Warhol Disaster-Diptychon Gegenständlichkeit Ungegenständlichkeit

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Warhols Disaster-Diptychen: Das Dementi als Bildform

in: Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit, hrsg. von Anke Hennig und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 71), Wien/München 2008, S. 475-507.

Einleitung

Die folgenden Ausführungen widmen sich einigen Diptychen Andy Warhols, die jeweils aus zwei Tafeln bestehen. Sie sind üblicherweise so angeordnet, dass links eine Tafel mit mehreren Siebdrucken und rechts eine leere Tafel von derselben Größe und Grundierungsfarbe platziert ist, das heißt sie teilen sich in eine gegenständliche und eine ungegenständliche Hälfte. Zugleich aber affizieren sich die beiden Seiten in einer Weise, welche die Zuordnung von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit aus dem Gleichgewicht bringt. Die beiden Tafeln dementieren sich wechselseitig, zugleich wird aber auch das Dementi dementiert. Um erfassen zu können, was sich an der Nahtstelle zwischen den beiden Tafeln ereignet, müssen die unterschiedlichen Bildbestandteile zunächst einzeln betrachtet werden. Wenden wir uns zunächst den von Warhol aufgegriffenen fotografischen Motiven zu.

Punkt Warhol Disaster-Diptychon Einleitung
Pfeil Warhol Disaster-Diptychon 1. Death in America
2. Von der Faktografie zur Faktur
3. Blanks
4. Das Dementi als Bildform
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Manets Reise zu Velázquez

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Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie

in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.
Inhalt:

Einleitung

Kapitel I: Spanien in Paris

Kapitel II: Der Zögling Goyas

Kapitel III: Maître Velázquez

Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1

Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2

Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1

Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2

Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität

Manet Kunstgeschichte Tradition Moderne Impressionismus

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Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie

in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.

Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität

Den Aspekten des Verhältnisses zwischen Manet und Velázquez, die M’Uzans psychoanalytische Theorie künstlerischer Produktivität zu erkennen erlaubt, ist allerdings der geschichtliche bzw. genealogische Aspekt hinzuzufügen, daß Velázquez eine Instanz war, die Manet mit der vormodernen grande peinture in Berührung bringen konnte. Sobald man die Motive von Manets Spanienreise aufblättert, entsteht das Bild eines Künstlers, das so gar nicht dem Mythos jener Moderne entsprechen will, welche die Vergangenheit liquidierte, um gänzlich neu anzusetzen. Genau gegenläufig dazu bezeugt Manets gesamtes Œuvre das starke Verlangen nach Verankerung in einer Tradition, die sein Tun sanktionieren konnte. Allerdings sah sich Manet gezwungen, diese Tradition in einer paradoxen Bewegung selbst zu erfinden, das heißt die ihn legitimierende Autorität selbst einzusetzen. Traditions- und Selbsterfindung begründeten sich dabei wechselseitig. Die „Aufgabe der Ausarbeitung seiner selbst“, die Michel Foucault als Kern der condition moderne begriff, schloß für Manet beides gleichermaßen ein. Dadurch schuf er sich eine künstlerische Position, die ihn, wie schließlich anerkannt wurde, zugleich als letzten Sohn der Tradition und als Gründungsvater der Moderne auswies. Man kann sich die Erarbeitung dieser Position kaum schwierig genug vorstellen. Denn sie vollzog sich in einem polarisierten künstlerischen Umfeld, das den Willen, den radikalen Neuanfang mit der Tradition der klassischen Kunst zu verklammern, als ausgeschlossenes Drittes begreifen mußte – unverstanden von den Vertretern jener akademischen Tradition, die im besten Falle ausgelaugt erschien, im schlimmsten Falle die Verlogenheit aufwies, die dem Kunstgeschmack des Zweiten Kaiserreichs entsprach; unverstanden aber auch von den jungen, bald als ‚Impressionisten‘ bezeichneten Malern, welche in die freie Natur zogen, um jenseits der Tradition neu sehen und malen zu lernen. Diesbezüglich ist signifikant, daß Manet sein Leben lang darauf beharrte, im Salon auszustellen, selbst als er von den sich formierenden Impressionisten gebeten wurde, sich ihren sezessionistischen Ausstellungen anzuschließen. Denn der Salon, in dem Traditionalisten und Modernisten aufeinandertrafen, war für ihn der einzig passende Ort für seine zweipolige künstlerische Ambition.

Manets Position erweist sich als ein Scharnier, das Tradition und Moderne ebenso trennt wie verbindet. Beim Beharren auf dieser unmöglichen Position half ihm die Identifikationsfigur des ‚maître Velázquez‘, zu welcher er 1865, im Augenblick der größten Krise seiner künstlerischen Biographie, aufbrach, um mit ihr im Prado eine Art Bündnis zu schließen. Indem dieses Bündnis offenließ, wer in wessen Abhängigkeit stand, trug es dasselbe Doppelgesicht wie Manets Malerei.

Einleitung
Kapitel I: Spanien in Paris
Kapitel II: Der Zögling Goyas
Kapitel III: Maître Velázquez
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2
Punkt Manet Velazquez Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität
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Manet Psychoanalyse M’Uzan Alter ego

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Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie

in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.

Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2

Die Durchsicht dieser Bildzeugnisse führt vor Augen, welch komplexe Rolle Velázquez für Manet spielte. Diese Rolle wird durch den Hinweis auf stilistische Übereinstimmungen, beispielsweise auf beider ‚Realismus‘ oder ‚Präimpressionismus‘, nicht erschöpft. Weiterführend sind hier Ansätze, die im Rahmen der Psychologie künstlerischer Produktivität entwickelt wurden. Insbesondere scheinen mir Thesen, die der Psychoanalytiker Michel de M’Uzan zur Natur des künstlerischen Schaffensprozesses entwickelte, einschlägig zu sein, sowohl hinsichtlich des Charakters der Beziehung zwischen Manet und Velázquez als auch hinsichtlich der Gründe, diese Beziehung aufzubauen.

Den Ausgangspunkt von M’Uzans Argument bildet die blockierte Kommunikation zwischen Künstler und Publikum. M’Uzans Beschreibung einer solchen Situation erlaubt es, Manets Dilemma zu erfassen, als sein chef-d’œuvre der Olympia im Salon von 1865 auf einhelliges Mißfallen stieß. Sich auszudrücken, ohne zu gefallen, so M’Uzan, werfe den Künstler auf seine Einsamkeit und Ohnmacht zurück; sie verweise ihn, wie der Psychoanalytiker formuliert, auf seine Kastration. Doch in einer solchen Situation dem Publikumsgeschmack nachzugeben, biete hier keine Abhilfe. Denn zu gefallen, ohne sich auszudrücken, also auf die eigene Wahrheit zugunsten einer unmittelbaren narzißtischen Befriedigung zu verzichten, löse eine narzißtische Kränkung aus, die tiefer gehe, da sie an die Wurzeln der eigenen Person rühre.

