Lucio Fontana Tagli Zeichnung Schnitt Ikonoklasmus

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Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne. Delacroix – Fontana – Nauman

in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 46/2, 2001, S. 227-254.

Kapitel III: Lucio Fontana

„Als Geste bleibt die Kunst ewig, aber ihr Material wird sterben.“ Durch die verwirrende Vielfalt an Materialien, Kunstformen und Gattungen, die Lucio Fontanas Œuvre umfaßt, zieht sich eine Spur, die es im Rückblick gleichwohl geordnet erscheinen läßt. Es handelt sich um die Ordnung einer kohärenten und notwendigen Abfolge, die sich gleichwohl nicht vorhersehen ließ. Mit Beharrlichkeit verfolgt Fontana eine bildnerische und zugleich das Bild überschreitende Absicht, die er 1946 im „Weißen Manifest“ als die Notwendigkeit beschreibt, Malerei und Bildhauerei, aber auch Dichtung und Musik in einer umfassenden Kunst aufzuheben, die „den Bedürfnissen des neuen Geistes entspricht“. Sein Ziel ist eine Kunst der Bewegtheit, die Raum und Zeit gleichermaßen umfaßt, und deren erste Anzeichen er im Barock entdeckt, dessen Figuren sich „von der Fläche zu lösen und mit ihren Bewegungen in den Raum auszugreifen“ scheinen. Das ganzes Œuvre hindurch versucht er, das Immaterielle im Materiellen zur Geltung zu bringen, das ‚Äußere‘ ins ‚Innere‘ des Darstellungsbereichs einzuführen, ohne zu illusionistischen Mitteln zu greifen. Seine Suche, die viele Nebenwege kennt, mündet schließlich in einen wortwörlich durchschlagenden Fund. In einem Interview, das er im Todesjahr 1968 gibt, sagt er: „Wenn irgendeine meiner Entdeckungen von einiger Wichtigkeit ist, dann ist es das ‚Loch‘.“ „Das Loch“, so Fontana weiter, „[…] war gerade außerhalb der Dimension des Bildes. […] Ich habe nicht Löcher gemacht, um das Bild zu ruinieren – nein – ich habe Löcher gemacht, um etwas zu finden. […] Die anderen haben es nie begriffen. Sie sagten, ich zerschlitze Leinwände […]. Aber das stimmt nicht.“ Was genau aber hat Fontana gefunden?

Die geschlitzten Bilder, I Tagli, die ab 1958 bis zum Tod als Fontanas umfangreichste Werkserie entstehen, haben zwei Komponenten: den Schlitz und die zumeist monochrome Fläche des Bildträgers (Abb. 1 und 2). Letzterer stellt – vor der Schlitzung – einen leeren, unmarkierten Raum dar, vergleichbar einer leeren Bühne, auf der ein Körper agieren kann, oder der Stille, die den Tönen das Klingen erst ermöglicht. Die Reinheit und ‚Absolutheit‘ dieser Leere verstärkt die Dreistigkeit des Schnittes. Umgekehrt bringt der Schnitt die Doppelnatur der Leinwandfläche zum Vorschein, die bei einem Bild stets zugleich materieller Träger und Erscheinungsort eines Abwesenden ist. Er negiert beides im selben Zuge, sowohl den Illusionismus der traditionellen Malerei wie zugleich die Flachheit des Bildträgers, die in der Moderne den traditionellen Illusionismus ersetzt. „Wenn ich ein Bild mit einem Schnitt mache“, so Fontana, „will ich kein Bild machen: ich öffne einen Raum, eine neue Dimension […]“.

Um dem näher zu kommen, was Fontana ‚gefunden‘ hat, ist es hilfreich, den Schnitt in die Leinwand im Rahmen der neuzeitlichen Theorie des ‚disegno‘, der ‚Zeichnung‘, zu sehen. In der italienischen Kunsttheorie des 16. und 17. Jahrhunderts ist ‚disegno‘ der Name für die Form, in der die Kunst ihre Eigenleistung erbringt. Das Konzept des ‚disegno‘ tritt an die Stelle dessen, was die Scholastik ‚intentio‘ genannt hatte. Es ersetzt die handlungsimmanente Ausführung durch ein Konzept, das zwischen interner, vorab erfolgter Konzeption und nachträglicher externer Ausführung deutlich unterscheidet und doch beides in einem einzigen Begriff zusammenschließt. ‚Disegno‘ ist einer der interessantesten Begriffe der Tradition, vor allem, weil man ihn ontologisch kaum fassen kann. Die Grenze eines Dings, ebenso wie die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, ist ein ‚Nichts‘, sie ist weder im Ding noch außerhalb des Dings. Vielmehr handelt es sich um das Treffen einer Unterscheidung: zwischen Körper und Nicht-Körper, diesseits und jenseits, innen und außen. Das Ziehen einer Linie bricht das raumzeitliche Kontinuum auf mit der Folge, daß es dann zwei voneinander unterschiedene Seiten gibt. Doch gerade indem die Linie nichts ist, was man der Natur selbst entnehmen kann, wird ‚disegno‘ im Zuge der Aufwertung der künstlerischen Tätigkeit zum entscheidenden Können des Künstlers. Das Verwandeln eines ontologischen Nichts in ein perfektionierbares Können, eröffnet den Raum, in dem die Kunst sich selbst begründen kann.

