu erfahren sei.

Keine dieser Möglichkeitsbestimmungen monochromer Malerei trifft diejenige Warhols, was insbesondere an dem Umstand liegt, dass er das Monochrom nicht zum autonomen Bild erklärte, sondern ausschließlich als Komplement der fotografisch bedruckten und mit derselben Farbe grundierten Tafeln auftreten ließ. Zwar haben die blanks mit Rodcenkos Monochromen gemeinsam, die jeweiligen Bildflächen nur mit einer einzigen Farbe auszufüllen und auf diese Weise den Illusionismus des Bildes durch gänzliche Vermeidung eines Figur-Grund-Kontrastes aufzuheben – im Unterschied zu Newman, bei dem dieser Kontrast entweder durch die vertikalen Linien der sogenannten zips oder durch die Konstellation mehrerer Farbfelder ansatzweise fortbesteht. Doch während Rodcenko das Bild im Konkreten der drei Primärfarben zu verankern versuchte, sind Warhols blanks Bilder in Latenz: zugrunde gegangene oder noch nicht erschienene gegenständliche Bilder. Mit Newmans Farbfeldern wiederum haben Warhols leere Tafeln gemeinsam, „Verkörperungen eines Gefühls“ zu sein – was beide wiederum von Rodcenkos analytisch-kritischem Triptychon absetzt. Allerdings lässt sich kaum ein schärferer Gegensatz denken als derjenige zwischen der Farbmacht von Newmans Gemälden, deren Bildtitel, beispielsweise Day One oder Be, verdeutlichen, dass sie den Durchbruch zum Jetzt und zur Fülle des Seins ermöglichen sollen, und Warhols entleerten Flächen, deren Farbe nicht für sich selbst steht, sondern diejenige der angrenzenden Todesbilder ist und damit, so Alain Jouffroy, das „Verbrechen einer Absenz“ zeigten.
Das Dementi artikuliert sich also zunächst in den beiden einzelnen Bildtafeln der Diptychen, links durch die wuchernde, potenziell endlose Wiederholung desselben Motivs, welche die Möglichkeit des einen gelingenden Bildes negiert, rechts durch die gegenläufige Zurschaustellung des fehlenden Bildes. Die beiden Dementis sind zugleich wechselseitig aufeinander bezogen, indem das unablässige ‚Reden‘ der Siebdrucke durch das ‚Schweigen‘ der blanks beantwortet wird, und umgekehrt. Auf eine höchst theatralische Weise, welche die Theatralität der gezeigten Tode aufnimmt und steigert, inszenieren die riesigen, wandartigen Disaster-Diptychen die Unmöglichkeit, der Katastrophe des Todes zu einem angemessenen bildnerischen Ausdruck zu verhelfen. Weil kein Bild ihn zu erfassen vermag, wird es wiederholt, verschoben, verunstaltet (im Falle der Fotografien) oder verneint (im Falle der leeren Leinwände). Die psychische Dynamik, die sich darin abzeichnet, kann mit Worten Jacques Lacans umrissen werden:

„Wiederholen“, schreibt Lacan in den Vier Grundprinzipien der Psychoanalyse, „ist Wiederholen einer Enttäuschung, und zwar der Erfahrung als enttäuschende. Wiederholen steht im Zusammenhang mit einem Realen, das das Subjekt notwendig verfehlen muss, was sich aber gerade in diesem Verfehlen enthüllt.“

Warhol selbst widmet dem Tod in der ansonsten redseligen Philosophie des Andy Warhol gerade einmal zwei kurze Passagen. Deren zweite reiht lauter Negationen aneinander und wiederholt somit jenes Verfehlen des Realen, das die Bilder durchzieht, auf der Ebene der Sprache: „Ich glaube nicht daran, weil man dann nicht mehr da ist und gar nicht mehr mitbekommt, dass es passiert ist. Ich kann gar nichts zum Thema sagen, weil ich darauf nicht vorbereitet bin.“