Für M’Uzan hängt in einer solchen Situation alles davon ab, ob es dem Künstler gelingt, einen Weg aus dieser unmöglichen Alternative zu finden. Die Lösung bestehe darin, sich eine ‚innere Figur‘ aufzubauen, die anstelle des unverständigen Publikums zum Adressaten des eigenen künstlerischen Tuns werde. Manets Aufbruch nach Madrid scheint mir genau so motiviert gewesen zu sein: der Wahl zwischen ‚Publikum‘ oder ‚Wahrheit‘ auszuweichen und stattdessen ‚maître Velázquez‘ als jene ‚innere Figur‘ zu installieren, an die sich die eigene Malerei richtete. Der Künstler arbeite, so führt M’Uzan zum Charakter einer solchen ‚inneren Figur‘ aus, immer im Hinblick auf jemanden, für oder gegen einen anderen, der auch völlig still bleiben könne, dessen unausgesprochene Meinung aber von höchster Wichtigkeit sei. Wenn eine solche Person in der Wirklichkeit nicht vorstellbar sei, habe dies jene ‚innere Figur‘ zu leisten, über die das Zusammenspiel der gegensätzlichen Strebungen möglich sei:

„Dieser […] Andere, dem man gewissermaßen schon im Augenblick der Konzeption das Werk widmet, fällt keineswegs mit dem realen Publikum zusammen, dem sich das fertige Werk grundsätzlich früher oder später stellen muß. Aber er ist auch nicht der wirkliche Vater, obwohl er von einem introjizierten Elternbild notwendigerweise abstammt, denn die Eltern sind im Normalfall das erste Publikum, sozusagen die ersten Adressaten des Kindes. […] Der Autor hat also in sich ein gutes Objekt errichtet, auf das er in aller Sicherheit seine Triebe richten kann, denn er riskiert dabei nicht, die Figur zu zerstören noch sich ihre Repressalien zuzuziehen. Er ist der Vater dieses anderen, der gewiß aus Eigenschaften entsteht, die zuerst auf den realen Vater projiziert werden, und der, für das Entstehen des Werks notwendig, symbolisch die Rolle des Erzeugers spielt. Das Werk ist das Kind, das man ihm verdankt, das man ihm zueignet und das gleichzeitig dazu dient, ihm zu zeigen, wozu man fähig ist, während man ihm die bedingungslose Bestätigung abverlangt, die im voraus die Rechtmäßigkeit der Arbeit garantiert. […] In dieser Hinsicht übernimmt sie [die innere Figur, M.L.] die Rolle des Mittlers […] mit allem, was das an Gefühlen der Verehrung und Rivalität einschließt. Aber in einem letzten Paradox macht das beständige Wechselspiel der Projektionen und Identifizierungen aus ihr auch das alter ego des Autors, der auf diesem Umweg seine narzißtische Integrität wiederherzustellen sucht.“

‚Alter ego‘, ‚Mittler‘, ‚Vater‘ und ‚Rivale‘: M’Uzans Beschreibung versammelt genau diejenigen Rollen, die Velázquez bei Manet übernahm, und die Manet, vor dessen Werken im Prado stehend, überprüfte und bestätigte. Die Gewichtungen wechseln dabei von Bild zu Bild. Le fifre, in der Auseinandersetzung mit Velázquez‘ Pablo de Valladolid entstanden, ist – wie in Anlehnung an M’Uzan formuliert werden kann – jenes ‚Kind das man dem Meister verdankt‘, das ihm gleichzeitig zeigen soll, ‚wozu man fähig ist‘. Im Portrait d’Emile Zola spielt Velázquez hingegen eher die Rolle des ‚Mittlers‘, der es Manet erlaubte, sein eigenes künstlerisches Vorgehen zu rechtfertigen, während er schließlich im Autoportrait als Manets ‚alter ego‘ auftritt.

Einleitung
Kapitel I: Spanien in Paris
Kapitel II: Der Zögling Goyas
Kapitel III: Maître Velázquez
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1
Punkt Manet Velazquez Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2
Manet Velazquez Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität
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Manet Pfeiffer Zola Velázquez Meninas Selbstportrait

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Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie

in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.

Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1

Die Zuversicht, die Manet nach eigenem Zeugnis in Madrid erfüllte, läßt sich den Bildern, die nach der Spanienreise entstanden, ablesen. In ihnen verstetigen sich die Sicherheit im Bildaufbau sowie der faszinierend komplexe, auf direkte Konfrontation angelegte Betrachterbezug, der bereits Gemälde wie Mlle V… oder Olympia bestimmte. Das unmittelbare Ergebnis des Zuspruchs, den er im Prado verspürte, war folglich die konsequente Fortsetzung des eingeschlagenen Weges über alle Anfechtungen hinweg. Zugleich versuchte er den Velázquez-Bezug seiner Malerei zu präzisieren und der Öffentlichkeit vorzuführen. Dem nächsten Salon 1866 reichte er Bilder ein, welche die Orientierung an Velázquez so deutlich zeigen wie kaum ein Werk zuvor, unter ihnen Le fifre. Darin verarbeitete er Erfahrungen, die er vor Velázquez‘ Porträt des Pablo de Valladolid machte, das ihm aufgrund der Eigenart, die Figur lediglich mit Luft zu umgeben, als das „vielleicht erstaunlichste Stück Malerei, das je gemacht worden“ sei, erschienen war. Wie schon hinsichtlich des Balcon bemerkt, orientierte sich Manet jedoch lediglich am bildnerischen Konzept des Vorbildes, um es unter Weglassung jeder spanischen Anmutung auf ein zeitgenössisches französisches Sujet zu übertragen, in diesem Falle auf einen jungen Pfeiffer der Garde Impériale. Bei der nächsten Gelegenheit, vor das Salonpublikum zu treten, kam Manet erneut auf den Bezug seiner Kunst zu derjenigen Velázquez‘ zurück. 1868 präsentierte er das Portrait d’Émile Zola, das im Graphiksteckrahmen in der rechten oberen Bildecke ein metamalerisches Manifest enthält. Es zeigt eine Reproduktion der Olympia und links davon den japanischen Farbholzschnitt eines Sumo-Ringers, den Manet auf der Weltausstellung ein Jahr zuvor gesehen hatte. Hinter Olympia steckt ein weiteres Blatt, aber nicht etwa Tizians Venere d’Urbino, an der sich Manet bei seinem Aktbild orientiert hatte, sondern ein Druck nach Velázquez‘ Los borrachos. Die Ersetzung Tizians durch Velázquez bestätigt nicht nur den Vorrang des letzteren, sondern gibt der poetologischen Selbstdeklaration zugleich jenen strukturellen, vom jeweiligen Sujet losgelösten Zug, den ich betonen möchte. Olympia, so scheint Manet zu formulieren, ist nicht nur die moderne Variante eines spezifischen Bildes, sondern bezieht sich in einem umfassenderen Sinne auf die klassische Malerei, die Tizian ebenso umfaßt wie Velázquez. Was Manet überdies an Los borrachos fasziniert haben dürfte, sind Eigenschaften, die Olympia, darüber hinaus aber Manets gesamtes Œuvre aufweist. Dazu gehört vor allem die Spannung, die sich zwischen einem frontalen, durch Blicke aus dem Bild akzentuierten Betrachterbezug und einer streng bildparallelen Komposition ergibt – eine Spannung, die an fast allen hier reproduzierten Gemälden Manets beobachtet werden kann. Auch Los borrachos entfaltet sich in einem Bildraum, dessen Plastizität nicht in die Bildtiefe, sondern vielmehr nach vorne, in Richtung des Betrachters, projiziert erscheint. Der Farbholzschnitt eines Sumo-Kämpfers wiederum verweist auf Velázquez‘ Pablo de Valladolid zurück, den Manet im Prado als so außergewöhnliches Gemälde empfand. Bei allen Unterschieden haben die beiden Bilder gemeinsam, eine Ganzfigur in Dreiviertelwendung vor einem monochromen, untiefen Grund zu präsentieren. Mit diesem Steckrahmen, der auf den ersten Blick Heterogenes zusammenstellt, führte Manet dem Salonpublikum ein bildnerisches Denken vor, das die eigene Malerei in einem kunsthistorischen und bildkonzeptuellen Zusammenhang präzise zu verorten wußte.

