Andy Warhol Abstrakter Expressionismus Pop Art Realismus

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Die scheinbare Wiederkehr der Repräsentation. Ambivalenzstrukturen in Warhols frühem Werk

in: Andy Warhol. Paintings 1960-1986, hrsg. von Martin Schwander, Katalog Kunstmuseum Luzern 1995, Stuttgart 1995, S. 31-42 u. 74-76.

„You see, to pretend something’s real, I’d have to fake it. Then people would think I’m doing it real.“ (Andy Warhol)

Abschnitt I

Bekanntlich ist es ein Merkmal der modernen Kunst, mit ihren jeweils innovativen Schöpfungen die geltende Auffassung von der Kunst aufzuheben und gleichzeitig zu erweitern. Dieser Prozeß der Zerstörung und phönixgleichen Wiederauferstehung der Kunst scheint jedoch im Falle Warhols so kraß zu verlaufen, daß keineswegs Übereinstimmung besteht, ob seine Innovationen wirklich als sinnvolle Selbsterneuerung der Kunst gelten können. Zu nihilistisch präsentiert sich der abrupte Wechsel von der abstrakt-expressionistischen, von hohen Idealen und dem Bewußtsein historischer Mission getragenen Malerei der New Yorker Schule zu einer Bildsprache, die sich in der endlosen Wiederholung von Trivialitäten zu erschöpfen und damit alles in Frage zu stellen scheint, was in einer folgerichtigen malerischen Entwicklung von Pollock, Kline, Rothko, Newman u.a. erreicht worden war. Die Konfrontation zwischen den beiden sich diametral entgegengesetzten Auffassungen, was „die Malerei“, „das Tafelbild“, „der Künstler“ usw. sei, stellt sich um so bedeutsamer dar, als sie die erste war, die sich innerhalb der amerikanischen Kunst und weitgehend unabhängig von europäischen Einflüssen ergab – trotz der Existenz und zeitlichen Priorität einer englischen Pop Art. Mit einem Mal standen sich zwei Auffassungen der Malerei gegenüber, die beide als genuin amerikanisch begriffen wurden.

Diese „Querelle américaine“ hat den Blick auf die Pop Art entscheidend geprägt, insbesondere den Blick auf Warhol, der die herausfordernste Position bezog. Die Folge war eine Auffassung, die Warhol in erster Linie als Negation verstand – als Negation der Originalität und der Einzigkeit des Bildes, als Negation der (Hoch-)Kultur, als Negation der Errungenschaft der Abstraktion. Mehr noch: auf einmal war das Entwicklungsschema der modernen Malerei in Frage gestellt, das der einflußreiche Kritiker Clement Greenberg in Abstimmung auf die amerikanische Nachkriegskunst so schlüssig als die zunehmende Essentialisierung bestimmt hatte, die sich in der Rückführung des Bildes auf die anti-illusionistische, selbstbezügliche „Wörtlichkeit“ der Fläche offenbart. Warhol war das aggressive Beispiel einer Kunstpraxis, die in diese Entwicklung nicht mehr einzuordnen war, sondern einen sich der Massenkultur anbiedernden Rückfall in ein überwundenes Stadium der Kunst darzustellen schien.

Die polemischen Debatten der 60er Jahre scheinen heute nur mehr Geschichte zu sein. Die Bewertungen sind sachlicher und differenzierter geworden. Ausführliche Biographien haben die proletarische Herkunft, den Ausbildungsgang, die erfolgreiche Zeit als Werbegrafiker und den Aufstieg zum internationalen „Kunststar“ sorgfältig nachgezeichnet – was im Falle Warhols immer auch bedeutet, ein Stück Sozialgeschichte der Kunst und ihrer Rezeption zu schreiben -, und sie haben dabei eine Fülle wichtiger Details zutage gefördert. Untersuchungen, die sich mit Einflüssen, Vorbildern, Persönlichkeitsstruktur usw. beschäftigten, erbrachten außerdem manchen Hinweis auf die Entwicklung der formalen Sprache und die Hintergründe der Themenwahl. Gleichwohl hält sich die Auffassung, Warhol sei die Negation all dessen, was die Kunst als solche definiert, in hartnäckiger Weise. Sie liegt, ausgesprochen oder nicht, fast allen Deutungen zugrunde. Eine Differenzierung hat sich nur insoweit ergeben, als verschiedene Vorschläge gemacht wurden, die „Leere“ der Arbeiten, an der als solcher nicht gezweifelt wird, herzuleiten und verständlich zu machen. Die Ebene der Betrachtung hat sich dabei bloß von der Ebene der Bilder auf die Ebene des Künstlers verlagert, indem Warhols eigene „Leere“ (seine Erlebnisunfähigkeit, sein Zynismus, sein postmodernes Dandytum, vor allem sein berühmter Wunsch, „eine Maschine zu sein“) herausgestellt wurden. Oder man wechselte auf die Ebene des kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem dieselbe „Leere“ (als Konsumismus, Dekadenz, Verlust kritischen Denkens usw.) entdeckt wurde.

Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der ästhetischen Struktur von Warhols Werk ist entsprechend rar. Kaum wahrgenommen wurde, daß die Zuwendung zur Repräsentation, zur Reproduktion und zum Trivialen vermittelter, die Semantik, Syntax und Pragmatik der Werke ambivalenter ist, als es eine solchermaßem polare Optik wiedergeben kann. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich die Bildsprache als vielschichtige Antwort auf die Situation am Ende der 50er Jahre, als der Abstrakte Expressionismus durch den selbstauferlegten Reduktionismus in eine Sackgasse geraten und im Begriff war, als Dekoration und Akademismus seine kritische wie seine „sublime“ Dimension einzubüßen. Die Krise der tonangebenden Avantgarde förderte eine Fülle von Kunstformen zu Tage, die alle in der Greenberg’schen Entwicklungslogik nicht unterzubringen waren, so neben der Pop Art das Happening, die Minimal Art oder die Konzeptkunst. Im Zusammenhang mit dieser Umbruchsituation sind Warhols Arbeiten zu sehen. Sie stellen die Malerei des Abstrakten Expressionismus auf den Kopf, ohne jedoch auf einen überholten Stand des künstlerischen Diskurses zurückzufallen. Die Pointe seines Werks ist gerade, den Abstrakten Expressionismus zwar einer grundlegenden Kritik zu unterziehen, gleichzeitig aber wichtige Aspekte seines ästhetischen Verfahrens aufzugreifen. Diese modernistische Überbietung des unmittelbar Vorangegangenen geschieht nicht zufällig in einer Weise, die zum Happening, zur Minimal Art und zur Konzeptkunst aufschlußreiche Verwandtschaften besitzt. Warhol unterläuft die Opposition, deren einen Pol er angeblich so beispielhaft besetzt.

Eine Überprüfung des Oppositionsschemas ist außerdem nötig, weil Warhol seinen Standpunkt nicht allein in Reaktion auf die Kunstpraxis der Vorgängergeneration gewinnt. Die Rückkehr zur Gegenständlichkeit und der Einsatz von reproduktiven Techniken richtet sich weder gegen die Abstraktion als solche noch gegen die Kunst überhaupt, sondern zeigt vor allem eine Verschiebung des künstlerischen Interesses an. Die fortdauernde Selbstbefragung des Mediums, die Greenbergs Formalismus als Aufgabe der Malerei begriff, wird erweitert durch eine Zuwendung zu den Ereignissen und Dingen, die zwar unsere alltägliche Erfahrung konstituieren, jedoch vor allem im Zuge der Abstraktion aus der Kunst ausgeschlossen wurden. Warhol erscheint hierbei als Seismograph von Veränderungen, welche die sich durchsetzende Massenkommunikation hervorruft. Grenzerfahrungen der Wahrnehmung bilden für Warhol weniger die dezentrierten Strukturen von Pollocks riesigen Leinwänden, die die Kunstwelt in Atem hielten, als die Bilder von Kennedys Tod oder die Sputnik-Signale aus dem All, die die ganze, zum „globalen Dorf“ geschrumpfte Welt gleichzeitig zu erschüttern vermögen. Im Mittelpunkt von Warhols Werks steht die Frage, was und wie unter diesen Bedingungen kommuniziert wird, und was angesichts solcher Phänomene „authentische Wahrnehmung“ heißt, auf der gerade die Kunst gerne beharrt. Warhols Subversionen erschließen sich nur dann, wenn sie sowohl als Teil eines innerkünstlerischen wie eines außerkünstlerischen Wandels begriffen werden.

Dem Entwurf von Warhols Arbeiten wird am ehesten gewahr, wer das Werk als Ganzes in den Blick nimmt. Vor allem müssen die Bilder und die Filme als Ausdruck ein und desselben künstlerischen Verfahrens begriffen werden. Eine Eigentümlichkeit des Umgangs mit Warhol besteht jedoch darin, die verschiedenen Medien, in denen er gearbeitet hat, bewußt oder unbewußt zu trennen. In den Ausstellungen werden die Filme, wenn überhaupt, höchstens in einem Beiprogramm gezeigt, das nur von wenigen der Ausstellungsbesucher wahrgenommen wird. Meist werden zudem gekürzte und damit entstellte Fassungen vorgeführt. Eine direkte Gegenüberstellung von Filmen und Bildern findet nicht statt, so daß es dem Einzelnen überlassen bleibt, den Bezug zwischen ihnen herzustellen. Mag dies mit ausstellungstechnischen Schwierigkeiten zusammenhängen, so ist doch bezeichnend, in der Literatur eine entsprechende Situation vorzufinden. Gleichsam arbeitsteilig kümmern sich die Kunstkritiker und Kunsthistoriker um die Bilder, während die Filme (die generell weniger Beachtung finden), den entsprechenden Spezialisten überlassen werden, die nun ihrerseits die Bilder kaum anzuschauen pflegen. Eine Reflexion auf die Zusammenhänge ist von vornherein ausgeschlossen.