Fontana nimmt diese Tradition auf: Im Grunde ist der Schnitt nichts anderes als das Ziehen einer Linie. Zugleich radikalisiert er deren ontologisches Nichts, das hier in doppelter Weise buchstäblich wird: Er trägt keinerlei Material auf – kein Graphit, keine Tinte, keine Farbe – und mündet zugleich in ein schieres Aufklaffen. Indem das ‚Zeichnen‘ die Bildfläche durchdringt, bringt es hier die Unterscheidungen, welche es ansonsten erzeugt, zum Einsturz. Innen und außen, vorne und hinten, realer Raum und imaginärer Raum sind in den Tagli zweierlei und doch eins. Sie berühren sich an der Schlitzung wie an einer ungreifbaren Naht.

Die Bilder unter dieser Perspektive zu betrachten, privilegiert den Akt des Schlitzens gegenüber dem Produkt, das dabei entsteht. Im Mittelpunkt steht dann weniger das, was Fontana dargestellt hat, so wie es häufig in der Kritik behauptet wird, wenn seine Bilder z.B. als Darstellungen des Unendlichen beschrieben werden. Denn streng genommen zeigen Fontanas Bilder nichts – auch nicht die Unendlichkeit, die sich der Darstellung ohnehin entzieht. Das Loch oder der Schlitz haben ihre Pointe gerade darin, die Repräsentationsleistung des Bildes zu liquidieren. Es gibt kein ‚Dahinter‘, das im Bild dargestellt und damit vergegenwärtigt wäre. Sowohl auf wie hinter dem Bild ist buchstäblich nichts, was etwas anderes ist als zu sagen, das Bild sei die Darstellung des Nichts (bzw. der Unendlichkeit). Fontanas Kunstpraxis schlitzt nicht nur die Leinwand auf, sondern sprengt zugleich die Repräsentation. Die Räumlichkeit eines repräsentierenden Bildes, sei es ein Gemälde, eine Photographie oder ein Film, besteht darin, einen anderen, ebenfalls dreidimensionalen, aber virtuellen Raum entstehen zu lassen, der sich, von einem Rahmen eingefaßt, jenseits unseres normalen Raumes befindet, getrennt davon durch den ‚Bildschirm‘ des Bildes. Fontana überführt die durch Repräsentation eröffnete Räumlichkeit in eine performativ eröffnete – er ersetzt, nach einer Formulierung Alberto Olivieros, „‚represented‘ spatiality“ durch „‚acted‘ spatiality“. Was das Bild zeigt, ist die Spur dieses eröffnenden Aktes, „die Verlängerung des abstrakten malerischen Moments“, um Yves Kleins Formulierung wieder aufzugreifen. Diesen infinitesimalen Augenblick, der sich jeweils nach langer Überlegung mit der Präzision und Schnelligkeit eines chirurgischen Eingriffs ereignete, sichtbar zu machen – das ist es, was Fontana ‚gefunden‘ hat.

Obschon Fontana von der Kunst als gegenständlicher Repräsentation, die sein Frühwerk bestimmt, zur Kunst als gestischer Performanz übergeht, zieht er daraus nicht die Folgerung, die vielen Künstlern, die zu dieser Zeit denselben Sprung wagen, geboten scheint, nämlich ganz aus dem Bild auszusteigen. Der Schnitt bleibt ‚immanent‘, er erzeugt ein Loch als Bild. Indem Schöpfung und Zerstörung des Bildes zusammenfallen, entsteht ein paradoxes Bild, das etwas zu sehen gibt und doch nichts zeigt. Obschon der Raum, den Fontana eröffnet, tatsächlich und nicht nur virtuell vorhanden ist, bleibt er unbestimmt, er ist ‚gerahmt‘ und expandierend zugleich: „Ich mache ein Loch, Unendlichkeit fließt hindurch […].“. Daß im Aufklaffen Raum und Zeit in höchste Spannung zueinandertreten, bringt Fontana auch mit der Betitelung der Tagli zum Ausdruck, die durchgängig Concetto spaziale / AttesaRaumkonzept / Erwartung genannt werden.