Parallel zu diesen für die öffentliche Schaustellung gemalten Arbeiten brachte die Identifikation mit Velázquez private Bilder hervor, die das Begehren bezeugen, sich in dessen Person und Werk buchstäblich hineinzumalen. War hinsichtlich des Déjeuner dans l’atelier davon die Rede, es zeige „die unmögliche Beziehung des Vaters zum Sohn“, wäre im Blick auf diese kleinen Gemälde davon zu sprechen, sie handelten von der unmöglichen Beziehung des Schülers zu jenem Meister, der 150 Jahre vor Manets Geburt starb. In phantasmagorischer Weise umkreisen sie die Figur und das Atelier des Velázquez, so wie sie Las meninas darstellt. Zugleich fließen Elemente ein, die sich Manets Beschäftigung mit einem weiteren Bild verdanken, das damals Velázquez zugeschrieben wurde und das Manet im Louvre kopierte: Les petits cavaliers. Wie Las meninas schien auch dieses kleine Werk ein Selbstporträt zu enthalten, da man in der Figur am linken Bildrand das Selbstbildnis des spanischen Malers erkennen wollte. Trotz der ansonsten großen Differenzen zwischen den beiden Bildern treffen sie sich in einem Merkmal, das Manet interessiert haben dürfte. Beide zeigen den Künstler inmitten einer Gesellschaft, in der er als ihresgleichen erscheint, gesellig und sozial integriert. Elemente der beiden Bilder arrangierte er neu, woraus zwei kleine Gemälde resultierten. Wahrscheinlich gehörten sie einmal zu einer größeren Darstellung von Velázquez‘ Atelier, bevor Manet die Leinwand in Fragmente zerschnitt.

Auf dem einen Fragment sehen wir drei der ‚kleinen Kavaliere‘ – teilweise seitenverkehrt wiedergegeben -, die mit der geöffneten Türe aus dem Hintergrund der Meninas kombiniert wurden. Einer von ihnen scheint auf den kleinen Jungen im Vordergrund zu deuten. Es ist Léon Leenhoff, den Manet als neues, nicht von Velázquez stammendes Element einfügte. Er trägt ein Tablett mit einer Karaffe, möglicherweise um sie Velázquez zu bringen. Der Einschluß Léons schlägt die Brücke zu den ‚Familien‘-Bildern wie dem Déjeuner dans l’atelier, in denen Léon mehrfach auftritt; und tatsächlich nahm Manet in Le balcon, wie bereits erwähnt, die Figur des tabletttragenden Jungen wieder auf.

Im anderen Fragment erscheinen erneut zwei jener ‚Kavaliere‘, die hier nicht Léon, sondern Velázquez zugewandt sind. Dieser hat die Arbeit unterbrochen, um noch ausdrücklicher als Léon aus dem Bild zu schauen – zum Betrachter, aber auch zu Manet, den wir uns an genau dem Bild malend vorstellen müssen, das wir sehen. Velázquez seinerseits arbeitet am Gemälde der Petits cavaliers, das Manet kopierte und das die beiden Atelierzuschauer enthält. Die Bild- und Realitätsebenen verschwimmen, zugleich überblenden sich Manets und Velázquez‘ malerisches Tun. Das Ergebnis ist ein Gemälde, das zugleich ein Manet und ein Velázquez zu sein scheint und folglich Verehrung und Rivalität gleichermaßen bezeugt.

Eine andere Variante dieser Überblendung zeigt die um 1873/76 entstandene aquarellierte Zeichnung Visiteurs dans l’atelier, in welcher Manet Las meninas mit einer Selbstdarstellung im eigenen Atelier verschmolz. Das Indiz dafür sind die eigenen Bilder, die Manet in seiner Zeichnung an der Stelle der Rubens- und Jordaens-Kopien im Hintergrund der Meninas plazierte. Analog zur Einfügung Léons in die Phantasmagorie von Velázquez‘ Atelier, von der gerade die Rede war, kamen auf diese Weise erneut Familienmitglieder ins Spiel, da das linke der Bilder Manets Frau und einen seiner Brüder, das rechte hingegen seine Frau und seine Mutter zeigen dürften. Wer aber ist nun der Maler mit dem seltsam zweigeteilten Gesicht – Manet oder Velázquez? Welche Identität haben die Männer, die anstelle der Infantin und ihres Gefolges ins Atelier getreten sind? Sind es erneut jene spanischen Kavaliere, oder vielmehr die Besucher von Manets Atelierschau, die er 1876 veranstaltete, nachdem seine Einsendungen zum Salon abgelehnt worden waren? In den Visiteurs dans l’atelier, das die Identitäten übereinander legte, rückte die Nachahmung von Velázquez in die Nähe der Verkörperung.

Den Abschluß dieser identifikatorischen Auseinandersetzung mit ‚maître Velázquez‘ bildete das 1879 gemalte Autoportrait à la palette, bei dem Manet die Pose einnahm, in der sich dieser in den Meninas zeigte. Wie bereits die Zeichnung der Visiteurs dans l’atelier läßt auch das Autoportrait offen, ob man eher von ‚Manet als Velázquez‘ oder aber von ‚Velázquez als Manet‘ sprechen sollte. Im Selbstporträt, das sich ganz auf die eigene Figur beschränkt, erzeugte Manet diese Ambivalenz durch den Doppelzug, einerseits die Haltung des Anderen einzunehmen und andererseits durch die spiegelbildliche Darstellung der eigenen Figur offenbar zu machen, daß es sich um ein – mithilfe eines Spiegels gemaltes – Bildnis seiner selbst handelte. Auf diese Weise aber malte Manet weniger sich selbst als vielmehr das Spiegelbild, das er sah. Dadurch wird unentscheidbar, ob wir Manet dabei beobachten, wie er Velázquez spielt, oder an Manets Blick teilhaben, der in den Spiegel schaute und dort Velázquez erblickte.

Einleitung
Kapitel I: Spanien in Paris
Kapitel II: Der Zögling Goyas
Kapitel III: Maître Velázquez
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2
Punkt Manet Velazquez Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1
Manet Velazquez Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2
Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität
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Autonomie Académie Salon Velázquez Tradition

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Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie

in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.

Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2

Der andere Bereich der Legitimitätskrise betraf Manets künstlerisches Metier. Es handelte sich um die Kehrseite der Autonomisierung der Kunst, in deren Geschichte sein Name besonders prominent erscheint.

