Kocherscheidt Südamerika Sartre Ekel

Kocherscheidt – Sartre – Rihm als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 34.100 KB)

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„Ein Lob dem groben Schnitt, dem brechenden Rand und der Bildentgleisung.“ Kocherscheidt – Sartre – Rihm

in: Brustrauschen. Zum Werkdialog von Kurt Kocherscheidt und Wolfgang Rihm, hrsg. von Heinz Liesbrock, Stuttgart 2001, S. 28-53.

Kapitel II

Zu Recht wird der eigentliche Beginn von Kocherscheidts Werk in seiner Reise nach Südamerika 1972/73 gesehen. Hier gelang Kocherscheidt die Zäsur, ein Frühwerk zu durchbrechen, das distanziert und ironisch zwischen expressionistischem Dekor und erzählender Phantastik pendelte. In Kocherscheidts Bilder zog jetzt die Stummheit und der Ernst ein, die sich nicht mehr verlieren sollten. Dem Künstler scheint auf seiner Reise etwas begegnet zu sein, das einschneidend und folgenschwer war. Blicken wir auf die Zeichnungen, die Mitte der siebziger Jahre im Anschluß an die Reise entstanden, so treffen wir wiederkehrend auf eigentümlich unförmige, dimensionslose Natur-Dinge, auf unterdeterminierte Phänomene, die nicht selten widerwärtig sind. Die Konfrontation mit der träge schwellenden und ihre Tentakelarme überallhin ausstreckenden Schmarotzerbohne (Abb. S.30 oben) oder den eigentümlichen Naturleibern, die in der Mitte der Paläontologischen Waldlichtung (Abb. S.30 unten) verstreut liegen, darf man sich vielleicht vorstellen wie die berühmte Begegnung Antoine Roquentins mit der Wurzel eines Kastanienbaums, die Jean-Paul Sartre in seinem ersten Roman Der Ekel beschreibt. Dieser epochale Roman Sartres, der ursprünglich nach Dürers Kupferstich den Titel „Melancholia“ tragen sollte, etablierte mit einen Schlag nicht nur seinen Autor, sondern zugleich die Denk- und Lebensform des Existenzialismus. Die entscheidende, hier stark kondensierte Passage lautet wie folgt:

„Das Wort Absurdität entsteht jetzt unter meiner Feder; vorhin im Park habe ich es nicht gefunden, aber ich suchte es auch nicht, ich brauchte es nicht: ich dachte ohne Worte über die Dinge, mit den Dingen. Die Absurdität, das war keine Idee in meinem Kopf, keine Einflüsterung, sondern diese lange tote Schlange zu meinen Füßen, diese Holzschlange. Schlange oder Kralle oder Wurzel oder Geierklaue, was auch immer. Ohne etwas deutlich zu formulieren, begriff ich, daß ich den Schlüssel der Existenz, den Schlüssel meines Ekels, meines eigenen Lebens gefunden hatte. […] Dort im Park berührte ich das Ding. […] Absurd, ungreifbar; nichts – nicht einmal ein tiefer und geheimer Wahn der Natur – konnte es erklären. Natürlich wußte ich nicht alles, ich hatte weder den Keim sich entwickeln noch den Baum wachsen sehen. Aber angesichts dieser rauhen Pranke hatten weder die Unwissenheit noch das Wissen eine Bedeutung: die Welt der Erklärungen und Gründe ist nicht die der Existenz. […] Knorrig, inert, namenlos, faszinierte sie mich, erfüllte meine Augen, führte mich ständig auf ihre eigene Existenz zurück. Ich konnte mir noch so oft wiederholen : ‚Es ist eine Wurzel‘, das verfing nicht mehr. Ich sah ein, daß man von ihrer Funktion als Wurzel, als Saugpumpe, nicht auf das kommen konnte, auf diese harte und kompakte Seehundshaut, auf dieses ölige, schwielige, eigensinnige Äußere. Die Funktion erklärte nichts: sie ließ in groben Zügen verstehen, was eine Wurzel war, aber keinesfalls diese hier. Diese Wurzel, mit ihrer Farbe, ihrer Form, ihrer erstarrten Bewegung, war […] unterhalb jeder Erklärung. […] Habe ich sie geträumt, diese ungeheure Gegenwart? Sie war da, lag auf diesem Park, war in diese Bäume gepurzelt, ganz wabbelig, alles verschmierend, ganz dickflüssig, eine Konfitüre. […] Ich stand auf, ich ging. Am Tor angekommen, habe ich mich umgedreht. Da hat der Park mir zugelächelt. Ich habe mich an das Tor gelehnt und habe lange geschaut. Das Lächeln der Bäume […], das wollte etwas sagen; das war das wirkliche Geheimnis der Existenz. […] Ich spürte verdrossen, daß ich kein Mittel hatte zu verstehen. Kein Mittel. Trotzdem war es da, abwartend, das hatte Ähnlichkeit mit einem Blick. […] Ich bin gegangen, ich bin ins Hotel zurückgekehrt und habe geschrieben.“

