Kunst Design Werbung Comic

Die Kunst und ihr Außen als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 3.430 KB)

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Die Kunst und ihr Außen – Am Beispiel von Claes Oldenburgs The Store

in: Zwischen „U“ und „E“. Grenzüberschreitungen in der Musik nach 1950, hrsg. von Friedrich Geiger und Frank Hentschel, Frankfurt am Main 2011, S. 173 – 194.

Kapitel IV: Die Kunst und ihr Außen

Es bleibt die Frage danach, ob wir etwa in Design, Werbung und Comic die gesuchte Entsprechung zur U-Musik finden. Gewiss sammeln Institutionen wie das Museum of Modern Art neben der bildenden Kunst auch Designobjekte, Plakate und Comics. Und so wie es dem Kunden im CD-Laden überlassen bleibt, nach links in die Abteilung für ‚Neue Musik‘ oder aber nach rechts in den Schlager-Sektor abzubiegen, steht es dem Besucher des MoMA frei, italienisches Autodesign der 1950er Jahre zu bewundern, falls er kein Verlangen nach Malerei verspürt. Doch diese Sammlungsbereiche sind nicht Unterhaltungskunst in Abgrenzung zu ernster Kunst. Die Institutionen und Diskurse ordnen die Grenzen hier anders: Sie verlaufen schlicht und einfach zwischen Kunst und allem anderen. Das degradiert die Designobjekte keinesfalls, weder materiell noch ideell. Es handelt sich um eine wertfreie Kategorisierung, nicht um eine Hierarchisierung von Objekten. Die beiden Bereiche – hier die Kunst, dort ihr Außen – werden nicht wie bei der Musik durch den kategorialen Überbegriff ‚Bildende Kunst‘ zusammengehalten, um dann sekundär in Unterkategorien aufgeteilt zu werden. Die unterschiedlichen Sammlungsteile des MoMA werden lediglich überwölbt von einem verallgemeinerten Begriff des Ästhetischen und einem unscharfen Begriff gestalteter Form.
Was die Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts vorantrieb, waren dementsprechend nicht allein die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen künstlerischen Subfeldern, sondern darüber hinaus der weite Bereich des Visuellen und Dinghaften jenseits der Kunst: der Bereich der Nicht-Kunst in tausenderlei Gestalt – gewissermaßen die Welt selbst. Für Marcel Duchamp waren es gewöhnliche Industrieprodukte wie eine Schneeschaufel oder ein Kamm, für die Surrealisten Schaufensterpuppen, für den späten Piet Mondrian der Straßenverkehr New Yorks, für die Pop-Künstler Comics und Werbeplakate, für die Nouveau Réalistes ein abgegessener Restauranttisch oder ein geschreddertes Automobil. Aufgrund der radikalen Offenheit und Nicht-Systematisierbarkeit dessen, was die Kunst an Nicht-Künstlerischem in immer neuen Schüben integrierte, wurde das Spiel der Grenzüberschreitung nicht nur zwischen distinkten künstlerischen Sub-Feldern gespielt, sondern insbesondere auch an der Grenze der Kunst. Diese Differenz zwischen Musik und bildender Kunst scheint so grundsätzlich zu sein, dass sie auch dann noch relevant bleibt, wenn man das musiksystematische ‚U-versus-E‘-Modell mit Blick auf das tatsächliche Musikgeschehen als verkürzend oder gar ideologisch kritisiert.
Es gibt immer mehrere Möglichkeiten, die Grenzüberschreitungen der bildenden Kunst in Richtung Nicht-Kunst zu verstehen: Man kann sie erstens kulturhistorisch deuten, und zwar als die Neuausrichtung künstlerischer Sensibilität angesichts zivilisatorischer Umbrüche, welche die Weltwahrnehmung insgesamt verändern. Sie erscheinen dann als Reaktionen auf eine andere Wirklichkeit, mit der sich auch die künstlerische Form zu ändern hat. Grenzüberschreitungen lassen sich zweitens als markanter Positionsbezug innerhalb des künstlerischen Feldes verstehen, als Bezug einer noch unbesetzten Position, die Inhalte oder Materialien aufnimmt, welche vormals als außerkünstlerisch galten. Drittens lassen sich Grenzüberschreitungen aber auch als (neo-)avantgardistische Strategie der Verschmelzung von Kunst und Leben auffassen, die sich gegen die Entfremdung des künstlerischen Tuns von den sonstigen gesellschaftlichen Prozessen wendet und damit bewusst dessen autonomen Status überschreiten möchte. Verbunden damit erscheinen sie als kritische Intervention in die Wirklichkeit gesellschaftlicher bzw. künstlerischer Ordnungen. Sämtliche dieser Motivationen der Grenzstörung haben erfahrungsästhetisch zur Folge, dass das Kunstwerk in seinem Status unsicher wird und zu oszillieren beginnt. Kunststrategische sowie realistisch-wirklichkeitsbezogene Motivationen der Grenzüberschreitung können sich dabei, wie abschließend anhand von Claes Oldenburgs The Store aufgezeigt werden soll, vielfältig überlagern.

Einleitung
Kapitel I: Die institutionelle Perspektive
Kapitel II: Die mediale Perspektive
Kapitel III: Die Popularität der Kunst, oder: Gibt es in der bildenden Kunst einen Bereich des ‚U‘?
Punkt Kapitel IV: Die Kunst und ihr Außen
Pfeil Kapitel V: Ein konkretes Beispiel: Claes Oldenburgs ‚The Store‘
Kapitel VI: Die ‚Beseelung‘ der Dinge
Kapitel VII: Die Störung der ästhetischen Grenze
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Die Kunst und ihr Außen als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 3.430 KB)