Im Hinblick auf den künstlerischen Autonomisierungsprozeß sind im Frankreich des 19. Jahrhunderts zwei Phasen zu unterscheiden. Nach dem Ende des Ancien Régime und verstärkt in der Romantik ging es darum, die Malerei von der Aufgabe zu entbinden, eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen – einem Auftrag zu gehorchen oder einer Sache zu dienen, beispielsweise der Sache des Staates. Der zweite Schritt war entschieden radikaler. Manet – und nach ihm mancher Künstler der klassischen Avantgarden – wies die Verpflichtung zurück, in den eigenen Bildern überhaupt etwas aussagen zu müssen, was den herkömmlichen Auffassungen eines künstlerischen Sujets entsprochen hätte. Abgewehrt wurde insbesondere das ‚Literarische‘ im weitesten Sinne. War es in der Romantik, etwa bei Delacroix, noch allgegenwärtig, wurde es jetzt als aufzusprengende Umklammerung empfunden. Das Bild sollte auf keine Textquelle rückführbar sein, ja noch nicht einmal auf einen heteronomen ‚Diskurs‘, der von außen bestimmte, wonach sich seine Herstellung und seine Betrachtung zu richten hätten. Daraus erklärt sich die zunehmende Tendenz zur ‚Offenheit‘ und zum ‚Unvollendeten‘: Beides unterlief die Möglichkeit, dem Bild eine bestimmte Aussage abverlangen zu können. Bataille hat dies mit Blick auf Manets Malerei zu der Formulierung zugespitzt, deren Spezifik liege darin, jeden literarischen Sinn, aber auch jede Referenz auf tradierte Normen liquidiert zu haben: „Der Text“, so Bataille, „wird durch das Bild ausgelöscht. Und was das Bild bedeutet, ist nicht der Text, sondern dessen Auslöschung.“

Der augenfällige Rekurs auf Gemälde früherer Epochen verdeutlicht allerdings, daß Manet nicht nur bestehende Bindungen zerstörte, sondern ebenso nachdrücklich nach neuen suchte. In der normativen Leere, die durch den Niedergang der Académie des Beaux-Arts und durch die Autonomieforderungen der jungen Künstlergeneration entstand, wurde ungewiß, wer sich legitimerweise als Maler bezeichnen konnte und welche Sujets und Malweisen als Kunst zu gelten hatten. Bislang besaß die Académie das Monopol darauf, die ‚wahren‘ Künstler von den ‚anderen‘ zu scheiden. Dies zeigte sich nirgendwo deutlicher als bei der Kontrolle über den Salon, jener riesigen, meistens jährlichen Kunstschau, die damals beinahe die einzige Möglichkeit der Künstler war, ihre Werke auszustellen. Die Jury aus Akademieprofessoren und Regierungsvertretern entschied nicht nur, wer zugelassen wurde, sondern ließ die abgelehnten Werke rückseitig sogar mit einem roten ‚R‘ (für ‚refusé‘) stempeln, wodurch es fast unmöglich wurde, das Bild noch zu verkaufen. Gerade die heftigen Kämpfe, die zu Manets Zeit um die Zulassung zum Salon geführt wurden und beispielsweise 1863 Napoleon veranlaßten, einen Salon des Refusés einzurichten, bezeugten die schwindende Autorität der ehemals mächtigen Selektionsinstanz der Academie. In dieser unklaren künstlerischen Situation suchte Manet die Rückversicherung bei Malern der Vergangenheit, in deren Bildern er Vorläufer seiner eigenen Absichten zu entdecken glaubte. In Tizian und Rubens, vor allem aber in ‚maître Velázquez‘ erkannte er Wahlverwandte, deren nicht-akademische, zu jener Zeit jedoch wachsende Autorität seiner eigenen Malerei, welche die überlieferten Normen so offensichtlich zu mißachten schien, die künstlerische ‚maîtrise‘ verleihen sollte. Seine Orientierung an gerade diesen Künstlern dürfte dabei nicht nur stilistische Gründe gehabt haben. In ihnen erkannte er Persönlichkeiten, deren aristokratischer Habitus eine künstlerische Autonomie avant la lettre darzustellen schien. Sie prägten ein Künstlerbild vor, dem er – unter den anderen historischen Bedingungen des ‚Dandyismus‘ – selbst nachzuleben versuchte.

In Manets Malerei überschneidet sich das Bemühen, sich kunsthistorisch als Teil einer Tradition zu begreifen, mit der Thematisierung des eigenen Familienzusammenhangs. Nancy Locke gelang es, aufgrund der Erhellung von Manets prekärer familiärer Situation Schlüsselbilder des Œuvres neu zu deuten. Dabei konnte sie zeigen, daß sich Manet immer wieder dem Thema der Familie zuwandte, ohne daß die Bilder je Familienbildnisse geworden wären, sowohl weil jeweils familienfremde Modelle hinzutraten als auch weil die repräsentierten familiären Rollen offen blieben. Locke deutete dies als künstlerische Realisierung einer ‚alternativen‘ Familie. Bezeichnend für diese Quasi-Familienbildnisse ist die Häufigkeit, mit der Léon Leenhoff darin erscheint. Dabei fällt auf, daß er jeweils randständig positioniert wurde, beispielsweise im Déjeuner dans l’atelier vor den anderen Figuren, im Balcon hingegen im Zimmerdunkel hinter ihnen. Sich selbst integrierte Manet kaum je in diese Figurenkonstellationen. So ist die männliche Figur im Déjeuner dans l’atelier, obschon es den Raum zeigt, in dem Manet das Bild malte, nicht dieser selbst, sondern ein befreundeter Maler. Die kaffeebringende Frau wiederum ist nicht Suzanne Leenhoff, wie zuweilen vermutet wurde, sondern ein unbekanntes Modell. In einem Bild wie dem Déjeuner schuf Manet das Bild eines familiären Zusammenhangs, der im realen Leben fehlte. Gleichzeitig wurde dieser innerbildliche Zusammenhang aufgebrochen, einerseits durch die Heterogeniät des Personals, andererseits durch eine Bildkomposition, die in irritierender Weise offenläßt, in welchen Beziehungen die Figuren untereinander und zum Raum außerhalb des Bildes, wo Manet als Maler sich situierte, stehen. Das Déjeuner dans l’atelier zeige, so die Formulierung Michael F. Zimmermanns, zugleich „die unmögliche Stellung des Sohnes im familiären Dreieck und die unmögliche Beziehung des Vaters zum Sohn“.

Wie aber stand es um die künstlerische Genealogie? Der Besuch jener Künstlergruppe, die ihn 1861 wegen des Chanteur espagnol im Atelier aufsuchte und zum Kopf ihrer Bewegung erklärte, beweist, daß es Manet im Feld der Kunst gelang, sich als ‚Vaterfigur‘ zu etablieren. Der sich etablierenden Avantgarde der 1860er Jahre erschien Manet als Autorität, auf die sich die Nachkommenden berufen konnten. Dieser Rang, mit seinen Gemälden das ‚Vorwort zur Zukunft‘ geschrieben zu haben, wurde ihm seither immer wieder zuerkannt – als eine der höchsten Auszeichnungen, welche die Kunstgeschichtsschreibung zu vergeben hat.