Der Rekurs auf Sartre erfolgt nicht mit der Absicht, Kocherscheidt als existentialistischen Künstler zu stilisieren, auch wenn er als Melancholiker, gemäß dem eigentlich vorgesehenen Titel von Sartres Roman, wohl nicht mißverstanden wäre. Die Verbindung der Schmarotzerbohne mit Roquentins Kastanienwurzel soll lediglich die entscheidende Wende, die sich in diesen Zeichnungen ereignete, zu deuten helfen. Kocherscheidt, der in seinen bisherigen Arbeiten – in seinen eigenen Worten – „die Übersetzung der Übersetzung, eine nochmalige Sinnentleerung“ betrieb und „Zerrbilder von Allegorien in schlechtestem Geschmack“ schuf, der also in der Auszehrung der Tradition und in Spielformen des unendlichen Regresses verharrte, stieß inmitten der Natur mit einem Mal auf Widerstand: auf die Widerständigkeit des Dings in seinem schieren, unableitbaren, aufdringlichen Dasein. Bei Sartres Roquentin übersteigt die Erfahrung dieser bloßgelegten Existenz das Sehen und erfaßt seinen ganzen Körper, ja seine Identität. Von außen her, auf dem Umweg über das Ding, stößt er auf sich selbst als einer leibhaften Person in der Welt. Das Befremden in der Konfrontation mit dem Ding erschüttert die Kohärenz seines imaginären Selbst. Genau von solchem spricht auch Kocherscheidt. In seinen Erinnerungen, auf die ich mich erneut beziehe, stehen diese Sätze, die er zu seiner Reise notiert: „Ich spielte manchmal mit dem Gedanken, meine Identität zu wechseln. Ich fand keine adäquate Form der Darstellung. Zurückgeworfen und konfrontiert mit der Natur, begann ich mich von einem literarisch bestimmten Bild von Malerei zu lösen.“ Drei Krisen: die Krise der Wahrnehmung, die Krise der Darstellung und die Krise der Identität, verschränken sich. Die künstlerische Antwort darauf – Sartres „ich bin ins Hotel zurückgekehrt und habe geschrieben“ – war jetzt allerdings erst noch zu finden. Der Weg, den Kocherscheidt ging, um dieser primären Erfahrung künstlerisch zu entsprechen, läßt sich beschreiben als der allmähliche Wandel von einer herkömmlichen Vorstellung des Bildes als Darstellung zu einer Auffassung des Bildes als Verkörperung dessen, was es zeigt. Das scheint ein unausweichlicher Prozeß zu sein, wenn am Anfang des Weges die Erfahrung einer Natur steht, die sich einer herkömmlichen Repräsentation verschließt. Es beschreibt den Versuch, zu einer Bildform jenseits des Zeichens vorzustoßen, da es genau die Spaltung der Welt in Zeichen und Bezeichnetes ist, die Sartres Kastanienwurzel und Kocherscheidts Schmarotzerbohne durchschlagen. Das Bild selbst soll zu einem solchen Ding werden, wie sie der Künstler auf seiner Reise traf. Deren entsetzender Blick soll nicht gegenständlich fixiert werden, sondern in den Körper des Bildes selbst Eingang finden. Diese Auffassung des Bildes als Körperding ist es, wovon eingangs die Rede war als dem, was im Raum des Morat-Instituts, den Kocherscheidt einrichtete, unmittelbar spürbar wird. Von der Darstellung zur Verkörperung: versuchen wir diesen Weg nachzuzeichnen.

Kapitel I
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Marcel Duchamp Pfeil Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
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