Robert Smithson Spiral Jetty Entstehung Erfahrung Bild

Smithsons Erstversion der Spiral Jetty als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.410 KB)

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Das falsche Bild
Robert Smithsons verworfene Erstversion der Spiral Jetty

in: Was ist ein Bild? Antworten in Bildern (Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag), hrsg. von Sebastian Egenhofer, Inge Hinterwaldner und Christian Spies, Paderborn 2012.
Robert Smithsons Erdskulptur am Ufer des Großen Salzsees in Utah ist nicht erst durch ihr jahrelanges Verschwinden und überraschendes Wiederauftauchen zum Mythos geworden. Der Mythos begann an ihrem Ursprung, als ihre Form dem Künstler wie eine Vision erschien, in der glückhaften Verbindung zwischen den gehegten Erwartungen an den Ort und der überwältigenden ästhetischen Erfahrung im Augenblick der dortigen Ankunft. Was Smithson in die Einöde gelockt hatte, war das aufgrund eines erhöhten Bakterienanteils gerötete Salzwasser. Was er an Ort und Stelle fand, war entschieden mehr, nämlich das Erfasstwerden von einem fundamentalen Schwindel, der, wie er im Essay zu Spiral Jetty schrieb, »keine Ideen, keine Konzepte, keine Systeme, keine Strukturen, keine Abstraktionen« Bestand haben ließ angesichts der »Wirklichkeit dieser Evidenz«. Beim Aufbruch zum Salzsee besaß Smithson lediglich vage Vorstellungen der zu realisierenden Arbeit – ihm schwebte eine mit Booten erreichbare Insel vor –, doch wollte er den Ort darüber entscheiden lassen. Die Hoffnung, die Form nicht selbst suchen zu müssen, sondern sie dort zu finden, sollte sich auf das Eindrücklichste erfüllen:
»Als ich den Ort betrachtete«, heißt es im erwähnten Essay, »strahlte er aus bis zu den Horizonten und erweckte den Eindruck eines unbeweglichen Zyklons, während flackerndes Licht die gesamte Landschaft erzittern ließ. Ein schlummerndes Erdbeben breitete sich wie eine flirrende Stille aus, wie ein Wirbel ohne Bewegung. Dieser Ort war eine Rotation, eingeschlossen in eine immense Rundung. Aus diesem kreisenden Raum trat die Möglichkeit der Spiral Jetty hervor.«
Obschon Smithson jede Orientierung verlor, blieb ihm die Fähigkeit erhalten, jene Form zu erkennen, die diese Erfahrung zu fassen erlaubte: die Spirale, das uralte, Kultur- und Naturgeschichte durchziehende Symbol des Ineinander von Expansion und Kontraktion, Anfang und Ende, Raum und Zeit.
Entsprechend zur Konzeptualisierung der Kunst in den 1960er Jahren, die die Idee des Kunstwerks von dessen Ausführung scheiden wollte, blieb das Übrige eine Angelegenheit technischer Ausführung. Smithsons Essay nimmt nun einen entsprechend nüchternen Ton an, schildert das Abschließen eines Pachtvertrags, die Suche nach einem Bauunternehmer und die Konstruktionsarbeiten selbst. Doch gerade hier, wo der Essay als bloßer Tatsachenbericht auftritt, wird er fiktional: So wurde die Arbeit nicht gebaut. Gebaut wurde keine Spirale, sondern eine auf sich zurückgebogene Mole mit einer kreisrunden Plattform am Ende. Diese verblüffende Fotografie (Abb. 1) findet sich in einem Erinnerungstext des ausführenden Ingenieurs und Bauunternehmers Bob Phillips. Phillips erzählt darin nicht nur die Ereignisse, die von Smithsons erster Kontaktaufnahme bis zu dessen Lob beim Abschluss der Arbeiten reichen, sondern ebenfalls, wie ein verunsicherter Smithson eine Woche später anrief, sie müssten die Jetty »in Ordnung bringen«, es sei »alles falsch«. Phillips wehrte sich daraufhin mit dem Argument, die Arbeiten seien vertragsgemäß ausgeführt worden und Smithson habe sie abgenommen. Nur die Zusicherung einer erneuten Zahlung in halber Höhe des schon Gezahlten und die Bereitschaft eines Fahrers, den weiten Weg in die Einöde mit seinen Maschinen nochmals anzutreten, stimmte Phillips um. In lediglich drei Tagen wurde die Verlängerung der Mole zur Spirale bewältigt, da für einen Großteil der zusätzlichen Windungen das Material der abgetragenen Plattform ausreichte, nachdem Smithson deren Wiedererrichtung am Ende der Spirale verworfen hatte.
Smithson erwähnt die erste Realisierung an keiner Stelle, weder im Essay noch im SpiralJetty-Film, den er noch im selben Jahr 1970 realisierte. Smithson verband hier die Bildsequenzen vom Beginn der Bauarbeiten unmittelbar mit jenen, die die fertige Spirale zeigen. Das ist nicht ohne Pointe: Das letzte, wie ein Nachwort inszenierte Bild des Films (Abb. 2) zeigt eine große Fotografie der Spiral Jetty, die hinter einem Tisch mit Projektoren und ihren mächtigen Filmspulen an der Wand hängt. Die Spirale der Skulptur und der aufgewickelte Film werden in Analogie zueinander gebracht – eine Analogie, auf die auch Smithsons Essay zur Spiral Jetty abhebt. Damit wird der Film, trotz der Möglichkeiten von Schnitt und Montage, zu einem Kontinuum von der Art der gebauten Spiralmole erklärt. Das einprägsame Schlussbild überspielt die narrative Lücke im Film ebenso wie der Film den Bruch in der Konzeption und in der Ausführung der skulpturalen Arbeit. Zweifelhaft erscheinen nun auch Smithsons zahlreiche Spiralskizzen, von den Kritzeleien, die erste Gedanken festzuhalten scheinen, bis zu den kartografisch präzisen Zeichnungen zur konkreten Bauplanung: Sie sind, so meine Vermutung, ebenso nachträglich wie der Essay und der Film.
Phillips Bericht ist mehr als eine Anekdote, denn einerseits wirft er ein Licht auf die Prozessualität künstlerischer Formfindungen, andererseits lässt er schärfer heraustreten, worin die Qualität der finalen Spiral Jetty liegt. So konterkariert der tatsächliche Bauprozess den konzeptkünstlerischen Idealismus, den Smithson insbesondere in seinem Essay evoziert, indem er offenbart, dass das Finden künstlerischer Formen nicht linear von der Wahrnehmung über die Reflexion zur Realisation verlief, sondern – wie bei der Verfertigung von Kunstwerken generell – mit nie aufzuhellenden Wechselwirkungen zwischen diesen Aktivitäten. Ob eine Form ›richtig‹ ist oder noch ›in Ordnung gebracht‹ werden muss, lässt sich immer erst dann entscheiden, wenn sie realisiert ist. Und so war es bei Spiral Jetty nicht die ›Evidenz‹ des Ortes, aus dem die Spiralform ›hervortrat‹, sondern die Betrachtung der dort hineingesetzten Plattform-Mole, die Smithson die Spirale als das passende Bild für seine primordiale Erfahrung aufgehen ließ.
Was wiederum die Qualität der finalen Form betrifft, so bringt sie Phillips in seinem Bericht auf den Punkt. Bei der ersten Realisierung sei er überzeugt gewesen, einen gut gemachten Deich gebaut zu haben, jetzt aber sei er von der »Schönheit« des Anblicks überwältigt gewesen. Die Erstausführung wäre eine erfahrungsästhetische Infrastruktur gewesen, die dem Besucher ermöglicht hätte, auf der Plattform wie im Auge des von Smithson erfahrenen Vortex stehend die vom Künstler gemachte Erfahrung wiederholen zu können. Smithson setzte damit die Anfangsidee einer Insel um, unter Ersetzung der Boote durch eine praktischere Landverbindung.
Mit der Spiralform hingegen schuf er ein Bild, in das vielfältigste Phänomene eingefaltet sind und aus dem sich wiederum weiteste Zusammenhänge entfalten. Der halbstündige Film über die Erdskulptur inszeniert das Wechselspiel von zeichenhafter Verdichtung und semantischer Expansion auf brillante Weise. Hervorgehoben sei vor allem die Verschlingung von materiell und dimensional Heterogenem. Beispielsweise zeigt der Film ein Close-up der Salzkristalle, die an den Basaltbrocken der Jetty wachsen und deren spiralförmiges Auskristallisieren Smithsons Stimme erläutert, und kombiniert sie mit Aufnahmen aus dem Helikopter, bei denen sich die Sonne genau im Mittelpunkt der Spiral Jetty im Wasser spiegelt, was den Effekt hat, dass wir wie durch ein Teleskop auf ein spiralförmiges Sonnensystem zu blicken meinen. So verbinden sich Kristallografie und Astronomie, kosmologische Urzeit und aktuelle Gegenwart, mikrologisches Wachstum und galaktisches Verglühen. Der ins glitzernde Wasser wie in einen immateriellen Raum hinausführenden Spiralmole gelingt es, diese schwindelerregende Verschlingung ästhetisch erfahrbar zu machen, indem das Mikrologische soweit vergrößert und das Kosmologische soweit verkleinert wird, bis es in der Dimension der gebauten Arbeit ineinander umschlägt.
Smithsons Konnex von Kristallografie und Astronomie ist eine kühne ästhetische Spekulation, ein ›Schwindel‹ im doppelten Wortsinn, da anorganische Salzkristalle, die unter Schwerkraftbedingungen wachsen, und Galaxien, die im Kraftfeld von Materie und Anti-Materie entstehen, objektiv unvergleichlich sind – ebenso unvergleichlich wie der steinerne Grat der Mole mit dem gepanzerten Rücken einer Echse oder die schweren Erdmaschinen mit den Dinosauriern, die der Film zusammenschneidet. Spiral Jetty setzt indes nicht wissenschaftliche Befunde ins Bild, sondern die gegenteilige Erfahrung des Kollapses von Kategorien und Systemen, mit der Folge, dass empirisch Unzusammenhängendes ästhetisch – durch die Inszenierung von Ähnlichkeiten – zueinander in Relation tritt.
Der Aufstieg der Spiral Jetty zur Ikone der Land Art hängt wesentlich damit zusammen, dass sie, obgleich die Land Art eigentlich auf die Erfahrung des Ortes abzielt, bereits als Bild funktioniert – im Unterschied zur verworfenen Erstversion, deren Fotografie lediglich etwas verspricht, was sie selbst nicht zu zeigen vermag.