Unerledigt blieb jedoch das Problem des künstlerischen Herkommens, der ‚Sohnesschaft‘ seiner Kunst. Besonders der Aufschrei angesichts der Olympia, die nicht nur als Verhöhnung des Sittlichen, sondern auch der Kunst aufgefaßt wurde, mußte Manet offenbaren, daß der Versuch, die eigene Malerei durch den Rekurs auf ältere Bilder kunsthistorisch zu legitimieren, gescheitert war. Mochte er sich selbst in die Tradition der ‚grande peinture‘ stellen – die Öffentlichkeit folgte ihm darin nicht. Aufgrund ebendieser Erfahrung brach Manet nach Madrid auf. In seiner Verunsicherung, die Suzanne Manet in einem Brief an Baudelaire als „Sorgen meines armen Édouard über seine Zukunft“ beschrieb, wandte sich Manet an jene Autorität, die ihm seit Studientagen als die überragende galt. Hatte Manet bislang lediglich zweifelhafte Gemälde oder aber druckgraphische Reproduktionen von Velázquez gesehen, sah er sich nun mehreren Dutzend gesicherten Arbeiten gegenüber, unter denen sich auch die Hauptwerke befanden – eine Präsenzerfahrung, die Manet, wie die Briefe bezeugen, überwältigte. Doch sie warf ihn nicht nieder, im Gegenteil. In jenem Brief, den er an Astruc schrieb, faßte er den Bezug zu Velázquez in Worte, die an Baudelaires Beschreibung seines Verhältnisses zu Edgar Allen Poe erinnert: In Velázquez habe er die Verwirklichung seines Ideals in der Malerei gefunden. Die mutige Filiation, die er zwischen sich und ‚maître Velázquez‘ über die Jahrhunderte und die kunsthistorischen Zusammenhänge hinweg herstellt, überbietet er noch durch die Kühnheit, sich selbst als Träger des Ideals, Velázquez hingegen als dessen Realisator zu bezeichnen. Dieser Umkehrung gemäß war Manet gerade nicht der Imitator, als welcher er kritisiert wurde, sondern es war Velázquez, der ihm, Manet, glich.

Die in Manets Worten erzeugte Ambivalenz, wer in wessen Abhängigkeit stand, sollte durch die Wiederentdeckung von Velázquez‘ Malerei im 19. Jahrhundert, die Manet so entschieden förderte, bald auch das offizielle Bild des spanischen Malers prägen. Hatte sich Manet in Velázquez eine kunsthistorische Herkunft zu sichern versucht, verschaffte umgekehrt der Zuspruch der Nachgeborenen Velázquez eine überraschende Gegenwart, ja sogar eine unerwartete Zukunft. Wenige Jahre nach Manets Tod schrieb Paul Lefort, als Inspecteur des Beaux-Arts eine der offiziellen Stimmen in der Kulturadministration der Dritten Republik, in seiner Monographie über den Maler, dieser sei seiner Zeit so deutlich voraus, daß er eher der gegenwärtigen anzugehören scheine. Man sei sogar versucht zu sagen, er spreche die Sprache der Zukunft, welche die Avantgarde gerade erst zu stammeln begonnen habe. Velázquez war zum Modernisten avant la lettre geworden, auch er schien jenes ‚Vorwort zur Zukunft‘ verfaßt zu haben, das man rückblickend auch in Manets Œuvre zu erkennen glaubte.

Einleitung
Kapitel I: Spanien in Paris
Kapitel II: Der Zögling Goyas
Kapitel III: Maître Velázquez
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Punkt Manet Velazquez Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2
Manet Velazquez Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2
Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität
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Auguste Manet Léon Suzanne Leenhoff Koëlla

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Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1

Manets Reisemotive hängen, so die zu erläuternde These, mit einem Legitimitätsproblem zusammen, das sich in zwei unterschiedlichen Bereichen abzeichnete: einerseits in Manets Familie, andererseits in der eigenen künstlerischen Praxis. In beiden Bereichen zeigt es sich als unsichere genealogische Verankerung, als ungewisse Vater- und Sohnesschaft; und in beiden Bereichen war es die erste Hälfte der 1860er Jahre, in der sich die Krise und deren Bewältigung ereigneten.

Wenden wir uns zunächst der familiären Situation zu. Auf zahlreichen von Manets Gemälden begegnen wir einem Jungen – später einem jungen Mann -, dessen bürgerlicher Name Léon-Édouard Koëlla lautete und der gemäß Geburtsurkunde der Sohn von Suzanne Leenhoff und einem unbekannten Holländer namens Koëlla war. Suzanne Leenhoff war um die Jahreswende 1849/50 ins Hause Auguste Manets, des Vaters des Künstlers, gekommen, um den Söhnen Klavierunterricht zu erteilen. 1852 gebar sie den erwähnten Sohn, dessen leiblicher Vater bis heute nicht feststeht. In der Gesellschaft wurde er als Suzannes jüngerer Bruder ausgegeben, bei der späten Taufe 1855 wurde Manet sein Pate. Nach Auguste Manets Tod heirateten Suzanne und Édouard. Daraus wurde geschlossen, Léon sei deren gemeinsamer Sohn. Doch es gibt mehrere Indizien, die gegen Édouards Vaterschaft sprechen. Das wichtigste dürfte sein, daß er Léon nie als Sohn legitimierte. Von Nancy Locke wurde statt dessen die Vermutung ins Spiel gebracht, Manets Vater Auguste sei Léons leiblicher Vater gewesen. In diesem Falle wäre jener nicht Édouards Sohn, sondern Halbbruder gewesen. Auch wenn dies nicht zu beweisen sein dürfte, bleibt an den vorliegenden Dokumenten doch auffällig, daß gerade die engsten Familienfreunde den Rätselcharakter von Léons Abstammung betonten, ja Léon selbst davon sprach, er habe dieses „secret de famille“ nie aufdecken können. Dies erzeugt den Eindruck eines Rätsels, das nicht gelöst werden durfte. Während die Vaterschaft des ledigen Kunststudenten Édouard kein allzu großes moralisches und juristisches Problem gewesen wäre, hätte Augustes Vaterschaft unter allen Umständen geheim bleiben müssen, nicht zuletzt weil er als Richter über genau solche Familienangelegenheiten schwere Sanktionen zu gewärtigen gehabt hätte. Da sichere Informationen darüber fehlen, ob und ab wann Édouard und Suzanne ein Liebespaar waren, ergeben sich, sofern die Vermutung von Augustes Vaterschaft zutreffen sollte, mehrere in unterschiedlicher Weise problematische Konstellationen. Entweder war Suzanne die Geliebte des Vaters und des Sohnes, und Édouard fühlte sich verpflichtet, für den Sohn (auch) seiner Geliebten zu sorgen; oder Manet ‚erbte‘ als erstgeborener Sohn nach dem Tod des Vaters nicht nur beträchtliche Vermögensteile, sondern auch dessen Geliebte sowie den mit ihr gezeugten Sohn. In beiden Fällen hätte Manet das väterliche Unrecht gedeckt, auch über dessen Tod hinaus.

