Rhetorik Cezanne Klee Lorrain Pollock Natur

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Wahrscheinlichkeit. Zur Rhetorik der Kunst

in: Daidalos 64, Juni 1997 (Sondernummer „Rhetorik), S. 80-89.

Abschnitt IV

Was aber meint „Stimmigkeit“ oder „innere Kohärenz“ bei einem Kunstwerk? Cézannes Bild der Montagne Ste.-Victoire besteht aus einzelnen Flecken, die mehrdeutig sind. Sie verweisen zum einen vage auf Wiedererkennbares (Berg, Himmel, Bäume), gleichzeitig aber sind sie das, was vorhin „Funktionen des Ganzen“ genannt wurde. Sie sind Farbsetzungen, die mit den anderen Farbsetzungen des Bildes in einen Austausch treten und eine kompositorische und farbliche „Textur“ ausbilden. Diese „Textur“ ist nicht gegenständlich definiert (als das realräumliche Verhältnis von Baum, Häusern und Berg), sondern unterliegt einem rein malerischen Kalkül. Cézanne balanciert die beiden Funktionen der Farbflecken sorgfältig aus. Ihr Wiedererkennungswert ist soweit reduziert, daß oft unklar bleibt, was sie konkret „bedeuten“. Sie gewinnen dadurch die Autonomie, die ihnen die Herstellung der malerischen „Textur“ erlaubt. Erst im Zusammenspiel der beiden Funktionen der Flecken, der abbildenden und der bildstrukturellen, entsteht das, was sich schließlich als „Landschaft“ zu erkennen gibt. „Stimmig“ ist Cézannes Bild also nicht aufgrund seiner Abbildleistung (als getreues Bild einer tatsächlich existierenden Landschaft), sondern durch die Art und Weise, wie es sich im komplexen Zusammenspiel seiner einzelnen Elemente aufbaut. Bevor ein Bild etwas zu zeigen vermag, in dem Fall eine Landschaft, muß es sich selber „zeigen“. Es ist dieser Prozeß, in dem die einzelnen Teile zusammenfinden und sich zum „Bild“ verdichten, der uns von „Stimmigkeit“ und „innerer Widerspruchslosigkeit“ sprechen läßt. An anderen Landschaftsdarstellungen läßt sich das vertiefen. Klee arbeitet in seinem Aquarell mit ähnlichen stukturellen Mitteln wie Cézanne. Allerdings führt das Nebeneinander von mehr abstrakten und mehr gegenständlichen Elementen (Schiff oder Pflanzen) dazu, daß nicht nur einzelne Elemente, sondern das Bild als ganzes zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit zu oszillieren beginnt. Eine zentrale Rolle spielt außerdem der überall durchscheinende weiße Blattgrund, der das Bild von Licht durchflutet, ja das Licht zum eigentlichen Ausdrucksträger werden läßt. Für Claude Lorrains arkadische Szenerie ist hingegen die ausgewogene, u.a. mit dem goldenen Schnitt arbeitende Proportionierung der einzelnen Bildgewichte (z.B. Baum oder Burghügel) konstitutiv. Für die Bildordnung ebenso wichtig ist das milde Gegenlicht, das durch die Silhouettierung von Baum, Hügel usw. die Raumabfolge sorgfältig gliedert. Insgesamt entsteht so die ausgebreitete Übersichtlichkeit, die die Natur bei Lorrain als ideal gebaut erscheinen läßt. Historisch wieder in die andere Richtung gehend, erkennen wir in Jackson Pollocks Lavender Mist ein energetisch aufgeladenes Feld, das sich aus übereinanderliegenden Schichten von Farbspuren erzeugt, die Pollock in einem heftigen Malakt auf die unter ihm auf dem Boden liegende Leinwand spritzte. Es ist ein „Lavendelfarbener Nebel“, dessen Tiefe und Grenzen unabsehbar sind. Wir sehen uns einer stehenden Ruhelosigkeit gegenüber, in der wir uns verlieren und die uns durch ihre ebenmäßige Dichte gleichwohl hält. Die vier unterschiedlichen Bilder sind dadurch miteinander verbunden, daß sie alle Bilder der Natur sind. Wenn wir ihre „Stimmigkeit“ jedoch als Prozeß beschreiben, im dem das bloße Nebeneinander von Farben und Formen, das wir auf dem Bild vorfinden, zu einem Ganzen wird, gewinnen wir eine präzisere Auffassung davon, worin ihre mimetischen Qualitäten liegen. Entscheidend ist nicht die Abbildbeziehung als solche, sondern die Analogie des „Erscheinens“. In dem Maße, wie die Bilder Lorrains, Cézannes, Klees oder Pollocks sich als bildnerische Zusammenhänge aufbauen, entwerfen sie ein „Bild“ davon, wie das Raum-Zeit-Gefüge der Natur zu verstehen und zu erfahren ist. Wenn es der Kunst gelingt, „wahrscheinlich“ zu sein, vermag sie Orientierungen darüber zu geben, wie die Wirklichkeit zu deuten wäre. Die Kunst ist daher immer auch eine Schule des Sehens – im unmittelbaren wie im übertragenen Sinne. Sie entfaltet einen intersubjektiven Sinn, den die Rhetorik als sensus communis, als „Gemeinsinn“, beschrieb.

Abschnitt I
Abschnitt II
Abschnitt III
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Pfeil Abschnitt V
Abschnitt VI
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