Die Filme gleichgewichtig heranzuziehen, rechtfertigt sich jedoch in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur sind die beiden Ausdrucksmedien bei Warhol konzeptuell eng verschränkt. Wichtiger noch erscheint der Umstand, daß zwei der Charakteristika, die die Bilder so skandalös erscheinen lassen, die reproduktive Machart und die Rückwendung zur Gegenständlichkeit, bei den Filmen weder auffällig sind, noch gar das Brechen eines Tabus darstellen. Filme stehen fast immer in einem abbildlichen Bezug zur Wirklichkeit, und ihr Medium ist von vornherein auf die Reproduktion angelegt. Fallen diese Merkmale als klassifizierende Eigenschaften jedoch weg, können Kriterien der Bewertung wieder zur Geltung kommen, die sich bei einem Künstler wie Warhol zu erübrigen scheinen. Um der Besonderheit der Filme gewahr zu werden, bleibt nämlich nur, sie nach ihrem gestalterischen Entwurf zu befragen. Wenn die Betrachtungsweise dadurch herkömmlicher wird, kann das zunächst nur von Vorteil sein. Jenseits der Polarität von abstrakt und gegenständlich, Original und Reproduktion, „high“ und „low“, die immer schon mit klaren Wertungen verbunden ist, eröffnet sich die Chance einer näher an künstlerischen Fragen orientierten Bewertung. Das dürfte auch der Grund sein, daß der Filmemacher Warhol bereits um die Mitte der 60er Jahre als hervorragender avantgardistischer Künstler galt und bereits 1964, ein Jahr nach seinem ersten Film, den von der New Yorker Zeitschrift „Film Culture“ verliehenen „Independent Film Award“ erhielt, während die Würdigung der Tafelbilder als künstlerische Leistung (und nicht nur als subversive Provokation) erst viel später einsetzte und noch immer zögerlich bleibt. Aus diesen Gründen werden hier die Bilder und die Filme unter gemeinsamem Horizont und nach denselben Kriterien analysiert; zudem wird die übliche Rangfolge umgedreht und die Betrachtung der Filme vor diejenige der Bilder gestellt.

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Abschnitt III
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Kunst Moral Religion Moderne

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Strassenkinder im Museum. Betrachtungen zu Kunst und Moral: Das Projekt „Devotionalia“

in: ZeitSchrift/Reformatio, Jg. 46, Nr. 1, Februar 1997 (Sondernummer „Moralismus“), S. 55-63.

Kapitel 1: Kunst und Moral

In regelmässiger Wiederkehr äussert sich bei manchen Künstlern und Künstlerinnen sowie bei einem Teil des Publikums ein Unbehagen, das durch ein kennzeichnendes Merkmal der modernen Kunst hervorgerufen wird – durch deren Autonomie und die damit einhergehende scheinbare Folgenlosigkeit für das Leben. Das Unbehagen stellt sich ein, weil das „bloss Ästhetische“ der Kunst dem Ethisch-Praktischen des „wirklichen Lebens“ entgegensetzt und damit zugleich eine klare Wertung vollzogen wird. Denn indem die Kunst vom Treiben der Welt bewusst Abstand nehme, offenbare sie sich als ein Bereich vermiedener Verantwortung, als spielerischer Immoralismus angesichts der brennenden Fragen einer unerlösten Wirklichkeit. Versuche, die Kunst an das „Leben“ neu anzukoppeln sind deshalb vielfältig erfolgt, allerdings jeweils ohne länger währenden Erfolg.

Augenblicklich ist das Unbehagen wieder gross. In den achtziger Jahren ergab sich das Missverständnis, das Problem des Verhältnisses von Kunst und Leben sei auf allseits beglückende Weise gelöst. Der Bedarf nach Kunst schien unstillbar, und endlich wurden nicht mehr nur die Alten Meister oder die Impressionisten begehrt, sondern gleichermassen die so akzeptanzgefährdete Moderne bis hin zur neusten Position. Kunstmessen und Auktionshäuser blühten, Museen für moderne Kunst schossen aus dem Boden, und Firmen entdeckten das Kunstsponsoring als Baustein der corporate identity. Gedanken über die Bedeutung der Kunst für das Leben erübrigten sich, der finanzielle Erfolg und die überwältigende gesellschaftliche Aufmerksamkeit entlasteten davon. 1990 jedoch brach der Kunstmarkt massiv ein, die öffentlichen Kulturbudgets wurden reduziert, und das Sponsoring fokussierte sich wieder auf konjunkturbeständigere Felder wie den Sport. Das plötzliche Austrocknen des Geldflusses schlug auf das Selbstwertgefühl der Künstler und das Interesse des Publikums unmittelbar durch, auf allen Seiten breitete sich Katerstimmung aus. Wenn aber eine seelische Baisse auf eine Zeit ungezügelten Gewinnstrebens und blinder Wachstumsausrichtung folgt, ist die Kunst, die ihr Selbstverständnis gerne jenseits des Materiellen bestimmt, besonders anfällig für die Behauptung, was ihr fehle, sei die Moral.

So nahe der Schluss liegt, so falsch dürfte er sein. Zunächst ist fraglich, was Boom oder Baisse mit der inneren Verfassung der Kunst zu tun haben. Warum van Goghs Lilien, um das einschlägige Beispiel zu nennen, 1987 54 Millionen Dollar wert waren und 1992 nur noch ein Fünftel davon, ist dem Bild selbst nicht abzulesen. Und dass die Stadt Frankfurt mit einer monströsen öffentlichen Schuld kämpft und natürlich zunächst bei der Kultur (und beim Sozialen) spart, hat nichts mit der gegenwärtigen Gesinnung der Kunst zu tun. Allerdings muss man sich nun eingestehen, dass die beschleunigte Geldzirkulation und die Besucherrekorde gar keine wirkliche Akzeptanz und kein tiefergehendes Verständnis der Kunst anzeigten. Denn nur so ist es erklärlich, dass mit dem Rückzug des Geldes auch gleich das Interesse an der Kunst wegbrach. Die Rekorde waren offenbar wichtiger als die Kunst. Damit wird es notwendig, den Wert der Kunst wieder unabhängig von Höchstpreisen und der Länge von Besucherschlangen zu definieren und sich an ihr eigentliches Potentials zu erinnern, das als Potential unvermindert weiterbesteht. Diese Rückbesinnung tut not, und zwar bei allen am Umgang mit Kunst Beteiligten, nicht aber die Remedur durch eine moralische Aufrüstung, um ihr einen höheren gesellschaftlichen Nutzen und einen besseren Sitz im Leben zu verschaffen.

Die Schnittmenge von Kunst und Moral

Dass das die falsche Remedur wäre, hat nicht nur mit der Einschätzung der gegenwärtigen Situation zu tun, sondern vor allem damit, dass sich unter modernen Bedingungen Kunst und Moral wohl stets verfehlen dürften. Wenn wir Moral als die Gesamtheit der Normen und Einstellungen definieren, die unser Handeln in der Rücksichtnahme auf den Lebensvollzug Dritter leiten und kontrollieren; und wenn wir Kunst als das Tun definieren, sinnliche Erfahrungen in formal stimmigen Gebilden zu verdichten, die ebensolche Erfahrungen für den Betrachter bereithalten – dann stellen wir fest, dass es zwischen Kunst und Moral unmittelbar keine Schnittmenge gibt. Denn welcher Lebensvollzug Dritter wird durch die so oder anders vollzogene Verfertigung eines Kunstwerks betroffen, ja sogar eingeschränkt oder missachtet? So gesehen bleibt künstlerisches Tun tatsächlich folgenlos, verglichen mit dem Tun in Politik, Rechtsprechung oder Ökonomie. Auf die formale und inhaltliche Optimierung des Werks ausgerichtet, eröffnet die Kunst Möglichkeiten, wobei sich auch diese – als Erkenntnisse oder als Gefühle von Lust oder Unlust – nur mittelbar lebenspraktisch auswirken. Die Betrachter und Betrachterinnen müssen selbst bereit sein, das Kunstwerk auf sich wirken zu lassen, von sich aus erzielt es keine Wirksamkeit. Dennoch wird immer wieder behauptet, die Öffentlichkeit sei verderblichen Auswirkungen der Kunst ausgesetzt und müsse davor im Namen der Moral bewahrt werden. Den angeblichen Schädigungen liegen jedoch umstrittene Wirkungstheorien zugrunde, die davon ausgehen, das Sehen von Unmoralischem, zum Beispiel einer Vergewaltigung, verleite die Betrachter zur Nachahmung. Die Auswirkungen von fahrlässiger Umweltvergiftung oder von gewinnmaximierendem Downsizing bedürfen solcher Theorien hingegen nicht, sie sind unmittelbar und quantifizierbar. Ausserdem blendet man die mögliche kritische Position der Kunst aus und unterstellt dem Künstler von vornherein, das Dargestellte gutzuheissen. Immoralismus-Vorwürfe an die Kunst maskieren normalerweise Angriffe auf das in ihr Dargestellte. So war die Kampagne gegen die Photographien Mapplethorpes in den USA in Wahrheit eine Hetze gegen die Homosexuellen, zu denen der Künstler und ein Teil seiner Modelle gehörten. Zugleich blitzt hier das Ressentiment gegen die offene, nicht normativ durchgeregelte und deshalb „unmoralische“ Gesellschaft und gegen den Künstler als deren negativen Protagonisten auf. Diese Haltung spiegelt sich aus – um die schlimmsten Beispiele zu nennen – in den Staatsaktionen unter Hitler und Stalin zur Eliminierung „entarteter“, beziehungsweise „formalistischer“ Kunst, die im Namen völkischer und sozialistischer Moral erfolgten.

Die Zuspitzung des Problems in der Moderne

Allerdings wurde die Schnittfläche von Kunst und Moral erst in der Moderne so wenig selbstverständlich; sie kann heute nur noch mit einigem argumentativem Aufwand hergestellt werden. Von der Antike über das Mittelalter und die Renaissance bis zur Aufklärung empfand man beide als eng aufeinander bezogen. Zwar liesse sich zeigen, dass Moral und Kunst auch hier getrenntere Wege gingen, als es zunächst den Anschein hat. Denn worin besteht die Moral der Kunst des „Apoll von Belvedere“, einer karolingischen Miniatur oder Tizians, vom Darstellungsinhalt einmal abgesehen? Aber es gab ein Drittes, das sie miteinander verband: die Religion sowie die gemeinsame Verpflichtung auf die gottgeschaffene Natur, deren Wohlgeordnetsein nach Mass und Proportion sowohl das Schöne wie das Gute zu definieren erlaubte. Bei wenigen verdeutlicht sich der vormoderne Zusammenhang von Kunst, Natur, Gott und Moral so wie bei Dürer, der sein Leben lang nach der „wahren Schönheit“ in Natur und Kunst forschte. So schreibt er in den „Vier Büchern von menschlicher Proportion“ (1528): „Dan dÿ kunst ist gros, schwer und gut, und wir mügen und wöllen sÿ mit grossen eren jn das lob gottes wenden.“ Und er warnt seine Kollegen: „Doch hüt sich ein jedlicher, dass er nichts unmügliches mach, das die natur nit leiden künn. Dann so es der natur entgegen ist, so ist es bös.“

Als jedoch in der frühen Moderne die Normativität der Natur wie die Religion aus dem Zentrum des künstlerischen Wollens verschwanden, fiel auch das vermittelnde Dritte zwischen Kunst und Moral weg, und beide treten jetzt in ihrer Geschiedenheit heraus. Das Problem verschärfte sich, da Kunst wie Moral seit der Aufklärung zu hochgradig wandelbaren Begriffen wurden, so dass sich die Schwierigkeit ergibt, das Verhältnis zweier Variablen bestimmen zu wollen – ein beinahe aussichtsloses Unterfangen. Aus diesem Grund wende ich mich nun einem Beispiel und somit der bestimmten Moral eines bestimmten Kunstwerks zu.