Dieses ödipale Drama, sollte es sich tatsächlich ereignet haben, hätte sich einer ohnehin schwierigen Vater-Sohn-Beziehung eingefügt. Auguste Manet, Magistrat der Restaurationszeit, exemplarischer ‚haut bourgeois‘ und autoritärer ‚père de famille‘, war vor allem anderen besorgt, das Ansehen des Familiennamens und des Berufsstandes, dem schon seine Vorfahren angehörten, zu wahren. Infolgedessen versuchte er mit allen Mitteln, dem ältesten Sohn seine Neigungen zum Künstlerischen auszureden. Er sollte die juristische Laufbahn einschlagen, und als dies unmöglich schien, in der Marine untergebracht werden. Da Manet jedoch die jeweiligen Examen nicht bestand oder gar nicht ablegte, blieb Auguste nichts anderes übrig, als in die Malerausbildung einzuwilligen. 1857, ein Jahr nachdem Manet seine Lehrzeit beendet und den Weg des selbständigen Malers angetreten hatte, erkrankte Auguste so schwer, daß er sein Amt niederlegen mußte, da er aufgrund von Lähmungserscheinungen nicht mehr sprechen und schreiben konnte. Das ohnehin schwierige Gespräch zwischen Vater und Sohn brach ab. Ein eindrückliches Dokument dieses Verstummens hinterließ Manet im Portrait de M. et Mme Manet. Gerade weil die Figuren in Manets Bildern meistens direkt aus dem Bild blicken, fällt hier auf, daß Auguste, obwohl er nahe und fast frontal an den vorderen Bildrand gerückt wurde, nicht zum Betrachter – bzw. zum porträtierenden Sohn – schaut, sondern mit einem Gesichtsausdruck vor sich hinstarrt, in dem sich Wut, Anstrengung und Trauer gleichermaßen abzeichnen. 1861, ein Jahr vor Augustes Tod, präsentierte sich Manet mit diesem Bild in dem ersten Salon, dessen Jury ihn zuließ. Daneben hing sein Chanteur espagnol, der vom Publikum als Beginn einer erfolgreichen Malerlaufbahn gepriesen wurde.

Ein Jahr nach dem Tod des Vaters wurde die causa Léon Leenhoff innerlich und äußerlich abgeschlossen: 1863 heiratete Manet Suzanne Leenhoff, sie bezogen eine gemeinsame Wohnung, und Manet sorgte für Léon wie für seinen eigenen Sohn. Später bestimmte er ihn testamentarisch als denjenigen, der nach seinem und Suzannes Tod die gesamte Hinterlassenschaft erben sollte.

Einleitung
Kapitel I: Spanien in Paris
Kapitel II: Der Zögling Goyas
Kapitel III: Maître Velázquez
Punkt Manet Velazquez Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Manet Velazquez Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2
Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität
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Manet Prado Velázquez Goya Balkon

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Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie

in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.

Kapitel III: Maître Velázquez

Die Fahrt in das pittoreske Spanien, das Manets Œuvre bislang evoziert hatte, war jedoch wider Erwarten kurz: Schon zehn Tage später war Manet wieder in Frankreich, und ein entsetzter Astruc mußte erfahren, daß seine zahlreichen Hinweise auf Sehenswürdigkeiten und Exkursionsmöglichkeiten in den Wind geschrieben waren. Geflohen sei er, wie Manet andeutete, vor der spanischen Küche, die seinem Pariser Magen nicht bekommen sei. Das dürfte nicht der einzige Grund für die vorzeitige Rückreise gewesen sein. In den Briefen an Fantin-Latour, Baudelaire und Astruc, in denen Manet von der Reise berichtete, spricht er keineswegs von einer vorzeitig beendeten oder gar mißlungenen Reise. Vielmehr scheint Manet in den wenigen Tagen gesehen zu haben, was er zu sehen brauchte. Dabei stellen die Reiseberichte Gautiers Hierarchie des Sehenswerten auf den Kopf. Dieser besuchte in Madrid als erstes einen Stierkampf, den er höchst detailliert schildert, streifte danach durch die Stadt, unter anderem um die Schönheit der Madrileninnen zu ergründen, und besuchte zuletzt pflichtschuldig auch den Prado. Gerade einmal fünf uninspirierte Zeilen preisen dessen „außerordentlichen Reichtum“, der „einen Band für sich allein“ erforderte, und listen die wichtigsten Künstler auf. Manet hingegen trug sich gleich am Tag nach seiner Ankunft ins Besucherbuch des Prado ein und scheint täglich wiedergekommen zu sein. Auch in den Briefen kommt er jeweils zuallererst auf Velázquez zu sprechen, um dann die Qualität weiterer Maler zu erörtern, während die Reize des Stierkampfs und der fächerwedelnden ‚majas‘ deutlich abgesetzt hintangestellt werden. Angesichts der bisherigen Faszination für die folkloristischen Aspekte Spaniens muten die entsprechenden Darstellungen überdies eigentümlich stereotyp an. Aufschlußreich ist schließlich, daß Maler wie Murillo, Ribera und sogar Goya, die als entschieden ‚spanischer‘ gelten können als Velázquez, beiläufig oder gar ablehnend kommentiert werden. Obschon Astruc glauben mußte, Manets Reise sei gescheitert – „wirklich, alles muß nochmals gemacht werden“, schrieb er zurück – hatte Manet sein Reiseziel erreicht:

„Ich blieb sieben Tage in Madrid und hatte genügend Zeit, alles zu sehen […]. Was mich am meisten hinriß […], was ganz alleine die Reise lohnt, ist das Œuvre von Velázquez. Er ist der Maler der Maler […]; in ihm habe ich die Verwirklichung meines Ideals in der Malerei gefunden; der Anblick dieser Meisterwerke hat mir große Hoffnung und Zuversicht gegeben.“

Als Manet nach der katastrophalen Aufnahme Olympias aufgebrochen war, um „maître Velázquez um Rat zu fragen“, ging es um einen Akt der Rückversicherung in einem Augenblick größter Selbstzweifel. Wie die Briefstelle belegt, gelang dies auch: Manet kehrte hoffnungsvoll zurück. Zugleich erkannte er, was ihn wirklich betraf. Während die Begegnung mit Velázquez‘ Gemälden alles überstrahlte, erschien jenes ‚Spanische‘, das seine Malerei bislang durchzog, mit einem Male entbehrlich. Wenn Manet später auf Bildfindungen spanischer Künstler zurückgriff, beispielsweise 1868 auf Goyas Majas al balcón für Le balcon, übernahm er lediglich die Grundstruktur, um zugleich jegliches ‚spanische Kolorit‘ auszulöschen. Worin aber bestand die Zuversicht, die ihm Velázquez gab? Sowohl der Zweifel am eigenen malerischen Standpunkt als auch der Versuch, sich bei diesem Maler rückzuversichern, haben komplexe Ursachen. Den Schlüssel zu deren Verständnis bildet, so meine Vermutung, das Wort ‚maître‘.

Einleitung
Kapitel I: Spanien in Paris
Kapitel II: Der Zögling Goyas
Punkt Manet Velazquez Kapitel III: Maître Velázquez
Manet Velazquez Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2
Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität
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Manet Salon Gautier Olympia Goya

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Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie

in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.

Kapitel II: Der Zögling Goyas

Manet gelang es geschickt, sich dem Zeitgeschmack anzupassen. Nachdem 1859 seine erste Eingabe zum Salon, die Darstellung eines Pariser Straßenstreichers, von der Jury abgelehnt worden war, errang er zwei Jahre später mit dem Chanteur espagnol einen ersten Erfolg, der ihm eine ‚ehrenvolle Erwähnung‘ der Salonjury einbrachte. Das Bild veranlaßte sogar eine Gruppe junger Künstler, den ihnen unbekannten Maler im Atelier aufzusuchen und zur Leitfigur einer neuen malerischen Richtung, die Romantik und Realismus versöhnen sollte, auszurufen.