Smithsons Erstversion der Spiral Jetty als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.410 KB)

Wittgensteins Aspektbegriff, exemplifiziert an Pollocks Malerei

Das Medium der ästhetischen Erfahrung als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.171 KB)

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Das Medium der ästhetischen Erfahrung
Wittgensteins Aspektbegriff, exemplifiziert an Pollocks Malerei

in: Imaginäre Medialität – Immaterielle Medien, hrsg. von Gertrud Koch, Kirsten Maar und Fiona McGovern, München 2012, S. 125-142.
Inhalt:

Einleitung

Kapitel I: Pollock – nach Kambartel

Kapitel II: Wittgensteins Aspektbegriff

Kapitel III: Aspektwechsel und Kunst

Kapitel IV: „Passen“

Kapitel V: Erfahrung und Interpretation

Wittgenstein Kunstwerk Aspekt Erfahrung Interpretation

Das Medium der ästhetischen Erfahrung als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.171 KB)

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Das Medium der ästhetischen Erfahrung
Wittgensteins Aspektbegriff, exemplifiziert an Pollocks Malerei

in: Imaginäre Medialität – Immaterielle Medien, hrsg. von Gertrud Koch, Kirsten Maar und Fiona McGovern, München 2012, S. 125-142.

Kapitel V: Erfahrung und Interpretation

Wittgenstein betrachtet Kunstwerke als Angebote und Versprechungen, aber auch als Forderungen im Hinblick auf unsere Wahrnehmung. Sie sind keine vom Betrachter abgetrennten Entitäten, sondern suchen die Beziehung zu ihm. Ihre Gestalt erhalten sie im Zusammenspiel zwischen ihrer sinnlichen Beschaffenheit, die sie ihm darbieten, und der Art und Weise, wie sie von ihm gesehen werden. Wer aufgrund von Übung, Wissen und ästhetischer Sensibilität jene Erfahrung des „Passens“ macht, die mit dem Aufleuchten beziehungsweise dem Bemerken des Aspekts einhergeht, macht die Erfahrung, dass zwischen Subjekt und Objekt ein Zusammenhang gestiftet wird, der beide übergreift. Damit wird der Aspektbegriff zur Antwort auf die erfahrungsästhetische Frage, in welchem Verhältnis der künstlerische Gegenstand und die Wahrnehmung des Betrachters stehen – zu einer Antwort, die dieses Verhältnis als produktives Zusammenspiel beider bestimmt. Wittgensteins Ausführungen – aber genauso auch Kambartels Pollock-Deutung, die ich zur Veranschaulichung heranzog – machen deutlich, dass der im Wahrnehmungsgegenstand aufleuchtende Aspekt das Medium der ästhetischen Erfahrung ist, insofern als er dasjenige ist, was Subjekt und Objekt der ästhetischen Erfahrung miteinander vermittelt. Er ist wie ein immaterielles „Bild“, das im Zusammenspiel von Gegenstand und individueller Wahrnehmung entsteht und weder auf Merkmale des Gegenstands noch auf die Subjektivität einer bestimmten Auffassungsweise reduziert werden kann. Der Aspekt ist eine Relation, und Wittgenstein zufolge eine Relation, die „passt“.
Von Negativitätsästhetiken, die die Inkommensurabilität zwischen dem ästhetischen Objekt und der Auffassung des Subjekts betonen, hebt sich Wittgensteins Erläuterung der Kunsterfahrung mit ihrem Zentralbegriff des „Passens“ – das heißt des Kommensurablen – deutlich ab. Negativ an der ästhetischen Erfahrung eines Kunstwerks, so wie Wittgenstein sie bestimmt, ist die wechselseitige Unverträglichkeit der Aspekte, die zu einem nicht stillzustellenden Fluktuieren des Objekts und seiner Wahrnehmung führt. Negativ ist des Weiteren, dass die Kriterien des Passens begrifflich unscharf, ja „dunkel“ bleiben, so dass man sich mit mehr oder minder treffenden Metaphern wie derjenigen einer musikalischen „Antwort“ oder aber mit Gesten, die das Sagen durch ein Zeigen ersetzen, behelfen muss. Positiv an Wittgensteins Fassung ästhetischer Erfahrung ist hingegen die gelingende Vermittlung von Subjekt und Objekt der ästhetischen Erfahrung im Augenblick des Aufleuchtens des Aspekts, und positiv ist die bei Wittgenstein stets vorausgesetzte Möglichkeit, die divergierenden Aspekte in einem übergeordneten Verstehen zu integrieren, weswegen er sich nicht scheut, richtige von falschen Auffassungen des künstlerischen Wahrnehmungsgegenstands zu unterscheiden.
Wittgensteins Ausführungen machen überdies klar, dass wir an jedem Kunstwerk nicht nur andere Erfahrungen machen, sondern dass dieses je Andere sowohl für die Erfahrung als auch für das Verstehen des Kunstwerks prägend ist. Denn auch wenn Wittgenstein das Phänomen, dass ein Kunstwerk seinen Aspekt wechseln kann, als für die Kunsterfahrung wesentlich bestimmt, ist der Aspektwechsel keineswegs schon der eigentliche Gehalt der ästhetischen Erfahrung, sondern lediglich der Ausgangspunkt eines komplexen Verstehensprozesses, der die unterschiedlichen Aspekte, die im Kunstwerk aufleuchten, aufeinander zu beziehen und in ihrem Verhältnis zueinander zu bestimmen hat. Dabei sind die ins Spiel kommenden Aspekte – und damit auch der Wechsel zwischen ihnen – für jedes Kunstwerk spezifisch. Die Erfahrung, dass ein bestimmtes Lineament sowohl iterativ als auch kontingent, sowohl eine Wand als auch ein unbegrenzter Tiefenraum, sowohl eine Expression eines Subjekts als auch eine Darstellung von Naturkräften sein kann, lässt sich so nur an Pollocks Gemälden, ja mehr noch, in dieser Weise nur an Number 32 machen.
Indem die Kunsterfahrung für Wittgenstein nicht nur bestimmte Vermögen im Subjekt erschließt, sondern ausdrücklich auf ein je besonderes Kunstwerk bezogen ist, das in dieser Erfahrung in seiner Besonderheit erschlossen wird, wird deutlich, dass die Erfahrung des Kunstwerks bereits in dessen Interpretation hinüberspielt. Der Aspekt ist, so Wittgenstein, ein Erfahrungsbegriff. Er ist zugleich ein Begriff kunstwissenschaftlicher Hermeneutik.

Einleitung
Kapitel I: Pollock – nach Kambartel
Kapitel II: Wittgensteins Aspektbegriff
Kapitel III: Aspektwechsel und Kunst
Kapitel IV: „Passen“
Punkt Manet Velazquez Kapitel V: Erfahrung und Interpretation
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Das Medium der ästhetischen Erfahrung als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.171 KB)

Wittgenstein Aspekt Bewertung Passen Verstehen

Das Medium der ästhetischen Erfahrung als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.171 KB)

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Das Medium der ästhetischen Erfahrung
Wittgensteins Aspektbegriff, exemplifiziert an Pollocks Malerei

in: Imaginäre Medialität – Immaterielle Medien, hrsg. von Gertrud Koch, Kirsten Maar und Fiona McGovern, München 2012, S. 125-142.