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Kapitel III: Einige Folgerungen
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Kunst Autonomie Realität

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Strassenkinder im Museum. Betrachtungen zu Kunst und Moral: Das Projekt „Devotionalia“

in: ZeitSchrift/Reformatio, Jg. 46, Nr. 1, Februar 1997 (Sondernummer „Moralismus“), S. 55-63.

Kapitel 3: Einige Folgerungen

Das Doppelmoral-Dilemma von „Devotionalia“, wie überhaupt das Dilemma jeder Kunst, die sich über ihre „Brauchbarkeit“ (Mary Jane Jacobs) zu definieren versucht, lässt zwei Lösungen zu. Entweder man steigt ganz aus der Kunst aus – und nicht nur aus einer bestimmten, kritisierten Form derselben -, um im „wirklichen“ Leben tätig zu werden. Oder aber es bedeutet, das Negativurteil über die Autonomie der Kunst zu revidieren, das heisst den Wert heutiger Kunst nicht gegen, sondern im Lichte ihrer Autonomie zu bestimmen. Dazu ein paar abschliessende Bemerkungen.

Kunst und Realität

Eine Moral der Kunst setzt die Fixierung der Bereiche „Kunst“ und „Realität“ sowie die Fixierung von deren Verhältnis voraus. Nur so ist ein Programm zur besseren Adaptierung der Kunst an die Erfordernisse der Realität, wie es Mary Jane Jacobs entwirft, überhaupt vorstellbar, nur so kann von „realen Bezügen“ zwischen Kunst und Leben und von der „Brauchbarkeit“ der Kunst für das Leben gesprochen werden. Diese vorausgesetzte Fixierung bezeugt nicht nur die Unreflektiertheit der „New Genre Public Art“. Sie weist zugleich auf das grundlegende Problem einer Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Moral. Denn das Kennzeichen der Kunst in der Moderne ist gerade die Lockerung ihres Verhältnisses zur ausserkünstlerischen Realität. Es wäre allerdings verkehrt, diese Lockerung als blossen Mangel zu begreifen und das Band wieder straffen oder gar die Kunst im Leben aufgehen lassen zu wollen. Vielmehr geht es darum, in der Lockerung der Beziehung das eigentliche Potential der modernen Kunst zu erkennen. Denn sie erlaubt, die Realitätszusammenhänge, in der das Kunstwerk entsteht und von denen es zwangsläufig bestimmt wird, bewusst zu reflektieren und damit den produktiv-paradoxen Zustand von Kontext-Gebundenheit und Autonomie zu erreichen. Der wechselvolle Gang der künstlerischen Moderne ist die immer aufs neue ermittelte Balance zwischen beidem. Durch die hartnäckige Befragung der Abhängigkeit von ihrem Entstehungszusammenhang vermag die Kunst die ansonsten bestehende Stringenz dieser Abhängigkeit zu sprengen und in dieser Sprengung als das Ereignis herauszutreten, das jedes gelungene Kunstwerk ist. Die beargwöhnte Autonomie der Kunst bedeutet also keineswegs Losgelöstheit oder schiere Selbstreferenz, als das sie so oft missverstanden wird, sondern – wörtlich – die Eigengesetzlichkeit, mit der sie die Relation zur ausserkünstlerischen Wirklichkeit bestimmt. Zur Eigenart der modernen Kunst gehört deshalb auch, äusserst unterschiedlichen Kunstbegriffen und Wirklichkeitsverständnissen zu folgen – man denke nur an Malewitsch und Duchamp, Kirchner und Mondrian, Warhol und Beuys – und sich dennoch derselben Epoche mit demselben künstlerischen Paradigma zu verdanken.

Diese Bestimmungen gelten nicht nur für die Produktion, sondern ebenso für die Rezeption der Kunst. Das Erfordernis, in Akten der Interpretation die Verhältnisbestimmungen, die das Werk charakterisieren, nachzuvollziehen und zu deuten, erzeugt nicht allein die Lust der Betrachtung als eine Mischung aus Wirklichkeitserkenntnis und Verführung. Daraus ergibt sich auch der gleichsam aufklärerische Aspekt der Kunst, uns als die Interpretierenden in diese Verhältnisbestimmung einzubeziehen. Denn die Kunst fordert von uns nicht nur die Bestimmung unseres eigenen Verhältnisses zur Realität, sondern auch, das Realitätsverständnis selbst beständig revidierbar zu halten. Das ist eine Leistung der Kunst, die durchaus moralisch genannt werden kann.

Die autonome Stimme der Kunst

An der so verstandenen Autonomie der Kunst ist auch angesichts des anderen Aspekts der Thematik von Kunst und Moral festzuhalten: der zuweilen unterstellten unmoralischen Auswirkungen von Kunst und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit, solche Werke zu unterdrücken. Denn auch hier liegt eine Fixierung des Verhältnisses von Kunst und Wirklichkeit vor, in diesem Fall als Einebnung jeglicher Differenz zwischen beiden. Vom Gezeigten wird zum einen direkt auf die Moralität und Psyche des Künstlers geschlossen. Nach der Logik der „entarteten“ Kunst ist Klee wie seine Bilder, und das hiess damals ein verkindeter Verrückter, oder Dix ein perverser Lüstling, der sich in Bordellen herumtreibt. Zum anderen wird dem Publikum die Naivität unterstellt, zwischen den Sphären des Realen und des Fiktiven nicht unterscheiden zu können und deshalb das Gesehene direkt ins eigene Handeln zu übersetzen. Die Eigenart und der Eigenwert der bildnerischen Sprache kommt so gar nicht erst in den Blick.

Das Gespräch über die Selbst- und Weltverständigung speist sich aus verschiedenen Quellen. Sowohl die Kunst wie die Moral sind daran mit je unterschiedlichen, aber gleichermassen notwendigen Stimmen beteiligt. Die Klarheit und Wirksamkeit dieser Stimmen erhöht sich nicht, wenn sie aus dem selben Mund zu sprechen versuchen. Die Moral verwässert sich zum Moralismus, und die Kunst verformt sich in Gesinnungskitsch.

Kapitel I: Kunst und Moral
Kapitel II: Das „Devotionalia“-Projekt
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Mauricio Dias Walter Riedweg Devotionalia

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Strassenkinder im Museum. Betrachtungen zu Kunst und Moral: Das Projekt „Devotionalia“

in: ZeitSchrift/Reformatio, Jg. 46, Nr. 1, Februar 1997 (Sondernummer „Moralismus“), S. 55-63.

Kapitel 2: Das „Devotionalia“-Projekt

Zwischen August und Dezember 1995 arbeiten die beiden Basler Künstler Mauricio Dias und Walter Stephan Riedweg in den Favelas von Rio de Janeiro mit Strassenkindern an ihrem Kunstprojekt „Devotionalia“. Sie stellen mit einfachen Mittlen Wachsabgüsse von deren Händen und Füssen her. Währenddessen fragen sie die Kinder und Jugendlichen nach ihrem Leben, und zum Schluss dürfen diese einen Wunsch äussern. Der ganze Prozess wird auf Video festgehalten. Über Tausend Wachshände und -füsse, auf dem Boden ausgelegt, sowie ein Zusammenschnitt der Videos, auf mehreren Monitoren simultan zu sehen, bilden das zur Ausstellung aufbereitete Resultat der Aktion, das 1996/97 zunächst in Rio selbst und anschliessend in Genf, Basel, Luzern und Den Haag gezeigt wird. Während der europäischen Stationen finden Workshops mit Schülern und Schülerinnen der betreffenden Städte statt; auch sie werden auf Video aufgezeichnet. Die hiesigen Reaktionen sollen, so die weitere Planung, in einer der Favelas von Rio vorgeführt und schliesslich das ganze Konvolut mit seinen brasilianischen und schweizerisch-holländischen Teilen im Kongresshaus der Hauptstadt Brasilia hinterlegt werden. Erklärtermassen geht es den beiden Künstlern um eine an die Gesellschaft gerichtete Botschaft und um eine Neubestimmung der Rolle der Kunst in der Öffentlichkeit. „Devotionalia“ gehört zu einer vor allem in den USA erfolgreichen künstlerischen Strömung, der sogenannten „New Genre Public Art“. Eine ihrer wichtigsten Promotorinnen, die freie Kuratorin Mary Jane Jacobs, schreibt in einem Beitrag zu „Devotionalia“: „‚New Genre Public Art‘ ist Kunst mit einer Bedeutung, die sich aus dem Leben der Menschen heraus entwickelt und selbst wiederum Teil dieses Lebens wird; es ist Kunst, die für das Publikum wichtig ist, weil sie reale Bezüge herstellt. … Das Publikum, als Partner dieser Kunst, ist bereit. Es findet sich in Organisationen ausserhalb des Kunst-Welt-Systems. Diese Menschen schätzen die Brauchbarkeit … von Kunst als Ergänzung ihrer eigenen Aktivitäten.“ Offensichtlich handelt es sich hier um einen Versuch, Kunst und Leben zu versöhnen und die beargwöhnte Autonomie der Kunst zu überwinden, von denen zu Beginn die Rede war.

Bei der Konstruktion der Botschaft von „Devotionalia“ sind vor allem zwei Sinnebenen im Spiel: Religion und Kunst. Beide sind vermittelt durch das Moment der Repräsentation. Dias und Riedweg greifen die archaische und vom Christentum adaptierte Tradition einer bestimmten Form von Exvotos auf. Hierbei repräsentiert ein beim (Stand)Bild eines Heiligen angebrachtes Abbild eines Körperteils den realen Körperteil am Leib des Gebers. Zugleich repräsentiert es den ganzen Vorgang des Gelöbnisses, in dem für die Gabe des Heiligen, normalerweise die Heilung des Körperteils, die Gegengabe des Exvotos versprochen wird. Bei „Devotionalia“ repräsentieren die Wachsabgüsse die Kinder der Favelas und gleichzeitig den gesamten Arbeitsprozess, den die Künstler mit den Kindern vollzogen haben und in dessen Verlauf diese ihren Abguss mit einem Wunsch verbinden konnten. Auch die zweite Ebene des Werks, die Kunst, definiert sich über Repräsentation: Ein Kunstwerk bedeutet etwas ausserhalb seiner selbst und vergegenwärtigt es zugleich, wobei dieses „etwas“ ganz unterschiedliches sein kann – ein Aspekt der Wirklichkeit, eine Empfindung oder auch ein innerkünstlerisches Formproblem. Die Analogie der Repräsentationssysteme des Exvotos und der Kunst nutzen Dias und Riedweg für die gezielte Vermischung der Sphären von Kunst und Religion. Daraus soll, so die beiden in einem Begleittext, ein Verpflichtungszusammenhang entstehen. Indem sie „die Metapher des Exvotos aus dem sakralen in den öffentlichen Raum“ trügen, versuchten sie der Gesellschaft „die Rolle der Schicksalsmacht zurückzugeben“.