Das Subjekt – so könnte man diese verschiedenen Ebenen aufeinander beziehen – kennt den Tod nicht, weil es für dessen Erkenntnis entweder zu früh oder zu spät kommt. Das Bild wiederum zeigt den Tod nicht, weil dieser eine strikt subjektive Erfahrung bleibt, die nicht nach außen, in die Sichtbarkeit, treten kann. Dass der Tod nie Teil des Bildes wird, sondern vielmehr jenen Riss bedeutet, der das Bild und den Referenten auseinanderreißt: das enthüllen Warhols Diptychen am (fotografischen) Bild.

Einleitung
1. Death in America
2. Von der Faktografie zur Faktur
3. Blanks
Punkt Warhol Disaster-Diptychon 4. Das Dementi als Bildform
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Warhol Leere Leinwand Figur Grund Monochromie

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Warhols Disaster-Diptychen: Das Dementi als Bildform

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3. Blanks

Die leeren Bildtafeln, auf die ich nun zu sprechen komme, stellen gewissermaßen die Auslagerung und Verselbständigung jener offen gebliebenen Leinwandpartie in White Disaster I dar. Warhol bezeichnete sie als „blanks“ – wie screen ein mehrdeutiges Wort. Es meint nicht nur leer und unbeschrieben, sondern auch ausdruckslos; auch an die Wortverbindung mental blank – Erinnerungslücke, sei in diesem Zusammenhang erinnert. Die Genese der leeren Leinwände hat bei Warhol nichts mit einer künstlerischen Entwicklung zur Ungegenständlichkeit zu tun, sondern dürfte sich aus der technischen Herstellungsweise der Siebdruckbilder erklären. Warhol begann jeweils mit dem Ausrollen der Leinwand auf dem Boden, grundierte sie farbig und bedeckte sie schließlich mit den schwarz gedruckten fotografischen Motiven. All dies spielte sich vor dem Zuschneiden und Aufspannen der Leinwände ab. Bereits die innerbildliche Serialität, also das mehrfache Zeigen desselben Motivs auf einer einzigen Leinwand, dürfte der Entscheidung geschuldet sein, die bedruckte Leinwand nicht wie geplant zu zerteilen, sondern als ein einziges Bild zu belassen. Auf diese Weise entstand aus einem Produktionsprinzip ein Formprinzip. Dasselbe gilt nun, wie ich vermute, auch für die leeren Leinwände, mit dem Unterschied, dass der Herstellungsvorgang hier noch früher abgebrochen wurde. Die blanks sind nicht zu Ende produzierte Bilder, Leerstellen im Tafelbildformat, Grund ohne Figur.

Warhols bildnerisches Vorgehen – das in den Diptychen besonders anschaulich wird, da sie gleichsam zwei Produktionsstufen desselben Bildes zeigen – radikalisiert die Figur-Grund-Problematik, welche die moderne Malerei spätestens seit Cézanne und dem Kubismus prägte. Mit Radikalisierung ist gemeint, dass Figur und Grund hier als distinkte, ja autonome Bildkomponenten vorgeführt werden, die erst auf der Oberfläche des Bildes zueinander kommen, indem sie buchstäblich übereinander gelegt werden. Damit kommt eine dritte Wortbedeutung von screen ins Spiel: die Projektionsleinwand. In Warhols screen prints entstehen Figur und Grund nicht im Zuge desselben bildnerischen Prozesses, so wie es in der klassischen Malerei der Fall ist. Vielmehr stellt Warhol zunächst den Grund als einen materiellen Träger her, auf den die Figur – d. h. die Drucke – in einem zweiten Schritt gleichsam projiziert werden.