Kapitel IV: „Passen“

Auf der einen Seite betont Wittgenstein die Varietät der Deutungen, die Kunstwerke eröffnen, und er weist überdies darauf hin, dass diese Deutungen, im Unterschied zu denjenigen geometrischer Figuren oder des Hase-Ente-Kopfs, aufgrund ihres emergenten Charakters nicht aus den sinnlichen Merkmalen deduziert werden können. Da es sich um eine Organisation des Wahrgenommenen handelt, gibt es keine einzelnen, im Werk ausfindig zu machenden Elemente, die dafür verantwortlich wären, dass ein Liniengewirr als „Landschaft“ oder ein Musikstück „wie aus weiter Ferne“ wahrgenommen würde. Man kann prinzipiell auf immer neue Aspekte stoßen, was zu einer beständigen Verwandlung, einem nicht anzuhaltenden „Fluktuieren“ des Kunstwerks führt.
Auf der anderen Seite aber stellen Kunstwerke normative Forderungen, wie sie gesehen sein wollen. Dies machen Wittgensteins Beispiele der Kommunikation über Kunstwerke, in denen Wittgenstein zufolge Sätze wie „Du mußt es so sehen, so ist es gemeint“ oder „Jetzt ist es richtig“ eine prominente Rolle spielen, ganz deutlich.
Entscheidend ist also folgender Unterschied: Während die Pointe des Hase-Ente-Kopfs darin besteht, dass seine Aspekte gegensätzlich, aber gleichwertig sind, erfolgt bei Kunstwerken eine Bewertung der Aspekte. Denn hier gibt es Aspekte, bei denen das Wahrgenommene eine qualitative Steigerung erfährt. Das Kriterium für solche Aspekte ist ein „Passen“: „Wenn ich es so sehe, so paßt es wohl dazu, aber nicht dazu.“ In ähnlicher Weise spreche man von der „Notwendigkeit“, mit der ein musikalisches Thema auf ein früheres folge, und begleite die Äußerung mit einer Gebärde. Allerdings zeigen solche Gebärden die Schwierigkeit, das „Passen“ der Elemente oder die „Notwendigkeit“ einer musikalischen Abfolge am jeweiligen Werk begrifflich fassen zu können, und kompensieren dies durch eine Art gestischer Abbildung: Die Gebärde der Hand, die die Gebärde der Musik nachzeichnet, tritt an die Stelle fehlender Worte. Denn das Paradigma des „Passens“, der „Richtigkeit“ der einen Strukturierung gegenüber einer anderen, sei, so Wittgenstein, „freilich dunkel“. An anderer Stelle heißt es diesbezüglich:

„Stets aufs Neue benutzen wir dieses Bild des Klickens oder Passens, wo es in Wirklichkeit nichts gibt, was klickt oder was irgendwo hineinpasst.“

Erneut zeigt sich hier, im besonderen Fall von Kunstwerken, die Emergenz des Aspekts: Die ästhetische Konfiguration, die ich plötzlich bemerke, tritt aus den sinnlichen Merkmalen hervor, ohne dass es mir gelänge, sie daraus abzuleiten. Die Aufforderung „Du musst es so sehen, so ist es gemeint!“ bezieht sich in diesen Fällen nicht auf ein gegenständliches Erkennen, beispielsweise eines Hasen, sondern auf eine andere Anschauung des bereits Wahrgenommenen. Diese andere Anschauung kann aus dem Wahrnehmungsobjekt nicht deduziert und auch nicht als die richtige bewiesen werden; man kann für sie lediglich werben:

„Ich wollte dies Bild [der Sache; M. L.] vor seine Augen stellen, und seine Anerkennung dieses Bildes besteht darin, daß er nun geneigt ist, den gegebenen Fall anders zu betrachten. Ich habe seine Anschauungsweise geändert.“

Die Erfahrung des Passens, die mit dieser neuen Anschauungsweise einhergeht und dieser neuen Anschauungsweise zugleich Überzeugungskraft verleiht, hat nun, wie andere Bemerkungen Wittgensteins verdeutlichen, noch weitere Dimensionen als jene, von denen bislang die Rede war. Bislang ging es um die strukturelle Organisation des Wahrgenommenen, um den „ordnenden Schleier“, den der Aspekt über den Gegenstand breite. Was im Aufleuchten eines Aspekts, der die Bezüge innerhalb des Wahrnehmungsobjekts neu ordnet, jedoch zugleich zum Vorschein kommt, sind die Bezüge des Gegenstands zu anderen Gegenständen, die sich, wenn er so gesehen wird, eröffnen. Auch dies lässt sich an Jackson Pollocks Nummer 32 veranschaulichen. Nehme ich das Bild als ein ungegenständliches Muster wahr, tritt es in Bezug zu anderen mir geläufigen Mustern in Kunst und Nicht-Kunst. Eine entsprechende Auffassung von Pollocks Malerei brachte die zeitgenössische Kunstkritik denn auch dazu, sie als dekorative Meterware anzugreifen, weswegen umgekehrt Kambartel auf der nichtiterativen Struktur des Gemäldes besteht, die es von Tapeten oder Ähnlichem gerade unterscheide. Nehme ich das Bild hingegen als Darstellung wahr, sei es als Darstellung eines immateriellen Tiefenraums, sei es als Darstellung von Naturkräften, werden nicht länger Tapeten als Vergleichsobjekte relevant, sondern ganz anderes, beispielsweise die späten Seerosenbilder Claude Monets (Abb. 6). Die Relationierung von Pollock und Monet, die in der Kunstkritik der 1950er Jahre zum Topos wurde, modifizierte dabei die Auffassung der Malerei beider Künstler. Die Erfahrung von Pollocks Gemälden führte dazu, dass man Monets Spätwerk nicht mehr vorrangig als Ausläufer des Impressionismus, sondern als Vorläufer des Abstrakten Expressionismus sah. Unter dem Eindruck von Pollocks Big canvas painting erkannte man in Monets Seerosen plötzlich den sich hier vollziehenden Übergang vom Bild als Komposition und Durchblick zum Bild als homogene Textur und Feld. Umgekehrt wurde es in der Perspektive von Monets Spätwerk möglich, Pollocks drippings nicht nur als eine auf den Künstler zurückverweisende Aktionsspur, als Expression eines Selbst aufzufassen, sondern in ihr eine neuartige Form von Landschaftsmalerei zu erkennen. Mit anderen Worten: Der Formaspekt, unter dem etwas gesehen wird, und die Relationen, die man zwischen dem Kunstwerk und anderen Objekten herstellt, verschränken sich. Bemerkt man einen neuen Zug an einem Kunstwerk, rückt es in einen neuen Zusammenhang, und wird ein Kunstwerk in einen neuen Zusammenhang gerückt, führt dies dazu, gewisse Aspekte daran allererst wahrzunehmen.
Verglichen mit dem Dreiecksschema oder auch dem Hase-Ente-Kopf, die keine hohen Anforderungen an das Sehenkönnen der jeweiligen Aspekte stellen, braucht das Sehen solcher Aspekte, wie sie gerade hinsichtlich von Pollocks und Monets Malerei genannt wurden, Kennerschaft. Diese Kennerschaft hat nach Wittgenstein zwei Schattierungen. Zum einen setzt sie Übung im Betrachten – oder Hören oder Lesen – voraus, um die strukturellen Eigenschaften, die bei einem Kunstwerk relevant sind, von den ästhetisch irrelevanten zu scheiden. Darin liegt eine der Aufgaben jener Kunstkritik, deren Vorgehen Wittgenstein in seinen Beispielsätzen – „Du musst es so sehen“, „Die Bewegung sollte so verlaufen“ usw. – imitiert. Die zweite Voraussetzung ist Wissen. Wenn ich davon spreche, so Wittgenstein, dass mit einer bestimmten musikalischen Passage auf eine andere geantwortet werde, muss ich mit musikalischen Antworten vertraut sein. Ich muss, so Wittgenstein, die jeweiligen Sprachspiele der Kunst kennen, was letztlich bedeute, die Kultur zu kennen, in deren Rahmen das Werk entstanden sei. Übung und Wissen zieht Wittgenstein im Begriff der Geläufigkeit zusammen. Nur von dem, der imstande sei, jene Sprachspiele mit Geläufigkeit zu spielen, lasse sich sagen, er sehe die relevanten Aspekte; ja mehr noch: Nur bei demjenigen, der sich auskenne, habe es Sinn zu sagen, er habe diese Aspekte erlebt.
Die Erfahrung des „Passens“ stiftet aber noch weitere Relationen als die gerade diskutierten. Im Augenblick des Aufleuchtens des Aspekts sei es, schreibt Wittgenstein, als passe es „in die Welt unsrer Gedanken und Gefühle hinein“. Wie ist dies zu verstehen? Gemäß Wittgenstein gründet der Aspekt weder im Wahrnehmungsobjekt noch im Betrachtersubjekt, sondern ist das Ergebnis ihres produktiven Zusammenspiels. Ein Aspekt leuchtet am Kunstwerk nur dann auf, wenn dem Betrachter die entsprechende Strukturierung des Wahrnehmungsgegenstands gelingt, wofür nach Wittgenstein Geläufigkeit im Umgang mit entsprechenden Kunstwerken, aber auch ästhetische Sensibilität vonnöten sind. Das Kunstwerk passt also deshalb „in die Welt unserer Gedanken und Gefühle“ hinein, weil qua Aspekt die Erscheinungsweise des Gegenstands und die Auffassungsweise des Betrachters zusammenstimmen oder, anders formuliert, weil das Sehen (als sinnliches Perzept) und das Denken (als an das Wahrgenommene herangetragenes Konzept) ineinander aufgehen.
Eine letzte Dimension des „Passens“ schließlich eröffnet Wittgenstein, indem er davon spricht, dass das Verstehen der internen Organisation eines Kunstwerks dieses als Resultat einer künstlerischen Absicht verständlich werden lasse. Wittgenstein formuliert es folgendermaßen:

„Natürlich, so muß es sein!‘ Es ist da, als habe man die Absicht eines Schöpfers verstanden. Man hat das System verstanden.“

Wichtig ist hier die Reihenfolge: Aufgrund des Verstehens des „Systems“ des Kunstwerks – des Insgesamt seiner internen und externen Relationen – wird auf eine vermutete künstlerische Absicht geschlossen. Wittgensteins Formulierung, es sei, als habe man die Absicht verstanden, signalisiert, dass es ihm nicht um Intentionalität geht – um das Erklären des Kunstwerks auf der Basis der rekonstruierten künstlerischen Absicht -, sondern genau umgekehrt um das Schließen auf die strukturierende Tätigkeit des Künstlers auf der Basis des Verstehens der Werkstruktur.
Stellen wir diese Aussagen, die das Aufleuchten des Aspekts als Erfahrung des „Passens“ erläutern, zusammen, dann berühren sich im Aspekt (a) die Form des Kunstwerks, die sich jetzt so zeigt, (b) die externen Objekte, zu denen das Kunstwerk, unter diesem Aspekt gesehen, in Beziehung tritt, (c) die Welt des Wahrnehmenden, in die das Wahrgenommene, auf diese Weise aufgefasst, hineinpasst, und schließlich (d) die Absicht des Künstlers, die jetzt einsichtig wird. Auf diese Weise führt Wittgenstein alle wesentlichen Dimensionen des Kunstverstehens zusammen. Wer die Form, den Kontext, die künstlerische Absicht sowie die subjektive Bedeutung, die ein Kunstwerk für einen selbst gewinnt, „passend“ aufeinander beziehen kann, kann von sich sagen, er habe das Kunstwerk verstanden.

Einleitung
Kapitel I: Pollock – nach Kambartel
Kapitel II: Wittgensteins Aspektbegriff
Kapitel III: Aspektwechsel und Kunst
Punkt Manet Velazquez Kapitel IV: „Passen“
Manet Velazquez Kapitel V: Erfahrung und Interpretation
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Das Medium der ästhetischen Erfahrung als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.171 KB)

Wittgenstein Hase-Ente-Kopf Kunst Aspektwechsel

Das Medium der ästhetischen Erfahrung als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.171 KB)

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Das Medium der ästhetischen Erfahrung
Wittgensteins Aspektbegriff, exemplifiziert an Pollocks Malerei

in: Imaginäre Medialität – Immaterielle Medien, hrsg. von Gertrud Koch, Kirsten Maar und Fiona McGovern, München 2012, S. 125-142.

Kapitel III: Aspektwechsel und Kunst

Ich kehre zu Wittgensteins Erläuterung des Aspektbegriffs zurück. Der Aspekt, unter dem wir etwas auffassen, kann das Gesehene in einer bestimmten gegenständlichen Weise definieren, beispielsweise wenn wir das in Abb. 4 gezeigte Dreieck wechselnd als geometrische Zeichnung, als Berg oder als umgefallenen Körper auffassen oder wenn wir – wie in Wittgensteins berühmtem Beispiel – die in Abb. 5 reproduzierte Zeichnung als Hasen oder aber als Ente sehen. In anderen Fällen hingegen ist der Aspekt weniger gegenstandsbestimmend als vielmehr diesen strukturierend. Als Beispiel für diese anderen Fälle nennt Wittgenstein ein „Gewirr nichtssagender Striche“, in dem plötzlich eine „Landschaft“ erscheine. Diese Landschaft, die in den Linien plötzlich aufleuchtet, verdankt sich, so Wittgenstein, einer Phrasierung des Auges, das einige Zeichen – nicht zwingend alle Zeichen – anders organisiert. Wechselt der Aspekt vom Liniengewirr zur Landschaft, sind, so Wittgenstein wörtlich, „Teile des Bildes zusammengehörig, die früher nicht zusammengehörig waren“. Hier kippen nicht wie beim Dreieck und beim Hase-Ente-Kopf divergierende Gegenstandsbestimmungen ineinander um, sondern ein neuer Aspekt – die Landschaft – tritt aus dem anderen – dem Liniengewirr – hervor. Wenn es sich beim Aspekt um eine solche Strukturierung des Wahrgenommenen handelt, wechseln wir Wittgenstein zufolge zu einer ganz anderen Bedeutung des Begriffs „Aspekt“, in ein „ganz anderes Sprachspiel mit dem Ausdruck ‚etwas so sehen‘“.Den Unterschied zwischen den beiden Sprachspielen benennt Wittgenstein gleich im ersten Eintrag des Kapitels der Philosophischen Untersuchungen, das dem Aspektsehen gewidmet ist:

„Zwei Verwendungen des Wortes ‚sehen‘. Die eine: ‚Was siehst du dort?‘ – ‚Ich sehe dies‘ (es folgt eine Beschreibung, eine Zeichnung, eine Kopie). Die andere: ‚Ich sehe eine Ähnlichkeit in diesen beiden Gesichtern‘ […]. Die Wichtigkeit: Der kategorische Unterschied der beiden ‚Objekte‘ des Sehens.“

Im ersteren Fall ist das Objekt des Sehens ein Gegenstand, den man im Wahrgenommenen erkennt; als Beispiele dafür können das Dreieck oder der Hase-Ente-Kopf dienen. Im anderen Fall ist das Objekt des Sehens etwas, worauf ich nicht zeigen kann, weil es ein Dazwischen meint, beispielsweise die Ähnlichkeit zwischen zwei Gesichtern. Insofern als dieses Zwischen kein Objekt ist, setzt Wittgenstein diesen Begriff in Anführungszeichen. Denn der Aspekt benennt hier kein Objekt, sondern vielmehr eine Relation.
Für die weitere Erläuterung dieses letzteren Falles zieht Wittgenstein fast ausschließlich Beispiele aus der Kunst heran. Sie stammen weniger aus dem Bereich der bildenden Künste als vielmehr aus der Musik und der Literatur – Wittgensteins bevorzugten Künsten. Der Begriff des Aspektsehens wird damit entsprechend gedehnt, „Sehen“ meint dann jeweils so viel wie „Wahrnehmen“, unabhängig davon, um welche Sinne und um welches sinnliche Material es sich im Einzelnen handelt. In einem dieser Beispiele nennt Wittgenstein die „wichtige und merkwürdige Tatsache“, dass ein musikalisches Thema, in schnellerem Tempo gespielt, seinen Charakter ändern könne. In dem Musikstück, das man bislang als immer wieder abreißende Stücke gehört habe, passten die Teile plötzlich zueinander, und es werde nun als Organismus erfahren. Hier zeigt sich das Relationale des Aspekts deutlich: Das Musikstück als Organismus zu erfahren heißt, zwischen seinen Teilen einen Zusammenhang zu erkennen, der vordem nicht wahrgenommen wurde. Wittgenstein veranschaulicht diese strukturierende Tätigkeit von Betrachtern oder Hörern mit Formulierungen, die wie Ausschnitte aus ästhetischen Konversationen klingen: „Du musst diese Takte als Einleitung hören“; „Du musst es so phrasieren“; „Man sagt etwa einem Architekten ‚Mit dieser Verteilung der Fenster schaue die Fassade dorthin‘“; oder man verwende den Ausdruck „Dieser Arm unterbricht die Bewegung der Skulptur“ und schlage vor, „Die Bewegung sollte so verlaufen“, wobei man eine entsprechende Geste mache.
In Wittgensteins ausgreifenden, über verschiedene Textkonvolute verstreuten Erörterungen des „Aspekts“ steht die Kunst jeweils am oberen, komplexen Ende einer Beispielskala, die mit einfachen geometrischen Schemata beginnt. Zugleich steht sie aber auch am Anfang von Wittgensteins Gedankenweg. In der ersten jener Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, die die Aspekttheorie der Philosophischen Untersuchungen vorbereiten, stellt sich Wittgenstein die folgende Frage, die er auch umgehend beantwortet:

„Wie ist man denn überhaupt zu dem Begriff des ‚das als das sehen‘ gekommen? Bei welchen Gelegenheiten wird er gebildet, ist für ihn ein Bedarf? Sehr häufig, wenn wir über ein Kunstwerk reden.“

Damit ist zunächst lediglich festgestellt, dass die Kunst eine jener Situationen sei, bei denen das Aspektsehen häufig auftrete und thematisch werde. Einen entscheidenden Schritt weiter geht Wittgenstein, wenn er, an anderer Stelle, den Aspektwechsel zum wesentlichen Kriterium der Kunst erklärt:

„Aber die Verwendungen [des Ausdrucks ‚Ich sehe es jetzt so‘; M. L.] in der Ästhetik und in der darstellenden Geometrie sind doch grundverschieden. Ist es in der Ästhetik nicht wesentlich, daß das Bild, das Musikstück, etc., seinen Aspekt für mich wechseln kann? – denn für jene Darstellung räumlicher Vorgänge [in der Geometrie; M. L.] ist es das natürlich nicht.“

Wie lässt sich diese Behauptung verstehen? Worin liegt das Wesentliche des Aspektwechsels bei einem Kunstwerk? Was unterscheidet das Kippen zwischen den unterschiedlichen Auffassungsweisen desselben Dreiecks oder zwischen Hase und Ente vom Aspektwechsel bei einem Kunstwerk, beispielsweise wenn wir ein Musikstück „wie aus weiter Ferne“ oder die Spuren von Pollocks Malakt wie einen immateriellen Tiefenraum wahrnehmen?
Bei einer geometrischen Figur wie dem Dreieck mag es zwar frappant sein, dass es auch als Berg aufgefasst werden kann, für das geometrische Verständnis des Schemas ist ein solcher Aspektwechsel jedoch unwesentlich. Dessen Funktion besteht darin, bestimmte geometrische Sachverhalte, zum Beispiel das Verhältnis der Winkel zueinander, darzustellen, und diese Funktion bleibt von der Möglichkeit, dass das Dreieck in das Bild eines anderen Gegenstands umkippt, unberührt. Wesentlich ist der Aspektwechsel jedoch, so könnte man gegen Wittgenstein einwenden, beim Hase-Ente-Kopf, obschon dieser kein Kunstwerk ist. Denn die Funktion dieser Zeichnung besteht im Unterschied zur Dreiecksdarstellung gerade nicht darin, einen bestimmen Sachverhalt darzustellen, in diesem Fall einen Hasen oder eine Ente, sondern diese beiden Auffassungen, die in jeglicher Hinsicht voneinander wegstreben, ineinander umschlagen zu lassen. Der Zweck der Hase-Ente-Zeichnung ist es, das Paradox des Aspektwechsels besonders intensiv erfahrbar werden zu lassen. Was also unterscheidet den Aspektwechsel beim Hase-Ente-Kopf von demjenigen bei einem Kunstwerk?
Von Kunstwerken ist der Hase-Ente-Kopf dadurch unterschieden, dass der Aspektwechsel hier eigentümlich „gehaltsleer“ bleibt. Der Umschlag von Hase zu Ente ist zwar frappant, entfaltet aber keine über das Phänomen des Umschlagens selbst hinausführende Bedeutung. Die Zeichnung zeigt uns gerade nicht, dass ein Hase zuweilen auch eine Ente ist; für unser Verständnis dessen, was Hasen und Enten sind, ist das Kippbild irrelevant. Formulierungen wie „Wenn du es so siehst, siehst du es richtig“, die Wittgenstein auf Kunstwerke münzt, haben beim Hase-Ente-Kopf nicht nur keinen Sinn, sondern verfehlen dessen Pointe gänzlich. Denn die Funktion dieser Figur besteht im Rahmen von Wittgensteins Erörterungen zum Aspekt gerade darin, keine richtige Auffassung zu ermöglichen, sie ist für Wittgenstein ein „Emblem des Widerstands“ gegen jede sich stabilisierende Interpretation.
Der Argumentationsstand lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Wesentlich an der Kunsterfahrung ist Wittgenstein zufolge nicht das Sehen eines Aspekts, sondern die Erfahrung des Aspektwechsels – des „Umschlagens“, der „Verwandlung“ oder des „Fluktuierens“ des wahrgenommenen Objekts, wie Wittgenstein das Phänomen korrelativ benennt –, also jene paradoxe Erfahrung einer neuen Wahrnehmung bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass sich das Wahrnehmungsobjekt materiell nicht verändert hat. Der Abgleich mit dem Kippbild des Hase-Ente-Kopfs, für den dies ebenfalls gilt, zeigt indessen, dass dieses Kriterium allein nicht genügt, um die Erfahrung der Kunst ausreichend profilieren zu können. Dafür müssen wir den besonderen Aspektwechsel der Kunst verstehen.

Einleitung
Kapitel I: Pollock – nach Kambartel
Kapitel II: Wittgensteins Aspektbegriff
Punkt Manet Velazquez Kapitel III: Aspektwechsel und Kunst
Manet Velazquez Kapitel IV: „Passen“
Kapitel V: Erfahrung und Interpretation
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Das Medium der ästhetischen Erfahrung als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.171 KB)

Wittgenstein Philosophische Untersuchungen Aspekt Aspektwechsel

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Das Medium der ästhetischen Erfahrung
Wittgensteins Aspektbegriff, exemplifiziert an Pollocks Malerei

in: Imaginäre Medialität – Immaterielle Medien, hrsg. von Gertrud Koch, Kirsten Maar und Fiona McGovern, München 2012, S. 125-142.

Kapitel II: Wittgensteins Aspektbegriff

Den in Kambartels Analyse von Pollocks Gemälde fassbar werdenden Verstehensprozess als interne und externe Relationierung des Kunstwerks möchte ich nun anhand von Wittgensteins Ausführungen zum „Aspekt“ genauer und zugleich grundsätzlicher untersuchen. Diese Ausführungen finden sich im zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen sowie in einer Reihe vorbereitender und begleitender Schriften, die hier ebenfalls herangezogen werden.
Das Sehen eines Aspekts ist, so Wittgenstein, das Bemerken eines Aspekts an etwas, das man zuvor so nicht gesehen hat. Bemerkt man einen Aspekt, oder, anders gewendet, leuchtet ein Aspekt an etwas auf, dann ändern sich, so Wittgenstein, das Sehen und das Denken. Wittgenstein geht es darum, dualistische Auffassungen von Sehen und Denken zu unterlaufen. Es sei nicht so, dass sich, wenn ein Aspekt bemerkt werde, erst das Sehen und dann das Denken – oder umgekehrt – ändere. Beide Änderungen vollzögen sich vielmehr simultan. Wenn jemand sage, er sehe jetzt dies, dann sei das kein Bericht mehr über den Gegenstand, sondern über eine Modifikation, die das Deuten, das Sehen und den Gegenstand übergreife. Wenn ein Kind beim Hantieren mit einer Kiste ausrufe, dies sei ein Haus, drücke es damit nicht nur eine andere Auffassung der Kiste aus, sondern die Kiste sei in diesem Augenblick zum Haus geworden. Der Aspekt ist Wittgenstein zufolge weder ein intelligibles Objekt des Denkens noch ein physisches Objekt der Wahrnehmung. Ihn zu sehen heißt, etwas zu sehen, worauf man nicht zeigen kann.
Wenn wir am Wahrgenommenen einen Aspekt bemerken, machen wir, genau genommen, die Erfahrung eines Aspektwechsels, denn das Bemerken des Aspekts ist der Austausch einer bisherigen Auffassung durch eine neue – zum Beispiel der Auffassung „Kiste“ durch die Auffassung „Haus“. Bedeutsam an dieser Differenzierung ist für Wittgenstein, dass sie das Sehen insgesamt als ein Auffassen ausweist, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Sobald wir an einem Wahrnehmungsgegenstand die Erfahrung des Aspektwechsels gemacht haben, können wir sagen, dass jenes, was wir bislang sahen, ein Aspekt des Gegenstands war und nicht der Gegenstand selbst. Sobald an etwas mit einem Mal etwas anderes aufscheint, vollziehen sich demnach drei ineinandergreifende Modifikationen: die Verwandlung des Sehens in einen bewussten Akt, das Auseinandertreten von Wahrnehmungsgegenstand und Aspekt sowie die Neubestimmung des Gegenstands als Modifikation des Sehens und Denkens zugleich.
Solche Erfahrungen des Aspektwechsels haben, so Wittgenstein, etwas „Unbegreifliches“. Unbegreiflich daran ist die wundersame Vermehrung nicht nur seitens der Auffassungen, die wir vom Gegenstand gewinnen, sondern auch seitens des Gegenstands selbst. Zwar ist offensichtlich, dass sich materiell nichts geändert hat, und doch ist er plötzlich zu einem anderen geworden. Im Aspektwechsel verdoppeln sich sowohl die Wahrnehmung als auch der Gegenstand, bei vollem Bewusstsein der Dingkonstanz. Wittgensteins bündigste Formulierung dafür lautet:

„Der Ausdruck des Aspektwechsels ist der Ausdruck einer neuen Wahrnehmung, zugleich mit dem Ausdruck der unveränderten Wahrnehmung.“

Die paradoxe Erfahrung des Aspektwechsels lässt sich nach Wittgenstein nicht im Bericht zusammenfassen, man habe das Wahrgenommene in seinen vielen Facetten gesehen. Was gesehen werde – und was das Wahrgenommene in diesem Augenblick auch sei -, sei nicht die Vielfalt, sondern jeweils nur dieses oder jenes oder ein Drittes. Dramatisiert wird die Erfahrung des Aspektwechsels dann, wenn die einzelnen Aspekte miteinander „unverträglich“ sind.
Ich halte an dieser Stelle ein und erläutere das Referierte anhand von Kambartels Pollock-Deutung. Denn an dieser lässt sich nicht nur zeigen, was unter Aspektsehen zu verstehen ist, sondern ebenso, was Wittgenstein als jene staunenerregende Erfahrung des Aspektwechsels beschreibt. In jeder der drei Deutungsperspektiven Kambartels bemerken wir am Gemälde bestimmte Aspekte, etwa wenn uns das Gemälde bald wie eine Wand und bald wie ein immaterieller Tiefenraum erscheint. Am physikalischen Objekt ändert sich nichts, und dennoch wird es nicht nur in einzelnen Hinsichten, sondern insgesamt zu einem anderen, wenn es einmal als Wand und einmal als immaterieller Tiefenraum gesehen wird. Im Sinne Wittgensteins handelt es sich hier tatsächlich um den Wechsel zwischen miteinander unverträglichen Aspekten, denn wie sollte es möglich sein, dass etwas zugleich eine Wand und ein immaterieller Tiefenraum ist? Kambartels logischer Terminus für diese Unverträglichkeit lautet jeweils „Antinomie“. Hinsichtlich des großen Bildformats spricht er von dem Gemälde als einer „antinomischen Identität von Bild und Wand“. Qua Unbegrenztes erscheine Pollocks Gemälde wie eine Wand, über deren Oberfläche der Blick gleite, qua Begrenztes hingegen erscheine es wie ein Bild, in welches wir hineinzuschauen vermeinen. Hinsichtlich der All-over-Struktur der schwarzen Linien wiederum schwanken wir Kambartel zufolge zwischen einer Auffassung der Struktur als regularisierte bzw. als chaotische Kontingenz, woraus die „antinomische Aggressivität“ des Phänomens resultiere, das sich der Kategorisierung fortwährend entziehe. Und hinsichtlich der Action-Painting schließlich hält er es für entscheidend, dass sie zu einer „antinomischen Verbindung von Aktion und Sachverhalt“, temporalem Malprozess und fixiertem Bild führe. Offensichtlich erkennt Kambartel den wesentlichen Zug an der Erfahrung von Pollocks Gemälde darin, unsere Auffassung davon permanent in andere, kontradiktorische Auffassungen umschlagen zu lassen, sodass weder das Bild sich unter einem bestimmten Aspekt stabilisiert noch unsere Auffassung desselben – als Sehen und Denken – zur Ruhe kommt. Entsprechend heißt es in der kurzen Schlussbemerkung, die Kambartel auf seine drei analytischen Kapitel folgen lässt, das Prinzip, das die drei Deutungsperspektiven übergreife, sei am ehesten in der „permanenten Aggressivität als einer dauerhaften Verweigerung der Adaptation“ zu erblicken.
Wittgensteins Ausführungen zum Aspektsehen gelten ausdrücklich den jeweils aktuellen Wahrnehmungen. Er betont, dass es sich beim Begriff des Aspektsehens um einen „Erfahrungsbegriff“ handle. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass der Betrachter in der Auseinandersetzung mit einem Wahrnehmungsgegenstand – und insbesondere mit den komplexen Gegebenheiten von Kunstwerken – die unterschiedlichen am Gegenstand bemerkten Aspekte in einem umfassenderen Verstehen des Wahrgenommenen integrieren kann – in einem Verstehen, das gerade auf der Einsicht in die unterschiedlichen Aspekte des Gegenstands basiert. Diese Differenzierung zwischen der je aktuellen Erfahrung und einem die einzelnen Erfahrungen integrierenden Verstehen bestätigt sich mit Blick auf Kambartels soeben zitiertes Resümee seiner Pollock-Deutung. Ein solches Resümee setzt voraus, dass der Betrachter die einzelnen Aspekte des Gemäldes, die Kambartel nacheinander diskutiert, in eine integrative Deutung des Bildes eingehen lassen kann, auch wenn es ihm – wie Kambartels Analyse deutlich zeigt – aufgrund des antinomischen Verhältnisses der Aspekte zueinander nicht möglich ist, diese im Bild auch gleichzeitig zu sehen.

Einleitung
Kapitel I: Pollock – nach Kambartel
Punkt Manet Velazquez Kapitel II: Wittgensteins Aspektbegriff
Manet Velazquez Kapitel III: Aspektwechsel und Kunst
Kapitel IV: „Passen“
Kapitel V: Erfahrung und Interpretation
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Pollock Kambartel Bildformat All-over Action painting

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Das Medium der ästhetischen Erfahrung
Wittgensteins Aspektbegriff, exemplifiziert an Pollocks Malerei

in: Imaginäre Medialität – Immaterielle Medien, hrsg. von Gertrud Koch, Kirsten Maar und Fiona McGovern, München 2012, S. 125-142.

Kapitel I: Pollock – nach Kambartel

Kambartel geht zunächst auf das grundsätzliche Beschreibungs- und Deutungsproblem ungegenständlicher informeller Malerei – zu der er auch Pollocks Bild zählt – ein, denn bei dieser Kunstform fehlten, so Kambartel, die verbindlichen Beschreibungskategorien; man begegne einer „Wortunfähigkeit“, deren Ausdruck nicht zuletzt der Begriff des „Informellen“ selbst sei. Kambartel verfasst seine Analyse in der Absicht, gleichwohl verbindliche Aussagen über das Bild zu machen, und diskutiert dazu „drei generelle, am Bild Number 32 exemplarisch hervortretende Eigenschaften“ von Pollocks Kunst, die von der „Wortunfähigkeit“ des Bildes auszunehmen seien. Kambartels Vorgehen ist hier deshalb einschlägig, weil jene drei Eigenschaften drei Deutungsperspektiven sind, unter denen in Pollocks Gemälde jeweils etwas bemerkt wird beziehungsweise aufleuchtet, das Wittgenstein Aspekt genannt hätte.
Die erste dieser Deutungsperspektiven ist das große Bildformat. Pollocks Bild betone, so Kambartel, die Kontinuität der Bildausdehnung gegenüber der Individualität der Bildbegrenzung. Die Ausdehnung des Bildfelds überschreite das Wahrnehmungsfeld des Betrachters, mit der Folge, dass die Diskrepanz zwischen Blickfeld und Bildfeld das Bild wie eine „Wand“ erscheinen lasse. Als Wand erscheine das Bild aber nicht aufgrund einer besonders materiellen, beispielsweise reliefierten Oberfläche – wie etwa bei den Gemälden Antoni Tàpies‘ -, sondern aufgrund des durch die Größe hervorgerufenen Bild-Betrachter-Verhältnisses. Ausschlaggebend sei nicht, dass der Betrachter etwas sehe, das wie eine Wand aussehe, sondern dass er aufgrund der Größe des Bildes dazu situiert sei wie zu einer Wand. Kambartels Ausführungen zu Pollocks großem Bildformat bündeln sich in folgender Passage:

„Die von Pollock intendierte antinomische Identität von Bild und Wand hat […] das große Bildformat in zweifacher Hinsicht zur Bedingung, indem dieses erstens die phänomenale Unüberschaubarkeit der Wand und zweitens die kategoriale Begrenztheit des Bildes in sich vereinigt: Ist das Bild einerseits, um als Wand und in diesem Sinne als ‚literal dimension‘ zu erscheinen, auf die Unüberschaubarkeit des Formats angewiesen, so bedarf es andererseits, um sich kategorial als Bild und in diesem Sinne als ‚depicted dimension‘ zu behaupten, der Begrenztheit des Formats.“