Eine Dramaturgie des Als-Ob

Im Gegensatz zu den beiden Künstlern sehe ich in der Sphärenvermischung jedoch nicht die Dichte und Stärke der Arbeit, sondern den künstlerischen Mangel wie auch die moralische Fragwürdigkeit. Die Plastik kennt einen Grenzfall der Abbildlichkeit, den sie als ihr eigentliches Tabu begreift: den direkten Abguss vom lebenden Körper, die sogenannte Moulage. Er gilt in mehrfacher Hinsicht als unkünstlerisch. Nichts ist leichter als dieser zwangsläufig gelingende Abbild-Naturalismus, der zur Plastik steht wie die Knips-Fotografie zur Malerei. Vor allem aber besteht das entscheidende künstlerische Vermögen der Plastik darin, totes Material „lebendig“ erscheinen zu lassen; man erinnere sich diesbezüglich an den Mythos Pygmalions. Die Moulage hingegen vollzieht genau das Gegenteil, nämlich die Transformation des lebendigen Körpers in sein totes Konterfei. Vom Künstlerisch-Plastischen her beurteilt sind die Wachsabgüsse von „Devotionalia“ daher ohne Wert. Das mag auch den Künstlern bewusst gewesen sein, denn sie greifen auf ein aus den sechziger Jahren bekanntes Stilmittel zurück, um den Körperteilen das Aussehen von Kunst zu verleihen: Sie ordnen sie in einem strengen Rechteck an, sodass der Eindruck entsteht, es handle sich um ein Werk des Land-Art-Künstlers Richard Long oder um Minimal Art. Deren Ästhetik aber ist „Devotionalia“ so fremd, dass die formale Anleihe aufgesetzt und peinlich wirkt. Ähnliches gilt für die Videos, die auf jegliche künstlerische Bearbeitung verzichten und von einer journalistischen Reportage formal nicht zu unterscheiden sind. Folglich ist die Simultan-Präsentation auf mehreren Monitoren ästhetisch nicht plausibel, ausser dass auch solches an „Kunst“, diesmal an eingeübte Gepflogenheiten der Video-Kunst, anzuknüpfen sucht. Wenn man auf diese Weise kunstkritisch argumentiert, ist der Einwand vorauszusehen, der formalanalytische Zugang sei verkürzend und sperre die eigentliche Dimension der Arbeit, die religiöse Metaphorik und den sozialkritischen Apell, aus. Also wechsle ich auf diese Sinnebene der Arbeit, erlaube mir auch hier, sie beim Wort zu nehmen.

Die Form des Exvotos, auf die sich Dias und Riedweg beziehen, repräsentiert einen komplexen Vorgang, in dem eine Art magischer Handel abgeschlossen wird. Die eine Partei, der Gläubige, gelobt dabei der anderen Seite, dem Heiligen, ihm einen Gegenstand zu geben, um als Gegenleistung Heilung oder Rettung zu erfahren. Dieser Gegenstand, das Exvoto, kann sowohl nach erfolgter Heilung dargebracht werden, um in Dankbarkeit dem Gelübde zu entsprechen, oder aber bereits vor der Heilung beim Bild des Heiligen angebracht werden, um ihn zu verpflichten, die Gegengabe der Heilung auch wirklich zu gewähren. Entscheidend für den Erfolg des Handels ist die Bindungskraft des Gelübdes, also die Verpflichtung zur Erfüllung seines Inhalts. Als Legitimationsinstanz wirkt die seit archaischer Zeit bestehende und in den christlichen Heiligenkult integrierte rituelle Tradition. Bei „Devotionalia“ nun geben die Kinder Abbilder ihre Hände und Füsse als Repräsentanten ihrer selbst, und sie dürfen diese Gabe – vor protokollierender Kamera – mit einem Wunsch an die Gesellschaft verbinden. Die Mehrzahl, vor allem junge Mütter, wünscht sich ein Haus; uma casa ist gleichsam der Refrain der Interviews. Doch an wen richten sich die Wünsche? Wer ist die Gesellschaft? Wir hier in Basel (Genf, Luzern, Den Haag)? Die Politiker in Brasilia, denen die Arbeit am Ende des Projektes übergeben wird? Die internationale Staatengemeinschaft? Oder einfach alle zusammen? Und wie steht es um die Dimension des Handels, der beim Exvoto unter dem Gelübde steht, das einem mit Haut und Haar bindet? Binden sich die beiden Künstler? Bindet sich die Gesellschaft? Fühlt sich jemand verantwortlich für das herbeigesehnte Haus? Und wer ist die Legitimationsinstanz für den gesamten Vorgang? An dieser Stelle wird man einwenden, das dürfe doch nicht so wörtlich genommen werden, sondern sei nur symbolisch gemeint; es handle sich doch nicht wirklich um einen religiös-magischen Akt, sondern um Kunst. Damit ergibt sich eine fatale Oszillation: Frage ich nach der Kunst und stosse auf qualitative Mängel, werde ich auf die religiöse Symbolik verwiesen. Und wenn ich nach dieser frage und deren Verbindlichkeit vermisse, werde ich wieder auf die Ebene der Kunst zurückverwiesen. Das aber bedeutet nicht eine produktive Bedeutungsübertragung zwischen Kunst und Religion, sondern im Gegenteil die gegenseitige Entpflichtung ins Ungefähre des Als-Ob.

Unmoralischer Moralismus

Dass es sich bei „Devotionalia“ um Kunst handelt, bildet das eigentliche Problem des Projekts. Die Autonomie der Kunst, die es Dias und Riedweg erlaubt, ohne tiefere Einbindung in die dortigen Verhältnisse in die Tabuzonen einzudringen, gibt ihnen auch die Freiheit, wieder zu gehen, sobald sie für ihr Kunstwerk genügend Material gesammelt haben. Zu einem wirklichen Ergebnis gelangen sie allein in der Kunst – das Ergebnis können wir besichtigen -, doch an Ort und Stelle hat sich nichts verändert, geschweige denn verbessert. Eingedenk der Unfreiheit der sozialen Situation, die sich die beiden Künstler als „Rohstoff“ ihres Kunstwerks gewählt haben, und angesichts des Anspruchs, zu einer neuen Verantwortung der Kunst zu gelangen, wird hier, im spezifischen Falle von „Devotionalia“, die Autonomie und die lebenspraktische Folgenlosigkeit der Kunst zum Skandal. Denn auch hinsichtlich der Verantwortung befinden wir uns im Bereich der Repräsentation: „Devotionalia“ ist bloss repräsentierte Verantwortung, was einem Umschlag ins Gegenteil gleichkommt.

Zudem sticht ins Auge, wie wenig Ungesehenes und Ungehörtes die Arbeit kommuniziert. Die Fragen, die Dias und Riedweg den Kindern stellen – Wie kamst du hierhin? Wovon lebst Du? Hast du schon Gewalt erlebt? -, eröffnen nur ein weiteres Mal die Welt, die wir aus zahlreichen Kampagnen bereits ausreichend kennen. Ähnliches gilt für die Ästhetik der Arbeit, die im Überstülpen von konventionell gewordenen und zudem unpassenden künstlerischen Formen über Nicht-Künstlerisches (Moulage/Reportage) besteht. Damit können sich die Reaktionen der Betrachter nur im Rahmen der üblichen Betroffenheitskultur bewegen: Die Not ist erschütternd, das Wohlstandsgefälle unmoralisch, und immer sind es die Kinder und Mütter, die es am härtesten und unverdientesten trifft, usw. Die Konventionalität der Botschaft wie auch der erzielten Reaktion bewirkt, dass wir die Arbeit folgenlos vergessen, denn auch helfen wollten wir schon immer, und schon immer wussten wir nicht wie.

Im Video kommt ein Sozialarbeiter zu Wort, der von der Schwierigkeit spricht, den Mut nicht zu verlieren. Er arbeitet im Verborgenen, und leise klagt er darüber, dass seine nie endende, sisyphusgleiche Arbeit kaum gewürdigt wird. Dias und Riedweg sind erfolgreicher als er. Sie haben den Weg ins Rampenlicht der (Kunst-)Öffentlichkeit gefunden, ihre Arbeit wird weitherum stark beachtet. Angesichts dieses Missverhältnisses, was die Relation von Aufmerksamkeit und effektivem Nutzen betrifft, wird das Verhältnis von Kunst und Moral in diesem Projekt selbst zum moralischen Problem.

Kapitel I: Kunst und Moral
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Bruce Nauman Performance Video Corridors

Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne. Delacroix – Fontana – Nauman

in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 46/2, 2001, S. 227-254.

Kapitel IV: Bruce Nauman

Die Betrachtung Bruce Naumans erlaubt es, an der Reflexivität künstlerischer Praxis eine weitere Dimension zur Sprache zu bringen: diejenige der Selbstreflexion als Selbstbeobachtung. Sie spielte bereits bei der Analyse von Delacroix‘ Journal eine Rolle; bei Nauman jedoch wird sie zum produktiven Programm seiner Kunst.