Als distinkte Komponenten erscheinen Figur und Grund aber auch deshalb, weil die bunten, heiteren Farbgründe ein strikt heterogenes Moment ins Bild bringen. Warhols Farben begleiten das Dargestellte nicht wie Filmmusik, die das visuelle Geschehen passend und effektsteigernd umspielt. Zwischen den Bilderbuchfarben und den gezeigten Katastrophen klafft vielmehr eine Lücke, und beides stößt sich gegenseitig ab.

Obwohl Figur und Grund (bzw. Motiv und Farbe) in produktionstechnischer wie auch in ästhetischer Hinsicht distinkte, ja heterogene Bildbestandteile sind, treten sie aufgrund von Warhols Siebdruckverfahren in eine intensive Wechselbeziehung. Das liegt insbesondere an der forcierten Aufrasterung der Fotografien, die dazu führt, dass die Motive von der Grundierungsfarbe regelrecht imprägniert werden. Wenn Warhol seine Bilder Blue Electric Chair oder Green Car Crash nennt, ist das jeweils ganz wörtlich zu verstehen: Alles im Bild wird blau oder grün. So ist beispielsweise die Rückenlehne des elektrischen Stuhls genau so strahlend blau wie die Bildtafel rechts. Denn da die Übersteuerung des Bildkontrasts, die zur Eliminierung der Zwischentöne führen sollte, an dieser Stelle des Drucksiebs nur eine leere, lediglich durch die Außenkontur bestimmte Fläche erzeugte, kommt die Grundierungsfarbe hier ungebrochen zum Vorschein. Auf diese Weise gewinnt Warhol die Möglichkeit, allein durch das Kombinieren des Siebs mit verschiedenfarbigen Leinwänden verschiedene Varianten desselben Gegenstandes zu erzeugen. Eine blaue Leinwand, obschon lediglich die Projektionsfläche für das Druckmotiv, erzeugt einen blauen elektrischen Stuhl, eine rote Leinwand einen roten, usw. Auf diese Weise gelingt Warhol das Paradox invarianter Varianten. Dieses Paradox der Todesbilder, immer gleich und immer anders zu sein, führt uns zu Peggy Phelans Unterscheidung von „performance“ und „performativity“ zurück: zum problematischen Verhältnis zwischen dem irreduzibel singulären Sterben und der Allgemeinheit des Todes, das sie in Warhols Bildern verkörpert sieht.

Das gegenstrebige Verschmelzen und Auseinanderfallen von Figur und Grund führt nun bei den blanks dazu, dass das Motiv, obschon es dort gerade nicht erscheint, in ihnen gleichwohl nachhallt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dieses habe sich darin aufgelöst wie ein Eiswürfel im Wasser. So erscheinen die blanks als Aufhebung des Bildes. Es geht darin zu Grunde und bleibt in diesem Grund zugleich aufbewahrt.

Einleitung
1. Death in America
2. Von der Faktografie zur Faktur
Punkt Warhol Disaster-Diptychon 3. Blanks
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Warhol Pressefotografie Siebdruck Serialität

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Warhols Disaster-Diptychen: Das Dementi als Bildform

in: Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit, hrsg. von Anke Hennig und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 71), Wien/München 2008, S. 475-507.

2. Von der Faktografie zur Faktur

1949 erwarb Warhol am Carnegie Institute of Technology einen Bachelor of Fine Arts in Pictorial Design. Damit schloss er eine Ausbildung ab, die besonders auf kommerzielle Graphiker zugeschnitten war. Sie zielte weniger auf die direkte, unmittelbare Fertigung von Bildern in einem klassisch-künstlerischen Sinne, sondern in erster Linie auf die Verwendung bereits vorhandenen Materials für neue bildliche Zusammenhänge.

Das pictorial design der Todes-Serie umfasste jeweils zwei Arbeitsschritte. Vom ersten war bereits indirekt die Rede: der Auswahl von geeigneten, bestimmte Merkmale aufweisenden Pressefotografien. Der zweite Arbeitsschritt betrifft nun die technisch-ästhetische Umarbeitung der Vorlagen zum Siebdruck-Tafelbild.