Das zweite Kapitel gilt der Struktur des Gemalten, die Kambartel unter der Überschrift des polyfokalen All-overs untersucht. Kambartel beschreibt hier die „dekompositionelle Binnenstruktur“ des Bildes, den „Pluralismus von gleichwertigen Blickpunkten“, die ein Bild ohne Anfang, Mitte und Ende entstehen ließen. Den Effekt dieses All-overs fasst er als ein „rational nicht determinierbares, unperspektivisches Raumkontinuum“, als einen immateriellen Raum, da der Betrachter dazu neige, die unpräparierte Leinwand, auf die Pollock bei Number 32 die schwarze Lackfarbe träufelte, so aufzufassen, als sei sie gar nicht vorhanden. Die Detailaufnahme eines ca. 40 x 60 cm großen Ausschnitts aus dem Gemälde (Abb. 3) lässt dieses optische Verschwinden der Leinwand und das Entstehen eines unperspektivischen Raums nachvollziehbar werden. Hier wird kenntlich, dass er insbesondere dadurch zustande kommt, dass die dünneren Linien als tiefer im Raum, die dickeren hingegen als dem Auge näher befindlich wahrgenommen werden, obschon sie alle auf derselben Ebene – der Leinwandfläche – liegen. Kambartels Ausführungen in diesem Abschnitt konzentrieren sich indessen vornehmlich auf den Aufweis, dass die All-over-Struktur der schwarzen Lineamente insgesamt weder iterativ noch chaotisch sei. Sie weise sowohl Aspekte der Ordnung als auch Aspekte der Unordnung auf und sei damit von einem regularisierten Tapetenmuster genauso deutlich unterschieden wie von bloßer Kontingenz. Das zweite Kapitel bündelt sich in der Formulierung:

„Wenn sich also Pollocks All-over weder in die Wahrscheinlichkeit der Iteration noch in die Wahrscheinlichkeit wie auch immer definierter Kontingenz überführen läßt, so beruht gerade in dieser alternativen Verweigerung der Adaptation die antinomische Aggressivität des Phänomens.“

Das letzte Kapitel von Kambartels Untersuchung schließlich wendet sich der Action-Painting zu. Thematisiert wird hier die „Freisetzung des Malprozesses“, die in Pollocks Gemälde als Abstraktion „von allen syntaktischen und semantischen Ausdruckwerten der Farben und Formen“ erscheine, um „einzig und allein auf die dem Malprozess innewohnenden Ausdrucksmöglichkeiten“ zu setzen. Im Horizont der Action-Painting erscheine das ausgedehnte Bildfeld wie eine „Arena“, in der der Künstler agiere, mit der Konsequenz, dass es sich bei Pollocks Gemälde weniger um ein Bild als vielmehr um ein Ereignis zu handeln scheine. Gleichwohl werde dieses Ereignis qua Bild zu einem „Sachverhalt“, da das Bild den Malakt weder auf der Ebene einzelner Aktionsspuren noch auf der Ebene eines performativen Gesamtzusammenhangs wahrzunehmen erlaube. Das dritte Kapitel bündelt sich in der Formulierung:

„Nicht die verabsolutierte Aktion als solche, sondern die Dialektik der antinomischen Verbindung von Aktion und Sachverhalt, von Malprozeß und Bild, macht den eigentlichen Gegenstand der Action painting aus.“

Soweit – knapp zusammengefasst – Kambartel. Was nun vollzieht sich in dieser Analyse von Pollocks Bild? Es handelt sich um eine in drei Schritten vollzogene Strukturierung des sinnlich Gegebenen. Diese erfolgt zum einen dadurch, dass das Sichtbare mit passenden Begriffen und Konzepten, beispielsweise All-over oder Action-Painting, verbunden wird. Zum anderen – und das ist meines Erachtens wichtiger – besteht sie darin, durch diese drei unterschiedlichen Deutungsperspektiven am Wahrnehmungsgegenstand einzelne Strukturmomente herauszuarbeiten. Dabei handelt es sich insofern um einen Prozess des Verstehens, als die von Kambartel analysierten Strukturen sowohl die Beziehungen im Kunstwerk als auch die strukturierende Tätigkeit des Betrachters umfassen. Das zeigt sich beispielsweise in Kambartels Bemerkung, dass eine Auffassung von Number 32 als Wand zu einem anderen Verhalten dem Gemälde gegenüber führe als gegenüber einem konventionellen Tafelbild, oder an seiner Beschreibung des – letztlich scheiternden – Bemühens des Betrachters, im All-over der Farbspuren Ordnungskriterien zu entdecken. Um einen Verstehensprozess handelt es sich bei Kambartels Analyse aber auch deshalb, weil sie die dem Gemälde einleitend bescheinigte „Wortunfähigkeit“ zu einer – bei Kunstwerken in der einen oder anderen Weise stets eintretenden – initialen Phase werden lässt, die in Richtung auf Formbestimmungen, Inhalte und Kontexte des Gemäldes hin überwunden wird. Die Strukturbegriffe des großen Bildformats, des All-over und der Action-Painting stehen zwischen der besonderen Ausprägung dieses Kunstwerks und einem Allgemeinen, das für Pollocks Werk insgesamt und darüber hinaus für eine bestimmte Richtung der amerikanischen Nachkriegskunst charakteristisch ist. Was Kambartel herausarbeitet und was zur Basis seines Verstehens von Pollocks Gemälde wird, sind Relationen: strukturelle Relationen innerhalb des Kunstwerks, räumlich-situative Relationen zwischen dem Gemälde und dem Betrachter und schließlich konzeptuelle Relationen zwischen diesem Kunstwerk und anderen, zum Vergleich herangezogenen Kunstwerken.

Einleitung
Punkt Manet Velazquez Kapitel I: Pollock – nach Kambartel
Manet Velazquez Kapitel II: Wittgensteins Aspektbegriff
Kapitel III: Aspektwechsel und Kunst
Kapitel IV: „Passen“
Kapitel V: Erfahrung und Interpretation
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Ästhetische Erfahrung Kunst Wahrnehmung Betrachter

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Das Medium der ästhetischen Erfahrung
Wittgensteins Aspektbegriff, exemplifiziert an Pollocks Malerei

in: Imaginäre Medialität – Immaterielle Medien, hrsg. von Gertrud Koch, Kirsten Maar und Fiona McGovern, München 2012, S. 125-142.

Einleitung

Stellen ästhetische Theorien den Erfahrungsbegriff in den Mittelpunkt, geht es ihnen um das Verhältnis zwischen dem künstlerischen Gegenstand und der Wahrnehmung des Betrachters. Ich schlage vor, die entscheidende Frage, wie genau dieses Verhältnis zu bestimmen sei, im Rückgriff auf Ludwig Wittgensteins Begriff des Aspekts zu beantworten. Nach Wittgenstein ist der Begriff des Aspekts doppeldeutig. Er ist das, was unter bestimmten Bedingungen im Kunstwerk aufleuchtet, und zugleich das, was der Betrachter unter bestimmten Bedingungen am Kunstwerk bemerkt. Weder allein eine Eigenschaft des Gegenstands noch allein eine Imaginationsleistung des Betrachters, ist er ein Zwischen, das sich dem produktiven Zusammenspiel beider verdankt. Damit, so möchte ich zeigen, erlaubt Wittgensteins Aspektbegriff nicht nur zu erfassen, auf welche Weise das Objekt und das Subjekt der ästhetischen Erfahrung miteinander vermittelt werden, sondern zugleich auch zu erkennen, inwiefern die Besonderheit der ästhetischen Subjekte und Objekte in diesem Vermittlungsgeschehen relevant wird. Die Art und Weise, wie sich Wittgensteins Erläuterungen nicht auf die Vollzüge im Subjekt beschränken, sondern die Jeweiligkeit der Erfahrung als abhängig von der Jeweiligkeit ästhetischer Objekte betonen, gibt seinem Ansatz innerhalb der Theorien ästhetischer Erfahrung ein eigenständiges Profil. Dieses Profil ist gerade aus der Perspektive der Kunstwissenschaft interessant, geht es dieser doch, entschieden deutlicher als der Philosophie, um die Besonderheit der ästhetischen Objekte, die sich, genau besehen, als eine doppelte Besonderheit erweist: diejenige der Kunst gegenüber anderen ästhetischen Objekten und diejenige eines bestimmten Kunstwerks gegenüber anderen Kunstwerken.
Bevor ich dies genauer ausführe, wende ich mich jedoch einem Beispiel aus der Kunst zu, an dem ich Wittgensteins Aspektbegriff nachfolgend exemplifizieren werde. Es handelt sich um Jackson Pollocks Number 32 aus dem Jahr 1950, das heute in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf hängt (Abb. 1 und 2). Um möglichst umstandslos zu jenen Merkmalen von Pollocks Gemälde zu gelangen, die für meinen Zusammenhang relevant sind, ziehe ich die berühmt gewordene, ebenso knappe wie präzise Analyse von Number 32 heran, die Walter Kambartel 1970 in der Reihe Werkmonographien zur bildenden Kunst des Reclam Verlags veröffentlichte.