Gautier, der inzwischen auch einflußreiche Kunstkritiken schrieb, widmete dem Bild in seinem Salonbericht folgenden ausführlichen Kommentar:

Caramba! Hier ist ein guitarero, der nicht aus der Opéra-Comique stammt und auf der Titellithographie einer Romanze eine schlechte Figur machte. Aber Velázquez grüßte ihn mit einem freundschaftlichen Augenzwinkern, und Goya bäte ihn um Feuer für seinen papelito. Wie beherzt er krakeelt und seinen Schinken traktiert. – Wir scheinen ihn zu hören. – Dieser ehrliche Spanier mit seinem sombrero calañes und seiner veste marseillaise trägt eine französische Hose. Hélas! Figaros Hose wird nicht mehr nur von den espadas und banderillos getragen. Aber diese Konzession an die zivilisierte Mode wird von den alpargates [den Schnursohlen-Schuhen, M.L.] wiedergutgemacht. Viel Talent steckt in dieser lebensgroßen Figur, die mit dickem Farbauftrag, mutigem Pinselstrich und sehr wahrhaftigen Farbtönen gemalt ist.“

Gautiers Rhetorik bezeugt nicht nur die grassierende Spanienmode, sondern offenbart auch den Kitsch, der darin mittransportiert wurde. Dies liegt insbesondere an Gautiers Ehrgeiz, sich durch die zahlreichen spanischen Fachtermini als Kenner der Materie auszuweisen.

In den überaus produktiven Jahren 1860 bis 1863, in denen Manets malerische Handschrift Kontur gewinnt, kann die Mehrheit der Arbeiten dem Themenfeld ‚Spanien‘ zugerechnet werden, von Darstellungen einer Tänzergruppe aus dem Königlichen Theater in Madrid, die 1862 mit großem Erfolg in Paris auftrat, über eine Titellithographie für eine Serenade, die sein hispanophiler Freund Zacharie Astruc 1863 komponierte, bis zur Genredarstellung einer spanischen Zigeunerfamilie.

Bei der nächsten Gelegenheit, vor das Salonpublikum zu treten, präsentierte Manet Mlle V… en costume d’espada. Die eigentümliche ‚Falschheit‘, die Gustave Flaubert in einem Brief an George Sand dem Zweiten Kaiserreich attestierte – „Alles war falsch, ein falscher Realismus, eine falsche Armee, ein falscher Kredit und sogar falsche Huren!“ – durchzieht auch Manets spanische Produktionen. Allerdings liegt das Herausfordernde an Bildern wie Mlle V… darin, diese ‚Falschheit‘ nicht zu verschleiern, wie es das Merkmal der offiziellen Salonmalerei war, sondern augenfällig herauszustreichen. So verdeutlichen gerade die Ambitioniertesten unter Manets Gemälden jener Jahre, daß das Spanische eine Maskerade ist und die Schlüssigkeit des Bildes folglich nicht im Motiv liegen kann, sondern allein in der Farbgebung und im formalen Arrangement auf der Bildfläche. Schon Gautier hatte an der Kleidung des Chanteur espagnol das Zusammengestückelte hervorgehoben, und den zeitgenössischen Betrachtern fiel zudem rasch auf, daß dies gar kein professioneller Gitarrenspieler sein kann, da er als Linkshänder ein für Rechtshänder gestimmtes Instrument hält. In Mlle V… trägt Victorine Meurent, Manets bevorzugtes Modell jener Jahre, teilweise dieselben Kostümversatzstücke wie Le chanteur espagnol und kombiniert sie mit braunen Hausschläppchen, in denen man einem Stier nicht gegenübertreten sollte. Auch der szenisch-räumliche Zusammenhang der Figur bleibt unklar. Die Figur steht zugleich im Bild und vor dem Bild. So wirkt der Hintergrund, dessen Stierkampfszene sowie Männergruppe Manet zwei Tauromaquia-Stichen Francisco de Goyas entnahm, aufgrund der perspektivischen Unplausibilität wie eine Theaterkulisse, vor der sich das Modell in Pose wirft. Die augenfälligste ‚Falschheit‘ aber besteht wohl darin, für diesen männlichsten aller Berufe ein weibliches Modell auszuwählen. Diese Travestie ist nur scheinbar gedeckt durch die Bezeichnung ‚espada‘, die nach einem weiblichen Pendant zum männlichen Stierkämpfer klingt, in Wahrheit aber – wie Gautier den Lesern seiner Voyage en Espagne erklärt – die in Spanien übliche Bezeichnung für den Torero darstellt. Das Bild erscheint als malerische Fiktion einer theatralen Fiktion, als Gemälde einer Aufführung. Dadurch bleibt unklar, auf welcher Ebene das augenfällig Unplausible anzusiedeln ist. Während für das befremdliche Aneinanderstoßen von Modell und Stierkampfszene der Realitätswechsel zwischen Figur und Kulisse verantwortlich zu sein scheint, ist zugleich eine Kulisse, die eine zeitlich so zugespitzte Stierkampfszene enthält, undenkbar.

Nach dem verheißungsvollen Auftakt des Chanteur espagnol verschlechterte sich Manets fortuna critica schnell und nachhaltig. Dabei biß sich die Kritik gerade an jenem Spanischen fest, das Manet anfänglich half, ein Publikum zu finden. Sie erklärte ihn zum bloßen Imitator Goyas, Velázquez‘ oder El Grecos, der offenbar selbst zu wenig Persönlichkeit besitze, um eigenständig arbeiten zu können. In einem Brief an Théophile Thoré, der Manets spanische ‚pastiches‘ entsprechend kritisch beurteilt hatte, sprang Baudelaire dem Künstler bei, indem er klarzustellen versuchte, es gehe hier nicht um Imitationen, sondern um „mysteriöse Koinzidenzen“ zwischen voneinander unabhängigen Œuvres. Ja, mit Blick auf sich selbst vollzog Baudelaire eine kühne Wendung. Ihn selbst habe man beschuldigt, Edgar Allen Poe zu imitieren. Tatsächlich verhalte es sich jedoch umgekehrt:

Wissen Sie, warum ich Poe so geduldig übersetzt habe? Weil er mir glich. Als ich das erste Mal ein Buch von ihm aufschlug, stieß ich, zu Tode erschrocken und hingerissen, nicht nur auf Sujets, von denen ich träumte, sondern auf SÄTZE, die ich gedacht hatte und die er zwanzig Jahre zuvor niederschrieb.

Dieser Disput über das Spanische in Manets Kunst war jedoch nur ein zahmer Anfang. Zur gefährlichsten Krise in Manets künstlerischer Biographie wurde der Entrüstungssturm, den sein Gemälde Olympia im Salon von 1865 entfachte. Sowohl die Rezensenten als auch das Publikum reagierten so heftig, daß das Bild in die oberste Reihe der Exponate umgehängt wurde, um es den Blicken weitestmöglich zu entziehen. Das war die genaue Umkehrung der Situation vier Jahre zuvor, als Le chanteur espagnol aufgrund des großen Zuspruchs von seiner anfänglich hohen Positionierung auf Augenhöhe heruntergeholt worden war. In den zahlreich überlieferten Schmähungen des Bildes, die häufig in ein obszönes Metaphernregister abrutschten, figurierte das ‚Spanische‘ – das Manet auch jetzt zugesprochen wurde, obwohl Olympia auf Tizians Venere d’Urbino anspielte – nicht mehr als Angebot an den Publikumsgeschmack oder als Möglichkeit, Romantik und Realismus miteinander zu versöhnen, so wie es Le chanteur espagnol verwirklicht zu haben schien. Vielmehr wurde es zum Synonym für die nackte Häßlichkeit harten Lichts und schwarzer Konturen, welche Manet nur deshalb gemalt habe, weil er die Augen und den Anstand des Publikums zu beleidigen suche. Olympia sei, so eine der damaligen Stimmen, „Malerei aus der Schule Baudelaires, ausgeführt von einem Zögling Goyas“.