Was zunächst den Aspekt des Reproduzierens betrifft, verschlechterte Warhol die Originalbilder in mehreren Verfahrensschritten. Das Fotolabor, das die Drucksiebe herstellte, wies er an, den Kontrast zu übersteuern und die Körnigkeit zu erhöhen. Beim Drucken der Siebe verminderte Warhol die Bildqualität erneut, indem er die Druckfarbe ungleich verteilte, das Sieb schlecht reinigte, die Bilder sich überlappen ließ oder am Rand abschnitt. Vor das Bild schob sich ein Filter aus Unschärfe, Detailarmut und schlampiger Ausführung, so als hätte Warhol die mehrfache Bedeutung des englischen Wortes screen wörtlich genommen, das nicht nur Drucksieb, sondern auch Filter, Maske und Tarnung meint.

Das serielle Drucken eines Motivs auf dieselbe Leinwand, m. E. Warhols bedeutsamste gestalterische Erfindung, verstärkte diese Bildmaskierung. Die Aufreihung bettet die Bilder in einen rein formalen Zusammenhang ein. Inhaltlich gesehen erzeugt die Aufreihung hingegen bloße Redundanz, also gerade keinen Zusammenhang. Das formale Verweben der Bilder steigert die Präsenz des Bildes als Oberfläche, während sie diejenige des Bildes als Abbild vermindert. Das kann so weit gehen wie in Suicide (Fallen Body), bei dem das Motiv im Flächenornament beinahe verschwindet. Zugleich aber fesselt diese Ornamentalisierung den Blick. Dies dürfte ein Grund sein, warum die Werbung serielle Wiederholungen häufig einsetzt. Das NONSTOP der Iteration, das dieses Werbebeispiel zur visuellen Metapher für die kontinuierliche Leistung der beworbenen Fluggesellschaft macht, verändert bei der disruptiven Qualität von Warhols Todesmotiven jedoch seine bildliche Semantik. Es wird zum stehenden Jetzt eines grauenhaften Ereignisses, dem die Rückkehr in den Zeitfluss verwehrt wird.

An Warhols technisch-ästhetischer Umsetzung der Fotografien in die Siebdruck-Tafeln lassen sich jeweils zwei gegenläufige Bewegungen beobachten. Zum einen droht eine schlampige, gleichgültige Produktionsweise den Gegenstand zum Verschwinden zu bringen. Zum anderen aber affiziert der Gegenstand den Druckprozess, indem das Faktum des Todes auf der Bildoberfläche, am Ort seines drohenden Verschwindens, wiederzukehren scheint. Das zeigt sich insbesondere an den signifikanten Störungen in der Bildfaktur. So ereignet sich das doppelte Sterben in Ambulance Disaster nicht nur auf der motivischen Ebene, sondern erneut im Augenblick des Druckvorgangs. Im unteren der beiden Drucke löscht eine tränenförmige Ausweißung das Gesicht der Toten aus, als werde es verhüllt oder – in einer aggressiveren Lesart – als sei es zum Gegenstand eines ikonoklastischen Aktes geworden. Technisch gesehen handelt es sich um eine jener Druckpannen, die Warhol durch seine Nachlässigkeit zwar provozierte, die sich in ihrer jeweiligen Form jedoch zufällig ergaben – in diesem Falle durch die ungleiche Verteilung der Farbe, als sie durch das Sieb gedrückt wurde. In seiner lakonischen Art nannte er sie „Vorfälle an der Oberfläche“, womit er bereits sprachlich eine Verbindung zwischen dem Motiv, jenem ‚Vorfall‘ auf den Straßen Chicagos, und dem Bildprozess zog. Die Druckpanne von Ambulance Disaster steht nicht allein. Tunafish Disaster handelt von zwei Frauen, die vermutlich durch eine Dose vergifteten Fisch gestorben sind. In Warhols Bild sind die lachenden Gesichter der Frauen und die Thunfischdose in einer Weise verätzt, als wirke das Gift auch hier. 5 Deaths wiederum zeigt eine besonders lapidare Variante eines solchen Bild-‚Vorfalls‘. Die beiden Drucke sind so nach unten gerutscht, dass der Bildrand genau denjenigen Bildteil abtrennt, der die im Wagen festklemmenden Unfallopfer zeigt.