Die Pointe der Tagli als ‚Bild‘ besteht darin, Sein und Schein gleichermaßen zu sein. Es handelt sich nicht einfach um ‚Raum‘, sondern um ein Raumkonzept. Die ‚Unendlichkeit‘ wird im Schnitt konkret erschaffen und zugleich als Effekt inszeniert – insbesondere dadurch, daß Fontana hinter die Leinwand eine mattschwarze Gaze spannt, die das Licht schluckt und verhindert, daß die Wand sichtbar wird, wodurch sich offenbarte, daß die Tiefe der Unendlichkeit lediglich ein paar Millimeter beträgt. Die im Schnitt eröffnete Enttäuschung, daß ’nichts dahinter‘ ist, schirmt Fontana mit einem schwarzen Tuch ab, das erneut ein unsichtbares ‚Dahinter‘ erzeugt. Die Effektivität des Schnitts besteht also nicht darin, den Schein zu durchbrechen und zum ‚Sein‘ vorzudringen, sondern beides unabschließbar gegeneinander auszuspielen. Fontanas ‚Sterbenlassen‘ des Materials liquidiert den Scheincharakter des Bildes und restituiert ihn im selben Zuge. Der Riß im Bild ist real und zugleich der Ort dessen, was Adorno „apparition“ nannte: Ein Statthalter des Nicht-Seienden im Sein.

Folglich kreieren die Tagli ein ontologisches Paradox. Sie sind bloßer Vorschein der Unendlichkeit und gleichzeitig deren Ursprung. Die Unendlichkeit entspringt der zugleich realen wie auch semantischen ‚Lücke‘ des Schnitts, d.h. sie entsteht qua Ambivalenz, Unbestimmbarkeit und Unsichtbarkeit, als blinder Fleck inmitten des Bildes.

Versucht man, den Hieb in die Leinwand als Niederschrift eines ‚Autors‘ zu verstehen, muß man feststellen, daß er jegliche ausdrucksästhetische Interpretation, die das Kunstwerk als Emanation eines Autors versteht, unterläuft. Denn man kann den Hieb nur dann als Hervorbringung eines Ich auffassen, dessen Innen sich im Äußeren des Kunstwerks spiegelt, wenn man sich dieses Innen ebenfalls als ein Nichts, als eine aufklaffende Leere vorstellt. Folgt man dieser Spur, dann zeigt sich in Fontanas Bildern das, was Lacan als „Extimität“ des Subjekts bezeichnet, um mit diesem Neologismus Intimität und Äußerlichkeit des Subjekts zusammenzuschließen. Die Niederschrift des Subjekts im Medium des Bildes erweist sich als „Überschreiben zweier leerer Räume“, sie kündet von der intimen Erfahrung des Sichselbstfremdseins.

Der Versuch, das Schlitzen als ‚Äußerung‘ zu begreifen, wird durch die Entdeckung unterstützt, daß Fontana die Rückseiten der Tagli mit seltsamen Notaten versah. Hier manifestiert sich ein zwar verständliches, zugleich aber befremdlich oberflächliches ‚Reden‘, welches so gar nicht zu der stummen Geste des Schlitzens passen will und das Bild des Künstlers als ‚Zen-Meister‘ erheblich irritiert. Die Notate – je eines pro Bild – kreisen um die Tagesbefindlichkeit des Künstlers, um seine Unternehmungen, Vorlieben und Stimmungen: „Es gefällt mir, ein Tagedieb zu sein“, „Mozarts Zauberflöte, welches Wunder!! Schmerzt mich das rechte oder das linke Bein?“, „Ich warte auf den Gärtner der Seele“, „Nieren mit Petersilie bekommen mir nicht“, „Freihändig Fahrrad fahren tue ich gerne“, „Ich bin müde, ich gehe schlafen“, „Arbeiten, arbeiten, warum? Für wen? Zum Teufel mit der Arbeit …“. Sie halten das Wetter, bestimmte Ereignisse oder schlicht den Wochentag fest: „Heute ist ein trauriger Tag ohne Sonne“, „Russische Raumsonde erreicht Venus“, „Teresita hat Autofahren gelernt“, „Der Einfluß Chinas auf die sowjetische Politik … Marina Vlady in Rom“, „Heute ist Freitag, morgen Samstag“. Regeln und Weisheiten des Alltags werden aufgeschrieben: „Wenn es kalt wird, muß man die Heizung einschalten“, „Wer schläft, fängt keine Fische“, „Die Einsamkeit des Alters ist schlimmer als der Tod“, und Bemerkungen zur Kunst notiert: „Die Pop-Art, wie langweilig“, „Wohin kommen wir mit der Kunst?“, „Verstehe ich wirklich nichts von Malerei?“, es gibt Liedanfänge: „Mamma mia dammi cento lire che in America voglio andar …“ und Fragespiele: „Amerika wurde von Garibaldi entdeckt … Esel!!“, usw. Daneben finden sich Reihungen wie „Achtunddreißig, Neununddreißig, Vierzig“ oder „Heute, morgen, irgendwann“ sowie Wortspiele, z.B. mit dem eigenen Namen: „Fontana, Fontanella, Fontanone, Fontana“, und immer wieder eigentümliche Formeln wie „1+1-LLTA3“ oder „1+1-ZXY“, wobei es sich dabei wohl weniger um Kalkulationen handelt, die entschlüsselt werden könnten, sondern um den Niederschlag derselben Lust am Plappern und Kritzeln wie bei den übrigen Notaten. So steht neben der Formel „1+1-7777“ als Kommentar: „Mir gefällt die Ziffer 7“ – so daß Fontana sie gleich viermal hintereinanderschreibt.