Das vollständige Mißverstehen seiner Anliegen, verbunden mit der Grobheit der Angriffe, verletzten Manet zutiefst. Baudelaire schrieb er ins Brüsseler Exil, gerne erführe er dessen gesundes Urteil über sein Bild, denn all dieses Geschrei mache ihn verrückt. Es sei offensichtlich, daß jemand sich irre – er oder das Publikum. Manet mußte Klarheit über sein Tun gewinnen, insbesondere über sein Verhältnis zu jenem ‚Spanischen‘, das ihm etwas ganz anderes bedeutete als was die Salongänger darin erkannten. Dafür reichten die Erfahrungen, die Manet im Variété oder vor den – in ihrer Echtheit meist umstrittenen – spanischen Gemälden des Louvre gewinnen konnte, nicht aus. Zwei Monate nach Schließung des Salons bat er den spanienkundigen Freund Astruc, ihm das Programm für einen einmonatigen Aufenthalt in Spanien zusammenzustellen. Nach dessen ausführlicher Antwort hielt es ihn nicht länger:

„Ich möchte sogleich aufbrechen, übermorgen vielleicht, ich habe es sehr eilig, so viele schöne Dinge zu sehen und maître Velázquez um Rat zu fragen.“

Da sich die beiden Freunde, die er zur Mitreise aufforderte, nicht schnell genug entschieden, fuhr er, entgegen der damaligen Sitte, allein. Am 29. August bestieg er die Eisenbahn und erreichte am 31. August Madrid.

Einleitung
Kapitel I: Spanien in Paris
Punkt Manet Velazquez Kapitel II: Der Zögling Goyas
Manet Velazquez Kapitel III: Maître Velázquez
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2
Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität
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Manet Paris Zweites Kaiserreich Napoleon Eugénie

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Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie

in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.

Kapitel I: Spanien in Paris

Seit den 1830er Jahren entwickelte sich in der französischen Hochkultur eine Spanienmode, die sich beispielsweise literarisch in Victor Hugos Drama Hernani (1830) oder Prosper Merimées Novelle Carmen (1845), in der bildenden Kunst in Louis-Philippes 1838 eröffneter Galerie Espagnole im Louvre manifestierte. 1840 bereiste Théophile Gautier – der später eine der ersten Kunstkritiken über Manet schreiben sollte – Spanien, insbesondere Madrid und Andalusien, und sein Bericht, der 1843 in Buchform erschien und bis 1875 neunmal wiederabgedruckt wurde, ermutigte Nachahmer, die mit dem ‚Gautier‘ reisten wie heutige Franzosen mit dem ‚Michelin‘. Die Gründe für die Zuwendung zu Spanien waren vielfältig. Das Interesse wandte sich einem Land zu, dessen Bevölkerung sich der napoleonischen Besetzung hartnäckig widersetzt hatte und dessen Sitten und Gebräuche von der französischen ‚civilisation‘ stark abwichen. Vor allem romantisch gesinnte Zeitgenossen suchten das ‚Archaische‘ eines Landes, in dem es noch immer die Inquisition gab (bis 1834) und das zu bereisen als Abenteuer galt. Parallel zum Interesse am Land selbst wurde die spanische Malerei des ‚siglo d’oro‘ entdeckt und in großer Zahl nach Paris gebracht. Sie diente sowohl den Romantikern um Delacroix als auch den Realisten um Courbet und später Manet als Gegenentwurf zu den klassizistischen Idealen der Académie des Beaux-Arts.

Doch es war das Zweite Kaiserreich, in dem die Begeisterung an allem Spanischen bis in die Populärkultur vordrang. Sie wurde Teil der Pariser Vergnügungskultur, die das Kaiserpaar zur Kompensation seiner repressiven Herrschaft zielstrebig förderte, mit der Begründung, es gehöre zu den obersten Pflichten eines Souveräns, die Untertanen aller Gesellschaftsschichten gut zu unterhalten. Auslöserin dieser neuen Welle der Hispanisierung war die aus spanischem Landadel stammende Abenteurerin Eugenia de Montijo, die im Januar 1853 in einer überaus pompösen Zeremonie Napoleon III. geheiratet hatte – jenen schwer einzuschätzenden, zugleich fortschrittlichen und reaktionären Herrscher über Frankreich, den Victor Hugo als „den Kleinen“ und Karl Marx als „falschen Spieler“ verspotteten. Der Ehrgeiz von Kaiserin Eugénie, wie sie nun hieß, war groß, und ihre Macht wuchs proportional zur Schwäche ihres bedeutend älteren Mannes, die in den 1860er Jahren bedrohlich zunahm. Eugénie gehörte zu den entschiedenen Verfechtern der fatalen Idee, der seit vierzig Jahren von Spanien unabhängigen mexikanischen Republik mit der Gewalt französischer Soldaten erneut eine Monarchie aufzuzwingen. Diese Unternehmung endete 1867 in einem kolossalen außenpolitischen Desaster, als Erzherzog Maximilian von Österreich, der 1864 als Kaiser von Mexiko eingesetzt worden war, von Soldaten des gewählten mexikanischen Präsidenten Benito Juáres standrechtlich erschossen wurde. Das Ereignis, in dem die Zeitgenossen bereits das Endes des Zweiten Kaiserreichs sich ankündigen sahen, veranlaßte Manet zu einem ambitionierten Historiengemälde, das aufgrund der scharfen Zensurbestimmungen nicht ausgestellt werden durfte. Erneut war es Kaiserin Eugénie, die maßgeblich daran beteiligt war, aufgrund von Streitereien über die Wiederbesetzung des spanischen Königsthrons 1870 den Deutsch-Französischen Krieg vom Zaune zu brechen, der innerhalb weniger Wochen die Niederlage der französischen Armee und den Zusammenbruch des Napoleonischen Regimes herbeiführte. Obschon der kranke und zunehmend apathische Kaiser in den wenigen Augenblicken der Handlungsfähigkeit versucht hatte, den Frieden zu retten – allein schon weil er sich außerstande sah, auf einem Pferd zu reiten und das französische Heer zu befehligen -, setzte sich Eugénie, im Verbund mit einigen Ministern aus Napoleons Kabinett und getragen von einer antipreußisch aufgestachelten öffentlichen Meinung, darüber hinweg. Als die Abgeordnetenkammer für die Kriegserklärung an Preußen stimmte, beanspruchte sie die entscheidende Rolle für sich: „Cette guerre la; c’est ma guerre“. Im Tuilerienpalast trug die ‚Spanierin‘ – wie sie anfänglich euphorisch, zum Schluß abschätzig genannt wurde – entschieden dazu bei, das Zweite Kaiserreich in den Untergang zu treiben. Im Pariser Kultur- und Festkalender hingegen zeigte sich das Spanische als pittoreskes Dauerspektakel, von Maskenbällen über Gastspiele spanischer Tänzergruppen bis zu Versuchen, den Stierkampf auch in Paris einzuführen.

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Punkt Manet Velazquez Kapitel I: Spanien in Paris
Manet Velazquez Kapitel II: Der Zögling Goyas
Kapitel III: Maître Velázquez
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2
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