Zu den frühesten Arbeiten seines Werks gehören solche, in denen die romantische Konzeption des Künstlers als Ursprung und Quelle aufgegriffen wird, um sie ironisch zu brechen. Hierzu zählt z.B. eine Neon-Arbeit von 1967, die Nauman ins Fenster seines Ateliers hängte, und die er Werbesigneten nachbildete, wie sie in amerikanischen Schaufenstern üblich sind (Abb. 3). Die Leuchtschrift wirbt für den Künstler mit dem Satz: „The true artist helps the world by revealing mystic truths“ – „Der wahre Künstler hilft der Welt durch das Enthüllen mystischer Wahrheiten“. Die ironische Brechung erfolgt allerdings nicht nur durch die Werbeästhetik, sondern zugleich durch die Anordnung des wortspielartigen Satzes, welche die Wörter „true“ und „truth“ direkt übereinanderstellt. So springt die Frage nach der ‚Wahrheit‘ stets an ihren Ursprung, den ‚wahren Künstler‘, zurück. Die Spirale, die eigentlich von innen nach außen verläuft, wird zum Zirkel. Die beiden Schlüsselwörter verweisen unablässig aufeinander und lassen damit die Selbstwerbung ins Leere laufen. Ein anderes Beispiel ist die Photoarbeit Selfportrait as a Fountain von 1966/67 (Abb. 4). Hier bedient sich Nauman der Stillstellung der Photographie, um vorzugeben, er könne wie ein Brunnen unaufhörlich Wasser spenden. Daß es sich um eine ironische Maskerade handelt, verdeutlicht nicht nur das Offensichtliche der ‚Fälschung‘, sondern auch der Umstand, daß das ‚Selbst als Quelle‘ zum Wasserspeier wird.

Naumans Arbeiten der 60er und frühen 70er Jahre präsentieren eine „Reduktionsform der Subjektivität“, d.h. Subjektivität erscheint hier auf ihren Grund zurückgeführt. Rückblickend schildert er seine damalige Situation folgendermaßen: „Als ich von der Universität kam […], hatte [ich] keinerlei Umfeld für meine Kunst […], es gab keine Kontakte, keine Gelegenheit, jemandem zu erzählen, was ich Tag für Tag tat, keine Gelegenheit, über meine Arbeit zu sprechen. Und vieles, was ich tat, machte keinen Sinn, also hörte ich damit auf.“ In diesem krisenhaften Augenblick geht Nauman an den Nullpunkt künstlerischer Tätigkeit zurück. „Im Atelier“, fährt er fort, „war ich auf mich selbst gestellt. Das warf dann die grundlegende Frage auf, was ein Künstler tut, wenn er im Atelier ganz auf sich selbst gestellt ist. Ich folgerte also, daß ich ein Künstler in einem Atelier war und daß demnach alles, was ich dort tat, Kunst sein mußte. Was tatsächlich ablief, war, daß ich Kaffee trank und hin- und herging. Die Frage kam dann auf, wie ich diese Aktivitäten strukturieren konnte, so daß sie Kunst werden oder eine andere Art von geschlossener Einheit, die anderen Menschen zugänglich gemacht werden könnte. An diesem Punkt rückte die Kunst als Tätigkeit gegenüber der Kunst als Produkt in den Vordergrund. Das Produkt ist nicht wichtig für das eigene Bewußtsein.“

Fast scheint es, als wäre Nauman 1966 in seinem Atelier in einen Zustand verfallen, den Delacroix als ‚ennui‘ beschrieben hätte. Nauman fehlen das Ziel, die Mittel und die Veranlassung, Kunst zu machen. Das Atelier wird zum leeren Raum, wo es nichts zu tun gibt, keine Arbeit und keine Verpflichtung. Nur etwas stört den Müßiggang, der sich hier ausbreiten könnte: Naumans Überzeugung, daß er ein Künstler sei, der folglich unmöglich in Sprachlosigkeit verharren könne. Daß das ‚Produzieren‘ einen Ausweg aus dem ‚ennui‘ weist, war schon Delacroix aufgegangen. Nauman findet dieselbe Antwort, doch er gibt dem ‚Produzieren‘ eine überraschende, reflexive Wendung, welche die Dynamik der Produktivität selbst hervortreten läßt. Was bei Delacroix erst keimhaft angelegt ist, entfaltet sich hier, am anderen Ende der Moderne, zum Prinzip der Kunst. Nauman umgeht das Ausdrucksproblem, indem er nicht nach einem Inhalt sucht, den es auszudrücken gälte, sondern die Situation, in der er sich befindet, als solche zum Inhalt macht. Das ‚Hin- und Hergehen‘ im Atelier wird zum Gegenstand des künstlerischen Tuns. Auf diese Weise gelingt es, den Anspruch zu durchqueren, Ursprung des eigenen Tuns zu sein – und damit auch, den ‚ennui‘, die verstörende Einsicht in die Leere des Ich, zu durchbrechen. Die Wendung setzt allerdings voraus, die Vorstellung eines geschlossenen Ich, das die Einheit der Erfahrung und der Artikulation gewährleistet, aufzugeben und das Selbst in der Spannung von Körper, Identität, Inszenierung, Geste, Artikulation und Form zu begreifen. „Ein Bewußtsein seiner selbst“, sagt Nauman, „gewinnt man nur durch ein gewisses Maß an Aktivität und nicht, indem man nur über sich nachdenkt. Man macht Übungen, trainiert, wird sich des eigenen Körpers bewußt. Das passiert nicht, wenn man Bücher liest.“

Mit dieser Einsicht beginnt Nauman Performances zu entwickeln, die er, allein im Atelier, an und mit sich durchführt und als Film oder Videoband aufzeichnet. Sie oszillieren dabei zwischen dem Tun und dem Beobachten des Tuns. Während der Körper wie ein „Stück Material“ benutzt wird, wird die Kamera gleichsam subjektiviert, indem sie nicht nur als Aufzeichnungsgerät dient, sondern zugleich als ein nach außen verlegtes Auge, mit dem er sich selbst zusehen kann und für das er sich inszeniert. So werden die Performances zu einer Möglichkeit, mit sich selbst zu ’spielen‘. Nauman entwirft zunächst eine Regel, an die er sich in der Ausführung so lange hält, bis „das wirkliche Leben einschreitet“, die Aktion abgebrochen oder die Regeln geändert werden müssen. Im Performance-Film Violin Tuned D E A D wandert er im Atelier herum und spielt so schnell wie möglich nacheinander auf den vier Saiten einer Geige. Das stellte eine besondere körperliche Anstrengung dar, da Nauman dieses Instrument gar nicht spielen konnte und seine Glieder rasch zu schmerzen begannen. Es standen zehn Minuten Film zur Verfügung, und so lange sollte der Film auch werden. Doch nach sieben Minuten mußte er unterbrechen, bevor er den Film schließlich zu Ende drehen konnte.

In einem anderen Performance-Film, Bouncing Two Balls between the Floor and Ceiling with Changing Rhythms, schlägt Nauman gleichzeitig zwei Bälle an den Boden und die Decke und versuchte dabei, einen bestimmten Rhythmus einzuhalten (Abb. 6). Die Bälle sollten z.B. einmal den Boden und einmal die Decke berühren, um dann gefangen zu werden, oder zweimal den Boden und einmal die Decke, usw. „An einem bestimmten Punkt“, so Nauman, „sprangen beide Bälle hin und her, und ich rannte die ganze Zeit herum und versuchte, sie zu fangen. Manchmal landeten sie auf etwas, das am Boden lag, oder an der Decke, und dann sprangen sie in die Ecke und stießen zusammen. Schließlich konnte ich keinem von beiden mehr folgen. Ich nahm einen Ball auf und warf ihn einfach an die Wand. Ich war wirklich wütend […], weil ich die Kontrolle über das Spiel verlor. Ich hatte versucht, einen bestimmten Rhythmus einzuhalten […], und als ich aus ihm heraus kam, beendete das den Film.“

Statt ein Produkt herzustellen, versucht Nauman einen Prozeß einzuleiten, der das Produkt in der Schwebe hält. Nauman agiert zugleich als Entwerfer und Ausführender des Spiels, wobei der eine dem anderen die Aufgabe schwer macht. Die aufgezeichneten Vorgänge sind banal und letztlich auch ohne Belang: Laufen, Ballspielen, rhythmisches Stampfen, Geige spielen usw. Sie bilden keinesfalls den Inhalt oder den Zweck der Performances, sondern das Mittel, eine Struktur zu inszenieren. Entscheidend an dieser sind zum einen die serielle, auf jede Expressivität verzichtende Bewegungsabfolge, zum anderen die Zweiteilung, zunächst ein quasi choreographisches Konzept zu entwerfen, um sich diesem dann solange zu unterwerfen, bis Konzept und Ausführung kollidieren. Die Performances entfesseln die Dialektik von Identität und Depersonalisierung, Freiheit und Zwang, Zufall und Kontrolle, Serialität und Unterbrechung, spielerischem ‚play‘ und hartem ‚game‘. Nauman spielt das Spiel und wird zugleich von ihm gespielt. Die Kunst begreift Nauman dabei als „Instrument“, „mit dem man sich eine Aktivität des Erforschens aneignen kann“. Naumans Erforschung richtet sich auf das Auseinandertreten des Ich in verschiedene Rollen und Perspektiven, was jedoch nicht nur Entfremdung erzeugt, sondern zugleich, wie Nauman sagt, „ein Bewußtsein seiner selbst“. Auf diese Weise exponieren sie das Paradox, daß das Subjekt sich unterwerfen muß, um Subjekt werden zu können, so wie es in der Etymologie des Wortes – ’subjectus‘ ist der Untertan – bereits angelegt ist. Naumans Pointe besteht allerdings darin, sich einem selbst entworfenen, frei gewählten Zwang zu unterwerfen, was den Performancefilmen eine Beckettsche Komik verleiht. Indem es sich selbst zum Sujet wird, erhält das Subjekt ein Stück Souveränität zurück.

Als sich Nauman die Frage stellte, wie er diese Konzeption für andere öffnen könnte, entwickelte er die Werkgruppe der Corridors. Dabei handelt es sich um mehr oder weniger geschlossene, aus Brettern und Latten gezimmerte Räume innerhalb eines bestehenden Raumes. Sie sind installative, skulpturale Werke und zugleich Versuchsanordnungen, in denen der Betrachter – oder eher: Benutzer – auf einen Parcours geschickt wird, so wie es Nauman in den Performances mit sich selbst tat. Die Arbeiten sind zwar insofern ‚offene Kunstwerke‘, als sie erst durch den Benutzer vervollständigt werden, doch ist dieser im Umgang mit den Werken keineswegs frei, sondern wird einer rigiden Kontrolle unterworfen. Nauman liegt daran, ihn einer genau kalkulierten, eingegrenzten Erfahrung auszusetzen. Die Corridors affizieren die psychophysische Sensorik auf verschiedene Weise, durch den Entzug vertrauter Weite, durch geräuschdämmende Wände und ungewöhnliches Licht, die zusammengenommen einen Effekt der Unausweichlichkeit erzeugen.