Punkt Manet Velazquez Einleitung
Manet Velazquez Kapitel I: Pollock – nach Kambartel
Kapitel II: Wittgensteins Aspektbegriff
Kapitel III: Aspektwechsel und Kunst
Kapitel IV: „Passen“
Kapitel V: Erfahrung und Interpretation
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Die Kunst und ihr Außen – Claes Oldenburg The Store

Die Kunst und ihr Außen als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 3.430 KB)

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Die Kunst und ihr Außen – Am Beispiel von Claes Oldenburgs The Store

in: Zwischen „U“ und „E“. Grenzüberschreitungen in der Musik nach 1950, hrsg. von Friedrich Geiger und Frank Hentschel, Frankfurt am Main 2011, S. 173 – 194.
Inhalt:

Einleitung

Kapitel I: Die institutionelle Perspektive

Kapitel II: Die mediale Perspektive

Kapitel III: Die Popularität der Kunst, oder: Gibt es in der bildenden Kunst einen Bereich des ‚U‘?

Kapitel IV: Die Kunst und ihr Außen

Kapitel V: Ein konkretes Beispiel: Claes Oldenburgs ‚The Store‘

Kapitel VI: Die ‚Beseelung‘ der Dinge

Kapitel VII: Die Störung der ästhetischen Grenze

Claes Oldenburg The Store ästhetische Grenze

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Die Kunst und ihr Außen – Am Beispiel von Claes Oldenburgs The Store

in: Zwischen „U“ und „E“. Grenzüberschreitungen in der Musik nach 1950, hrsg. von Friedrich Geiger und Frank Hentschel, Frankfurt am Main 2011, S. 173 – 194.

Kapitel VII: Die Die Störung der ästhetischen Grenze

„Ich empfinde es als natürlich“, sagte Claes Oldenburg, „unter den Bedingungen der amerikanischen, technischen Zivilisation zu arbeiten. Ich kenne die jeweiligen Effekte, die jeweiligen Resultate der technischen Arbeitsverfahren, und ich glaube sie zu kontrollieren.“ Trotz der Nüchternheit dieser Selbstbeschreibung machte Oldenburg eben diese Bedingungen der amerikanischen Zivilisation für die Isolation und Entfremdung der sozialen Subjekte im Allgemeinen und des Künstlers im Besonderen verantwortlich. Er hoffte jedoch, diese widrigen Umstände überwinden und den Zusammenschluss von Kunst und Leben erwirken zu können. Verwirklichen wollte er diesen Zusammenschluss durch eine, wie er es formulierte, „erotisch-politisch-mystische Kunst“, die Mensch und Ding miteinander versöhnen sollte:

„This elevation of sensibility above bourgeois values, which is also a simplicity of return to truth and first principles, will (hopefully) destroy the notion of art and give the object back its power. Then the magic inherent in the universe will be restored and people will live in sympathetic religious exchange with the materials and objects surrounding them. They will not feel so different from these objects, and the animate/inanimate schism mended.“

Obschon Oldenburg das Prinzip der gesellschaftlichen Arbeitsteilung im Store nicht aufheben konnte, so ließ es sich doch durch die Spaltung in seine zahlreiche Rollen unterwandern. Und entsprechend zu seinem künstlerischen Ich, das sich in unterschiedliche nicht zu vereinbarende personae aufteilte, sollten auch seine Objekte Gegensätze abbauen und Widersprüche einebnen. Ein Objekt sollte seine Spuren im anderen hinterlassen, so dass sich in der gegenseitigen Anleihe Formen, Farben und Bedeutungen überlagern. Oldenburg wollte auf diese Weise eine Kraft freisetzen, die alles durchdringt, indem sie die bestehenden Ordnungen deklassiert – nicht zuletzt die gesellschaftliche Ordnung, und darin eingeschlossen deren Auffassung künstlerischer Produktion.
Oldenburg konzipierte den Store mithin als Schwellenraum, in dem sich Momente von ‚Kunst‘ und Momente von ‚Nicht-Kunst‘ überlagerten; er desorganisierte die klare Relation von Fiktion und Realität, indem er den Bereich seiner Tätigkeit auf den des Warenhandels ausdehnte. Die hierdurch erzeugte kategoriale ‚Unordnung‘ betraf dabei nicht nur die Objekte selbst, sondern zugleich den Modus ihrer Präsentation.
Durch den Einzug in einen realen Geschäftsraum fiel der kunstinstitutionelle Rahmen als Vorbedingung und Signalgeber für eine ästhetische Einstellung des Betrachters weg, die Entgegensetzung von äußerer Welt und Kunstraum war nicht mehr gegeben. Wer den Store betrat, befand sich nicht in ästhetischer Distanz zu den Dingen, sondern bewegte sich auf dem gleichen Terrain wie die Artefakte, wobei das Terrain zwischen Laden, handwerklichem Betrieb, Galerie, Atelier und Environment schwankte. Für den Rezipienten bedeutete dies, dass sein Verhältnis zum Werk unsicher wurde: Seine Position war zugleich innerhalb und außerhalb, er war zugleich Betrachter eines Kunstwerkes, potenzieller Käufer von Kunstartikeln und Teil eines Environments. Wer seinen Blick durch das Schaufenster zurück auf die Straße richtete, verstrickte sich in die Frage, ob er sich auf der richtigen Seite befand, ob er mit dem ‚Einstieg‘ in Oldenburgs ‚Bild‘ nicht selbst Teil einer Fiktion geworden war. Die Realität war plötzlich dort, wo normalerweise das Fiktive ist, nämlich innerhalb des ‚Rahmens‘, das Fiktive dagegen dort, wo sich gemeinhin das Reale befindet, nämlich außerhalb des ‚Rahmens‘, jenseits der ‚Bildes‘.
Eine letzte Unsicherheit bezog sich auf das quod des Kunstwerks, auf dessen eigene Grenzen und Rahmungen: Hatte man eher die einzelnen Objekten oder aber die Gesamtheit des Store als Kunstwerk zu identifizieren, handelte es sich eher um eine Galerie, die Einzelwerke ausstellte, oder aber um ein geschlossenes Ganzes? War man mit einem Kunstwerk, das einen Laden nachahmt, konfrontiert, oder mit einem Laden, der Kunstartikel verkauft? Waren die Plakate und Visitenkarten Teil des Kunstwerks oder lediglich Instrumente des Marketing?
Der Store konnte nach damaligem Verständnis weder bloßes ‚Geschäft‘ noch reine ‚Kunstbetrachtung‘ bieten. Dies entsprach Oldenburgs Wunsch, weder bloße Konsumgüter noch reine Kunstartikel zu produzieren, sondern sich in einer begriffslosen, nur negativ fassbaren und damit nicht zu vereinnahmenden Zone zu situieren. In kunstinstitutioneller Perspektive gesehen war diese Irritation der eigentliche Inhalt, das ästhetische Programm dieses Projekts. Damit bewegte sich Oldenburg auf einer Grenze, die gerade als solche auf die Differenz von Kunst und Leben angewiesen blieb. Bis heute bleibt es schwer, den Store in seinem Charakter zwischen Galerie, Environment und Happening zu fassen.
Ursprünglich hatte Oldenburg geplant, die Laufzeit des Store auf den Monat Dezember des Jahres 1961 zu beschränken, doch hielt er ihn aufgrund des hohen Besucherandrangs bis Ende Januar 1962 geöffnet. Gleichwohl konnte nur ein kleiner Teil der ‚Waren‘ veräußert werden, und die Abschlussbilanz belief sich auf ein Defizit von 285 US-Dollar. Die Produkte mussten erst in den Kunstkontext integriert werden, um nicht nur symbolischen, sondern auch ökonomischen Gewinn abzuwerfen – heute erzielen sie Spitzenpreise auf dem Markt der Kunst.

Einleitung
Kapitel I: Die institutionelle Perspektive
Kapitel II: Die mediale Perspektive
Kapitel III: Die Popularität der Kunst, oder: Gibt es in der bildenden Kunst einen Bereich des ‚U‘?
Kapitel IV: Die Kunst und ihr Außen
Kapitel V: Ein konkretes Beispiel: Claes Oldenburgs ‚The Store‘
Kapitel VI: Die ‚Beseelung‘ der Dinge
Punkt Kapitel VII: Die Störung der ästhetischen Grenze
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Die Kunst und ihr Außen als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 3.430 KB)