Auch die serielle Wiederholung der Drucke erzielt den doppelten Effekt, die Sichtbarkeit des Motivs anzugreifen, aber gerade dadurch die gezeigte Katastrophe an der Bildoberfläche zu wiederholen. So beginnen sich in Green Car Crash die Bilder der mittleren Reihe übereinander zu schieben, um in der untersten Reihe in einer wüsten Kollision zu enden. White Disaster I schließlich zeigt eine gegenläufige Variante der Bildauslöschung. Hier folgen die Drucke regelmäßig aufeinander, dann aber stockt der Druckprozess, das letzte Bild fällt aus und hinterlässt wie in plötzlicher Aphasie ein Stück leere Leinwand.

Einleitung
1. Death in America
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4. Das Dementi als Bildform
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Warhol Todesserie Electric chair Car crash

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1. Death in America

Warhols Diptychen gehören fast ausnahmslos zur sogenannten Todes-Serie, die das Werk der frühen und mittleren 1960er Jahre zahlen- und bedeutungsmäßig dominiert. Sie bildet ein wahres Panoptikum von Toten und Todesformen, von Unfallopfern über den elektrischen Stuhl und die Atombombe bis zum Selbstmord Marilyn Monroes oder der Erschießung John F. Kennedys. Die Serie umfasst zwei Unterserien. Die eine handelt von berühmten Toten wie Marilyn Monroe, wodurch sich hier Überschneidungen mit Warhols Serie der Starporträts ergeben. Die andere Unterserie, die sogenannten Disaster Paintings, befasst sich hingegen mit anonymen Toten. Sie ist Warhols motivisch und formal radikalste Werkgruppe. Sie zeigt gewaltsame Todesformen, deren ‚Modernität‘ unter anderem darin liegt, dass sie häufig mit technischen Apparaten verbunden sind. Der Tod tritt als Ergebnis falschen Funktionierens (Car Crashes) oder präzisen Funktionierens (Electric Chairs) ein. Im Augenblick des Todes verbinden sich Mensch und Maschine zu einer verhängnisvollen Einheit. Bei den Electric Chairs stirbt der Mensch durch den körperlichen Kontakt mit dem Stuhl, an den er festgeschnallt ist, bei den Car Crashes sterben Mensch und Maschine gewissermaßen gemeinsam. Warhols Disaster führen ausgesprochen theatralische Todesformen vor. Entweder bricht die Wucht des Aufpralls den Innenraum des Autos auf und gibt den Blick auf die Leiche frei, oder die Leichen werden aus dem Wagen heraus dem Betrachter entgegengeworfen. Die Theatralität kann so weit gehen, dass der Tod gleich zweifach inszeniert erscheint. In White Disaster I erlitt der Fahrer nicht nur einen heftigen Unfall, dem er kaum lebend entkommen wäre, sondern wurde darüber hinaus so aus dem Wagen geschleudert, dass er wie ein Gehängter an einem Telefonmast baumelt. Ambulance Disaster wiederum zeigt eines von zwei Notfallfahrzeugen, die vom gleichen Unfallort aufbrachen und später zusammenstießen. Dadurch wurde die aus dem Wagen heraushängende Frau zum zweiten Mal zum Verkehrsopfer, diesmal in dem Fahrzeug, das sie hätte retten sollen. Warhol musste nach solchen Bildern lange suchen, und seine Freunde, darunter solche, die in Bildredaktionen arbeiteten, versorgten ihn zusätzlich mit dem Sensationellsten, das sie finden konnten.