In einer der ersten Arbeiten dieses Typs, Corridor Installation von 1970, zimmert Nauman ein Gehäuse mit sechs oben offenen Gängen verschiedener Breite (Abb. 7). Die Hälfte derselben ist zum Betreten zu schmal. In einem der Gänge, der gerade ausreichend Platz für eine Person bietet, sind am Ende zwei Monitore übereinandergestellt, die beide das Bild des leeren Gangs zeigen. Dringt man zu ihnen vor, wird man nach etwa einem Viertel des Weges von einer Kamera über dem Eingang des Gangs erfaßt und erscheint gleichzeitig, da es sich um eine Closed-Circuit-Schleife handelt, auf dem oberen Monitor – allerdings aufgrund der Kameraposition von oben und von hinten gesehen. Erst mit Verzögerung und nur mit Hilfe überprüfenden Gestikulierens wird offenbar, daß der Monitor keinen unabhängigen Anderen zeigt, sondern die verkehrte Sicht auf sich selbst. Im Unterschied zur gestikulierenden fällt die visuelle Selbstidentifizierung schwer. Denn man wird, je näher man dem Monitor kommt, desto kleiner im Bild, da man sich gleichzeitig von der Kamera wegbewegt. Wenn man sich dann instinktiv umwendet und in die Kamera blickt, erscheint man auf dem Monitor zwar in Frontalansicht, kann dies aber nicht sehen, da dieser jetzt im Rücken liegt. So erzeugt das rekursive Kamera-Monitor-System einen ‚Spiegel‘, der die Selbstbegegnung im gleichen Zuge ermöglicht und verweigert. Währenddessen zeigt der untere Monitor unablässig das gleichbleibende Bild des leeren Korridors, das von einem vorab aufgenommenen Band eingespielt wird.

Wer den Gang betritt, provoziert eine doppelte Störung. Nicht nur dezentriert sich sein Selbst, sondern er bricht zugleich die harmonische Symmetrie auf, die bis zu seinem Eindringen zwischen den beiden Monitorbildern des leeren Raumes sowie zwischen den Bildern und dem leeren Raum selbst bestand. Erst wenn wir den Korridor verlassen und unser Doppelgänger aus dem oberen Monitor wieder verschwindet, wird die erschöpfte und zugleich gespannte Ruhe in den sich selbst bespiegelnden Raum zurückkehren. Nauman, der Subjektivität als Kontaktgrenze von Körper und Raum begreift, erzeugt in Corridor Installation deren wechselseitige Durchdringung. Das Subjekt wird verräumlicht, indem sowohl die Außen- und Innenperspektiven wie auch Sehen und Bewegen, visuelle und motorische Information, auseinanderzulaufen beginnen. Gleichzeitig aber wird der Raum subjektiviert, so als hätte er selbst einen ‚Blick‘ und eine ‚Psyche‘, denen man ausgesetzt wird. Was damit gemeint ist, mag eine nur wenig ältere Arbeit verdeutlichen. Get Out of My Mind, Get Out of This Room heißt eine Rauminstallation von 1968, die lediglich aus einer nackten weißen Raumschachtel besteht. Sie empfängt den Eintretenden mit der Forderung, die der Arbeit ihren Titel gibt: „Geh mir aus dem Sinn, geh raus aus diesem Raum.“ Die Forderung, die Nauman in unterschiedlichsten Tonlagen, Geschwindigkeiten und Betonungen spricht, schreit und flüstert, dringt in Endlosschleife aus Lautsprechern, die unsichtbar in die Wand des Raumes eingelassen sind.

Die Installationen erzeugen einen ‚double bind‘-Effekt: Der Betrachter wird ebenso adressiert wie ausgestoßen. Es beschleicht einen die Ahnung, daß das Naumansche ‚Spiel‘ immer dann aufgeht, wenn ein ebenso ungreifbarer wie irritierender Rest bleibt. Indessen besteht das Erstaunliche darin, daß die Erfahrung ausbleibender Selbstbestätigung in der Begegnung mit dem Kunstwerk keineswegs nur frustrierend ist. Der verbleibende Rest verweist darauf, daß es Nauman letztlich nicht darum geht, das Verstehen scheitern zu lassen – das wäre ein ‚restloses‘ Ergebnis –, sondern daß er darauf abzielt, ein nicht zu Ende zu bringendes Spiel zwischen einander ausschließenden Verstehensvollzügen zu eröffnen. Die konkrete psychophysische Erfahrung und das reflexiv zu gewinnende Wissen halten sich gegenseitig in Schach, so daß weder die negative Erfahrung (qua Mißlingen, Spaltung, Ausgestoßensein) noch das positive Wissen (qua Aufdecken der ‚Maschinerie‘ der Installation oder qua Selbsterkenntnis) triumphieren. „Wenn man merkte“, so beschreibt Nauman diesen Effekt am Beispiel der Corridor Installation, „daß man auf dem Bildschirm war, empfand man das Weitergehen im Korridor, als würde man über eine Klippe treten oder in ein Loch hinein. […] Man wußte genau, wie das zustande kam, weil man das ganze Equipment und was es machte, sehen konnte. Aber jedesmal, wenn man wieder in den Korridor hineinging, machte man dieselbe Erfahrung. Man konnte ihr nicht aus dem Wege gehen.“ So läßt Corridor Installation eine unaufhebbare Spannung entstehen zwischen einem Sinn, der von der konkreten Arbeit ablösbar scheint – und den die Nauman-Literatur je nachdem anthropologisch, politisch, moralisch oder aufklärerisch auffaßt – und der Materialität, an die der Sinn zurückgebunden bleibt – wobei unter Materialität alle von Nauman eingesetzten Komponenten zu verstehen sind, also die Aufbauten, das Licht, die Closed-Circuit-Technik usw. Zum ‚Stil‘ der Arbeiten gehört, daß sie ihre materielle Seite nicht nur offenlegen, sondern oft ein wenig gebastelt erscheinen. Nauman insistiert auf der Theatralität seiner Werke: Die Erfahrung, die wir machen, soll sozusagen unter unseren Augen entstehen. So gleicht auch die Beziehung zwischen werkgebundener Erfahrung und ablösbarem Sinn einer Closed-Circuit-Schleife, die lediglich immer wieder durchlaufen werden kann. Verläßt man Corridor Installation, ist es hingegen außerordentlich schwer, den Inhalt oder die Bedeutung dieser Erfahrung zu bestimmen, d.h. sie in eine verallgemeinerbare Erkenntnis – über das Subjekt oder die Welt – umzumünzen. Sie bleibt an die „unbarmherzige Spezifität“ der Werke gebunden. Obschon Naumans Kunst keinen Zweifel daran läßt, daß sie aufs Ganze geht, bleibt dieses Ganze – der versammelnde Sinn, die Totale der Wahrheit – ungreifbar. Eher verhält es sich umgekehrt. Man wird von der Arbeit ‚ergriffen‘, und die ‚Erkenntnis‘ ist zuvörderst physischer Natur: ein „Loch“, in das man tritt, eine „Klippe“, über die man stolpert – oder ein „Schlag ins Genick“: „Ich habe von Anfang an versucht“, sagt Nauman, „Kunst zu machen […], die sofort voll da war. Wie ein […] Schlag ins Genick. Man sieht den Schlag nicht kommen, er haut einen einfach um.“

Die in mehrfacher Hinsicht ’spaltende‘ Erfahrung von Corridor Installation, welche die Verstehensvollzüge auseinanderlaufen läßt, offenbart das Prozessieren der Subjektivität selbst – sofern man Subjektivität als Medium versteht, das, um seine Vermittlungsleistung zu erbringen, die Spaltung gerade voraussetzt. Die Kunst, die Nauman als „die eigentliche Tätigkeit“ versteht, wäre also darin ‚eigentlich‘, daß sie die Kräfte und Vollzüge der Subjektivität, die dem Bewußtsein vorausgehen und in einem funktionalen Sinn unbewußt sind, Form gewinnen läßt. Der spezifisch Naumansche Zusatz dazu besteht allerdings in der Nachdrücklichkeit, mit der er vorführt, daß die Struktur der Subjektivität zwar nicht transzendiert, weder in Sinn noch in Wissen überführt werden kann, man aber immerhin mit ihr ’spielen‘ kann. Als man Nauman fragte, für wen seine Kunst sei, antwortete er: „Sie hält mich beschäftigt.“

Kapitel I: Einleitung
Kapitel II: Eugène Delacroix
Kapitel III: Lucio Fontana
Punkt Kapitel IV: Bruce Nauman
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Lucio Fontana Tagli Zeichnung Schnitt Ikonoklasmus

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Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne. Delacroix – Fontana – Nauman

in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 46/2, 2001, S. 227-254.

Kapitel III: Lucio Fontana

„Als Geste bleibt die Kunst ewig, aber ihr Material wird sterben.“ Durch die verwirrende Vielfalt an Materialien, Kunstformen und Gattungen, die Lucio Fontanas Œuvre umfaßt, zieht sich eine Spur, die es im Rückblick gleichwohl geordnet erscheinen läßt. Es handelt sich um die Ordnung einer kohärenten und notwendigen Abfolge, die sich gleichwohl nicht vorhersehen ließ. Mit Beharrlichkeit verfolgt Fontana eine bildnerische und zugleich das Bild überschreitende Absicht, die er 1946 im „Weißen Manifest“ als die Notwendigkeit beschreibt, Malerei und Bildhauerei, aber auch Dichtung und Musik in einer umfassenden Kunst aufzuheben, die „den Bedürfnissen des neuen Geistes entspricht“. Sein Ziel ist eine Kunst der Bewegtheit, die Raum und Zeit gleichermaßen umfaßt, und deren erste Anzeichen er im Barock entdeckt, dessen Figuren sich „von der Fläche zu lösen und mit ihren Bewegungen in den Raum auszugreifen“ scheinen. Das ganzes Œuvre hindurch versucht er, das Immaterielle im Materiellen zur Geltung zu bringen, das ‚Äußere‘ ins ‚Innere‘ des Darstellungsbereichs einzuführen, ohne zu illusionistischen Mitteln zu greifen. Seine Suche, die viele Nebenwege kennt, mündet schließlich in einen wortwörlich durchschlagenden Fund. In einem Interview, das er im Todesjahr 1968 gibt, sagt er: „Wenn irgendeine meiner Entdeckungen von einiger Wichtigkeit ist, dann ist es das ‚Loch‘.“ „Das Loch“, so Fontana weiter, „[…] war gerade außerhalb der Dimension des Bildes. […] Ich habe nicht Löcher gemacht, um das Bild zu ruinieren – nein – ich habe Löcher gemacht, um etwas zu finden. […] Die anderen haben es nie begriffen. Sie sagten, ich zerschlitze Leinwände […]. Aber das stimmt nicht.“ Was genau aber hat Fontana gefunden?