Was hier zu Tage tritt, ist die Kehrseite des Schlitz-Aktes auch im übertragenen Sinne. Allerdings berühren sich die beiden Seiten darin, daß auch in dieser Redseligkeit Intimität und Äußerlichkeit zusammenfallen. Das auf der verborgenen Rückseite Aufgeschriebene erweist sich als Versammlung von Alltäglichkeiten, die über das Individuum Fontana kaum etwas aussagen, ja zuweilen als bloße Zeichen- oder Ziffernfolge. Deren Sinn scheint weniger darin zu bestehen, einen Inhalt mitzuteilen, als vielmehr darin, ‚etwas‘ zu äußern, auch wenn einem gerade ’nichts‘ einfällt. Vor dieser Gegenfolie vagierender Zerstreuung erscheint das Schlitzen, das mitten in die Notate hineinsticht, als deren Negation: als Ausdrucksballung, als ‚totale‘ Äußerung, die nicht dieses oder jenes, sondern alles auf einmal zu ’sagen‘ versucht, aber gerade dadurch jeglichen bestimmbaren Inhalt preisgibt und sogar das Medium der Artikulation angreift. Ähnliches war schon bei Delacroix zu beobachten, dessen Wunsch, die ‚Besessenheit‘ durch das Velazquez-Porträt mit einer einzigen, ‚totalen‘ Geste auszuagieren.

Das Medium des Bildes und die Subjektivität des Ichs haben gemeinsam, eine Vermittlungsleistung zu erbringen. Während Subjektivität Selbst und Welt miteinander in Beziehung setzt, übermittelt das Medium einen Inhalt. Das Kunstwerk scheint nun dadurch ausgezeichnet zu sein, diese beiden Vermittlungleistungen ineinanderzublenden und das eine im anderen wahrnehmbar zu machen, d.h. sie wiederum miteinander zu vermitteln. Fontanas Setzen einer Markierung auf der leeren Leinwand und die performative Selbstsetzung im Schnitt werden durch ein und denselben Akt vollzogen. Die Selbstsetzung dient dabei ebensosehr als Medium der Formsetzung wie umgekehrt die Formsetzung als Medium der Selbstsetzung.

Gerade an den Tagli aber wird deutlich, daß diese multiple Vermittlung auf die Punktualität des Aktes beschränkt bleibt. Das gilt gleichermaßen für den dezidierten Schnitt wie für die zerstreuten rückseitigen Notate, welche die eigene Existenz in einem fortgesetzten Sprechen zu gründen und zu sichern versuchen. Die ‚Berührung‘ von innen und außen, Selbst und Welt, welche diese beiden Artikulationsformen in so unterschiedlicher Weise herstellen, ist von diesen nicht ablösbar und auf Dauer zu stellen. Die Punktualität der Vermittlung hat zur Folge, daß sie immer aufs neue vollzogen werden muß, so daß Fontana über die Jahre hinweg, einer Askese gleich, Leinwand um Leinwand beschrieb und schlitzte.

Kapitel I: Einleitung
Kapitel II: Eugène Delacroix
Punkt Kapitel III: Lucio Fontana
Pfeil Kapitel IV: Bruce Nauman
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