Gerade weil sich diese Tode nicht in der Intimität eines Sterbezimmers vollziehen, sondern in der Öffentlichkeit, stehen sie in einem ambivalenten Bezug zum Betrachter. Zum einen ‚platzen‘ die malträtierten Körper in die Sichtbarkeit hinein und drängen sich unserem Blick geradezu auf, zum anderen gewinnt der ungehinderte Blick darauf einen obszönen Zug, angesichts einer Situation, bei der Zurückhaltung oder aber entschiedenes Eingreifen angemessen wäre. Dieser obszöne Blick ist zuweilen in den Bildern selbst enthalten. Im Hintergrund von White Disaster I geht ein Mann, die Hände in die Hosentaschen gesteckt und den Kopf zum Unfallort gewendet, unbeteiligt seines Weges. In diesem Aufeinanderprallen von höchster Dramatik und Gleichgültigkeit, das die Qualität eines Bartheschen „punctums“ erreicht, spiegelt sich die Heterogenität zwischen dem Ereignis und dessen Betrachtung: die Unmöglichkeit, sich zum Sichtbaren in ein sinnvolles Verhältnis zu setzen. Im Falle eines weiteren Car Crash-Motivs stehen wir sogar Auge in Auge mit den beiden weiblichen Unfallopfern, welche die Kollision überlebt haben und auf ihre Befreiung aus dem Autowrack warten; obszön erscheint hier nicht nur der Blickwechsel über die Bildgrenze hinweg, sondern auch die Tatsache, dass jemand dieses Foto schoss und dabei die beiden Frauen sozusagen porträtierte.

Die Electric Chairs führen eine noch wörtlichere Variante theatralischen Sterbens vor: Das Sterben erhält seine eigene Bühne und sein eigenes Publikum. Das Hinweisschild mit dem Wort SILENCE beginnt im Hinrichtungsraum immer dann zu leuchten, wenn der Stromstoß unmittelbar bevorsteht, als Schweigeaufforderung an die gesetzlich vorgeschriebenen Zeugen, die dem Verurteilten gegenübersitzen. Die Ungleichheit zwischen Verurteiltem und Zeugen, die das Hinrichtungsgeschehen von einer Bühnensituation unterscheidet, findet seine Entsprechung in einer asymmetrischen Blickbeziehung. Denn die Zeugen sitzen hinter einer einseitig verspiegelten Scheibe, die ihnen den Blick erlaubt, den Warhols Bild zeigt, sie zugleich aber vor dem Verurteilten verbirgt. Bereits als Motiv verweisen die Electric Chairs auf einen Aspekt, der angesichts von Warhols bildnerischer Verarbeitung erneut anzusprechen sein wird: das Wiederholungsmoment. Hier ist es dadurch gegeben, dass die Verurteilten wechseln, der Stuhl hingegen bleibt. Das zu exekutierende Subjekt bleibt ausgespart, wir sehen lediglich die Bühne, vor oder nach dem Akt. Damit ist eine generelle Spannung von Warhols Disasters berührt, die Peggy Phelan als Spannung zwischen „performance“ und „performativity“ beschreibt. Auf der einen Seite zeigten die Bilder, so Phelan, die individuelle Performance des Sterbens – dieses Mannes am Telefonmast, jener Frau im Ambulanzfahrzeug -, auf der anderen Seite deren Einrücken in die allgemeine Performativität des Todes, in die zahllosen Autounfälle, Hinrichtungen oder Selbstmorde, die bereits geschehen sind und noch geschehen werden. Warhols Bilder thematisierten, so Phelan weiter, die Kluft, aber auch den Übergang zwischen dem singulären Tod, der die Geschichte entzweie und das Sprechen unterbreche, und der Iteration des Todes, die das einzelne Sterben als kulturelles Phänomen und als statistische Größe banalisiere und dem Diskurs wieder öffne.

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4. Das Dementi als Bildform
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