Die geschlitzten Bilder, I Tagli, die ab 1958 bis zum Tod als Fontanas umfangreichste Werkserie entstehen, haben zwei Komponenten: den Schlitz und die zumeist monochrome Fläche des Bildträgers (Abb. 1 und 2). Letzterer stellt – vor der Schlitzung – einen leeren, unmarkierten Raum dar, vergleichbar einer leeren Bühne, auf der ein Körper agieren kann, oder der Stille, die den Tönen das Klingen erst ermöglicht. Die Reinheit und ‚Absolutheit‘ dieser Leere verstärkt die Dreistigkeit des Schnittes. Umgekehrt bringt der Schnitt die Doppelnatur der Leinwandfläche zum Vorschein, die bei einem Bild stets zugleich materieller Träger und Erscheinungsort eines Abwesenden ist. Er negiert beides im selben Zuge, sowohl den Illusionismus der traditionellen Malerei wie zugleich die Flachheit des Bildträgers, die in der Moderne den traditionellen Illusionismus ersetzt. „Wenn ich ein Bild mit einem Schnitt mache“, so Fontana, „will ich kein Bild machen: ich öffne einen Raum, eine neue Dimension […]“.

Um dem näher zu kommen, was Fontana ‚gefunden‘ hat, ist es hilfreich, den Schnitt in die Leinwand im Rahmen der neuzeitlichen Theorie des ‚disegno‘, der ‚Zeichnung‘, zu sehen. In der italienischen Kunsttheorie des 16. und 17. Jahrhunderts ist ‚disegno‘ der Name für die Form, in der die Kunst ihre Eigenleistung erbringt. Das Konzept des ‚disegno‘ tritt an die Stelle dessen, was die Scholastik ‚intentio‘ genannt hatte. Es ersetzt die handlungsimmanente Ausführung durch ein Konzept, das zwischen interner, vorab erfolgter Konzeption und nachträglicher externer Ausführung deutlich unterscheidet und doch beides in einem einzigen Begriff zusammenschließt. ‚Disegno‘ ist einer der interessantesten Begriffe der Tradition, vor allem, weil man ihn ontologisch kaum fassen kann. Die Grenze eines Dings, ebenso wie die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, ist ein ‚Nichts‘, sie ist weder im Ding noch außerhalb des Dings. Vielmehr handelt es sich um das Treffen einer Unterscheidung: zwischen Körper und Nicht-Körper, diesseits und jenseits, innen und außen. Das Ziehen einer Linie bricht das raumzeitliche Kontinuum auf mit der Folge, daß es dann zwei voneinander unterschiedene Seiten gibt. Doch gerade indem die Linie nichts ist, was man der Natur selbst entnehmen kann, wird ‚disegno‘ im Zuge der Aufwertung der künstlerischen Tätigkeit zum entscheidenden Können des Künstlers. Das Verwandeln eines ontologischen Nichts in ein perfektionierbares Können, eröffnet den Raum, in dem die Kunst sich selbst begründen kann.

Fontana nimmt diese Tradition auf: Im Grunde ist der Schnitt nichts anderes als das Ziehen einer Linie. Zugleich radikalisiert er deren ontologisches Nichts, das hier in doppelter Weise buchstäblich wird: Er trägt keinerlei Material auf – kein Graphit, keine Tinte, keine Farbe – und mündet zugleich in ein schieres Aufklaffen. Indem das ‚Zeichnen‘ die Bildfläche durchdringt, bringt es hier die Unterscheidungen, welche es ansonsten erzeugt, zum Einsturz. Innen und außen, vorne und hinten, realer Raum und imaginärer Raum sind in den Tagli zweierlei und doch eins. Sie berühren sich an der Schlitzung wie an einer ungreifbaren Naht.

Die Bilder unter dieser Perspektive zu betrachten, privilegiert den Akt des Schlitzens gegenüber dem Produkt, das dabei entsteht. Im Mittelpunkt steht dann weniger das, was Fontana dargestellt hat, so wie es häufig in der Kritik behauptet wird, wenn seine Bilder z.B. als Darstellungen des Unendlichen beschrieben werden. Denn streng genommen zeigen Fontanas Bilder nichts – auch nicht die Unendlichkeit, die sich der Darstellung ohnehin entzieht. Das Loch oder der Schlitz haben ihre Pointe gerade darin, die Repräsentationsleistung des Bildes zu liquidieren. Es gibt kein ‚Dahinter‘, das im Bild dargestellt und damit vergegenwärtigt wäre. Sowohl auf wie hinter dem Bild ist buchstäblich nichts, was etwas anderes ist als zu sagen, das Bild sei die Darstellung des Nichts (bzw. der Unendlichkeit). Fontanas Kunstpraxis schlitzt nicht nur die Leinwand auf, sondern sprengt zugleich die Repräsentation. Die Räumlichkeit eines repräsentierenden Bildes, sei es ein Gemälde, eine Photographie oder ein Film, besteht darin, einen anderen, ebenfalls dreidimensionalen, aber virtuellen Raum entstehen zu lassen, der sich, von einem Rahmen eingefaßt, jenseits unseres normalen Raumes befindet, getrennt davon durch den ‚Bildschirm‘ des Bildes. Fontana überführt die durch Repräsentation eröffnete Räumlichkeit in eine performativ eröffnete – er ersetzt, nach einer Formulierung Alberto Olivieros, „‚represented‘ spatiality“ durch „‚acted‘ spatiality“. Was das Bild zeigt, ist die Spur dieses eröffnenden Aktes, „die Verlängerung des abstrakten malerischen Moments“, um Yves Kleins Formulierung wieder aufzugreifen. Diesen infinitesimalen Augenblick, der sich jeweils nach langer Überlegung mit der Präzision und Schnelligkeit eines chirurgischen Eingriffs ereignete, sichtbar zu machen – das ist es, was Fontana ‚gefunden‘ hat.

Obschon Fontana von der Kunst als gegenständlicher Repräsentation, die sein Frühwerk bestimmt, zur Kunst als gestischer Performanz übergeht, zieht er daraus nicht die Folgerung, die vielen Künstlern, die zu dieser Zeit denselben Sprung wagen, geboten scheint, nämlich ganz aus dem Bild auszusteigen. Der Schnitt bleibt ‚immanent‘, er erzeugt ein Loch als Bild. Indem Schöpfung und Zerstörung des Bildes zusammenfallen, entsteht ein paradoxes Bild, das etwas zu sehen gibt und doch nichts zeigt. Obschon der Raum, den Fontana eröffnet, tatsächlich und nicht nur virtuell vorhanden ist, bleibt er unbestimmt, er ist ‚gerahmt‘ und expandierend zugleich: „Ich mache ein Loch, Unendlichkeit fließt hindurch […].“. Daß im Aufklaffen Raum und Zeit in höchste Spannung zueinandertreten, bringt Fontana auch mit der Betitelung der Tagli zum Ausdruck, die durchgängig Concetto spaziale / AttesaRaumkonzept / Erwartung genannt werden.

Die Pointe der Tagli als ‚Bild‘ besteht darin, Sein und Schein gleichermaßen zu sein. Es handelt sich nicht einfach um ‚Raum‘, sondern um ein Raumkonzept. Die ‚Unendlichkeit‘ wird im Schnitt konkret erschaffen und zugleich als Effekt inszeniert – insbesondere dadurch, daß Fontana hinter die Leinwand eine mattschwarze Gaze spannt, die das Licht schluckt und verhindert, daß die Wand sichtbar wird, wodurch sich offenbarte, daß die Tiefe der Unendlichkeit lediglich ein paar Millimeter beträgt. Die im Schnitt eröffnete Enttäuschung, daß ’nichts dahinter‘ ist, schirmt Fontana mit einem schwarzen Tuch ab, das erneut ein unsichtbares ‚Dahinter‘ erzeugt. Die Effektivität des Schnitts besteht also nicht darin, den Schein zu durchbrechen und zum ‚Sein‘ vorzudringen, sondern beides unabschließbar gegeneinander auszuspielen. Fontanas ‚Sterbenlassen‘ des Materials liquidiert den Scheincharakter des Bildes und restituiert ihn im selben Zuge. Der Riß im Bild ist real und zugleich der Ort dessen, was Adorno „apparition“ nannte: Ein Statthalter des Nicht-Seienden im Sein.

Folglich kreieren die Tagli ein ontologisches Paradox. Sie sind bloßer Vorschein der Unendlichkeit und gleichzeitig deren Ursprung. Die Unendlichkeit entspringt der zugleich realen wie auch semantischen ‚Lücke‘ des Schnitts, d.h. sie entsteht qua Ambivalenz, Unbestimmbarkeit und Unsichtbarkeit, als blinder Fleck inmitten des Bildes.

Versucht man, den Hieb in die Leinwand als Niederschrift eines ‚Autors‘ zu verstehen, muß man feststellen, daß er jegliche ausdrucksästhetische Interpretation, die das Kunstwerk als Emanation eines Autors versteht, unterläuft. Denn man kann den Hieb nur dann als Hervorbringung eines Ich auffassen, dessen Innen sich im Äußeren des Kunstwerks spiegelt, wenn man sich dieses Innen ebenfalls als ein Nichts, als eine aufklaffende Leere vorstellt. Folgt man dieser Spur, dann zeigt sich in Fontanas Bildern das, was Lacan als „Extimität“ des Subjekts bezeichnet, um mit diesem Neologismus Intimität und Äußerlichkeit des Subjekts zusammenzuschließen. Die Niederschrift des Subjekts im Medium des Bildes erweist sich als „Überschreiben zweier leerer Räume“, sie kündet von der intimen Erfahrung des Sichselbstfremdseins.

Der Versuch, das Schlitzen als ‚Äußerung‘ zu begreifen, wird durch die Entdeckung unterstützt, daß Fontana die Rückseiten der Tagli mit seltsamen Notaten versah. Hier manifestiert sich ein zwar verständliches, zugleich aber befremdlich oberflächliches ‚Reden‘, welches so gar nicht zu der stummen Geste des Schlitzens passen will und das Bild des Künstlers als ‚Zen-Meister‘ erheblich irritiert. Die Notate – je eines pro Bild – kreisen um die Tagesbefindlichkeit des Künstlers, um seine Unternehmungen, Vorlieben und Stimmungen: „Es gefällt mir, ein Tagedieb zu sein“, „Mozarts Zauberflöte, welches Wunder!! Schmerzt mich das rechte oder das linke Bein?“, „Ich warte auf den Gärtner der Seele“, „Nieren mit Petersilie bekommen mir nicht“, „Freihändig Fahrrad fahren tue ich gerne“, „Ich bin müde, ich gehe schlafen“, „Arbeiten, arbeiten, warum? Für wen? Zum Teufel mit der Arbeit …“. Sie halten das Wetter, bestimmte Ereignisse oder schlicht den Wochentag fest: „Heute ist ein trauriger Tag ohne Sonne“, „Russische Raumsonde erreicht Venus“, „Teresita hat Autofahren gelernt“, „Der Einfluß Chinas auf die sowjetische Politik … Marina Vlady in Rom“, „Heute ist Freitag, morgen Samstag“. Regeln und Weisheiten des Alltags werden aufgeschrieben: „Wenn es kalt wird, muß man die Heizung einschalten“, „Wer schläft, fängt keine Fische“, „Die Einsamkeit des Alters ist schlimmer als der Tod“, und Bemerkungen zur Kunst notiert: „Die Pop-Art, wie langweilig“, „Wohin kommen wir mit der Kunst?“, „Verstehe ich wirklich nichts von Malerei?“, es gibt Liedanfänge: „Mamma mia dammi cento lire che in America voglio andar …“ und Fragespiele: „Amerika wurde von Garibaldi entdeckt … Esel!!“, usw. Daneben finden sich Reihungen wie „Achtunddreißig, Neununddreißig, Vierzig“ oder „Heute, morgen, irgendwann“ sowie Wortspiele, z.B. mit dem eigenen Namen: „Fontana, Fontanella, Fontanone, Fontana“, und immer wieder eigentümliche Formeln wie „1+1-LLTA3“ oder „1+1-ZXY“, wobei es sich dabei wohl weniger um Kalkulationen handelt, die entschlüsselt werden könnten, sondern um den Niederschlag derselben Lust am Plappern und Kritzeln wie bei den übrigen Notaten. So steht neben der Formel „1+1-7777“ als Kommentar: „Mir gefällt die Ziffer 7“ – so daß Fontana sie gleich viermal hintereinanderschreibt.

Was hier zu Tage tritt, ist die Kehrseite des Schlitz-Aktes auch im übertragenen Sinne. Allerdings berühren sich die beiden Seiten darin, daß auch in dieser Redseligkeit Intimität und Äußerlichkeit zusammenfallen. Das auf der verborgenen Rückseite Aufgeschriebene erweist sich als Versammlung von Alltäglichkeiten, die über das Individuum Fontana kaum etwas aussagen, ja zuweilen als bloße Zeichen- oder Ziffernfolge. Deren Sinn scheint weniger darin zu bestehen, einen Inhalt mitzuteilen, als vielmehr darin, ‚etwas‘ zu äußern, auch wenn einem gerade ’nichts‘ einfällt. Vor dieser Gegenfolie vagierender Zerstreuung erscheint das Schlitzen, das mitten in die Notate hineinsticht, als deren Negation: als Ausdrucksballung, als ‚totale‘ Äußerung, die nicht dieses oder jenes, sondern alles auf einmal zu ’sagen‘ versucht, aber gerade dadurch jeglichen bestimmbaren Inhalt preisgibt und sogar das Medium der Artikulation angreift. Ähnliches war schon bei Delacroix zu beobachten, dessen Wunsch, die ‚Besessenheit‘ durch das Velazquez-Porträt mit einer einzigen, ‚totalen‘ Geste auszuagieren.

Das Medium des Bildes und die Subjektivität des Ichs haben gemeinsam, eine Vermittlungsleistung zu erbringen. Während Subjektivität Selbst und Welt miteinander in Beziehung setzt, übermittelt das Medium einen Inhalt. Das Kunstwerk scheint nun dadurch ausgezeichnet zu sein, diese beiden Vermittlungleistungen ineinanderzublenden und das eine im anderen wahrnehmbar zu machen, d.h. sie wiederum miteinander zu vermitteln. Fontanas Setzen einer Markierung auf der leeren Leinwand und die performative Selbstsetzung im Schnitt werden durch ein und denselben Akt vollzogen. Die Selbstsetzung dient dabei ebensosehr als Medium der Formsetzung wie umgekehrt die Formsetzung als Medium der Selbstsetzung.

Gerade an den Tagli aber wird deutlich, daß diese multiple Vermittlung auf die Punktualität des Aktes beschränkt bleibt. Das gilt gleichermaßen für den dezidierten Schnitt wie für die zerstreuten rückseitigen Notate, welche die eigene Existenz in einem fortgesetzten Sprechen zu gründen und zu sichern versuchen. Die ‚Berührung‘ von innen und außen, Selbst und Welt, welche diese beiden Artikulationsformen in so unterschiedlicher Weise herstellen, ist von diesen nicht ablösbar und auf Dauer zu stellen. Die Punktualität der Vermittlung hat zur Folge, daß sie immer aufs neue vollzogen werden muß, so daß Fontana über die Jahre hinweg, einer Askese gleich, Leinwand um Leinwand beschrieb und schlitzte.

Kapitel I: Einleitung
Kapitel II: Eugène Delacroix
Punkt Kapitel III: Lucio Fontana
Pfeil Kapitel IV: Bruce Nauman
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Kunst Selbstreflexion Subjekt Medium

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Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne. Delacroix – Fontana – Nauman

in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 46/2, 2001, S. 227-254.

„Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung.“ (Novalis)

Kapitel I: Einleitung

Wenn kulturelle oder soziale Referenzrahmen aufbrechen, orientiert sich die Aufmerksamkeit um. Im Laufe des 18. Jahrhunderts beginnen die Künstler, auf die Grundlagen ihres Tuns zurückzugehen. Sie erforschen sich selbst, indem sie ihre Selbst- und Weltwahrnehmung prüfen, und versuchen, sich über ihr Gestaltungsmedium Rechenschaft zu geben. Die Selbstbezüglichkeit des Künstlers und die Selbstbezüglichkeit des Mediums werden nun, da die alten Bezugsgrößen – das Prinizip der Nachahmung, die rhetorische Fundierung, die Auftragssituationen usw. – schwinden, zu den neuen Fundamenten künstlerischer Praxis. Ob sie tragen oder sich diese letzten Gründe nicht doch als grundlos erweisen, ist dabei die offene Frage, welche die Reflexion erst in Gang bringt. So beflügelte die Erwartung, der Rückgang auf Eigenart und Gesetze des künstlerischen Mediums lasse ein sicheres Fundament der Kunst entdecken, viele Künstler insbesondere der klassischen Moderne, und Greenbergs Theorie des ‚Modernismus‘ versuchte zu zeigen, wie die künstlerische Selbstvergewisserung durch die ‚Essentialisierung‘ des jeweils verwendeten Mediums geleistet werden könne. Doch diese Hoffnung muß zwiespältig bleiben. Sich des eigenen Tuns und seiner Selbst im verwendeten Medium zu vergewissern, schließt bereits die Entfremdung an ein Äußeres ein. Das Subjekt, als der andere Pol moderner künstlerischer Selbstreflexion, erweist sich als ebenso prekäre Basis. Es kann sich nicht unmittelbar entäußern, so als hätte das Hervorgebrachte keine andere Verbindung als mit dem Inneren des Künstlers, dessen Präsenz sich in ihm ausdrückt. Die künstlerische Expression ist vielmehr in zweifacher Weise kodiert, erstens, weil das Kunstwerk nicht direkt, sondern lediglich metaphorisch für das Selbst des Künstlers einsteht, und zweitens, weil sie sich einer spezifischen Darstellungsform bedient. Der Künstler kann sich nur ausdrücken, weil er über eine ‚Sprache‘ verfügt, die das ermöglicht – eine Sprache, die er nicht selbst erfindet, sondern die von ‚außen‘ kommt. Die Übersetzung innerer Erfahrung in diese Sprache geht jeder Expression voraus, so daß zwischen Selbst und Ausdruck eine rhetorische Figur interveniert: das jeweilige Ausdrucksmedium. Wer sein Inneres mitteilen will, muß es ‚übersetzen‘ – um den Preis der Unmittelbarkeit.

Aufgrund dieser gegenseitigen Verweisstruktur, welche die Frage nach der Usprünglichkeit von Subjekt und Medium ins Leere laufen läßt, erscheint es auch verfehlt, beide Pole gegeneinander auszuspielen, wie es insbesondere in Körper- und Medientheorien geschieht, die den Körper als Sitz des authentischen‘ unmittelbaren Selbst gegen die ‚uneigentlichen‘ Medien auszuspielen versuchen. Der Körper, den der Künstler für seine künstlerische Praxis notwendig braucht, ist keineswegs der Ort der Unmittelbarkeit, sondern bereits selbst ein Medium, das ihm zum Ausdruck ‚dient‘. So ist es keineswegs bloß paradoxal, daß ‚Körper‘ und ‚Medium‘ zur selben Zeit, nämlich in den 1960er Jahren, sowohl in der Theorie wie in der Kunst zu zentralen Konzepten werden. Denn es war gerade die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen Medien und Wirklichkeit, welche durch die Revolution technischer Medien ausgelöst wurde, die auch zur Aufwertung des Körpers beitrug – der nun aber nicht nur als Ort ‚realer Gegenwart‘ heraustrat, sondern zugleich als das paradigmatische Medium, als das er seit der Antike galt. Umgekehrt hatte die künstlerische und theoretische Erkundung des Körpers als ‚Performer‘ des Selbst und ‚Konstrukteur‘ der Welt zur Folge, daß jede Wirklichkeit, selbst die des Subjekts, als medial konstruierte und vermittelte erkennbar wurde. Diese Überkreuzung wird sich besonders beim dritten der hier diskutierten Künstler, Bruce Nauman, zeigen, der in seinen Arbeiten der 60er Jahre sowohl den Körper wie die Videotechnik als ’neue Medien‘ entdeckt und sie zwecks gegenseitiger Exploration miteinander konfrontiert.

Die Dynamik moderner künstlerischer Selbstreflexion kann daher nur verständlich werden, wenn die Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Medium vorausgesetzt wird. Beide werden im folgenden als Größen verstanden, die in einem bald metonymischen, bald metaphorischen Verhältnis füreinander einstehen. Sie verbinden sich im ‚Akt‘, dem das Kunstwerk seine Entstehung verdankt – einem Akt, der analog zum literaturwissenschaftlichen Konzept des ‚Schreibens‘, der ‚écriture‘, begriffen werden kann, das heißt als eine Form der Hervorbringung, die ihre Pointe darin besitzt, sich an der Nahtstelle von Medium und ’schreibendem‘ bzw. ’sich schreibendem‘ Subjekt anzusiedeln. Hierbei wird das Medium subjektiviert und erscheint als personalisierter, anthropomorph besetzter Ersatz des Selbst, während umgekehrt das Subjekt als Medium erscheint, durch das hindurch etwas ’spricht‘, das nicht einfach mit dem wachen Ich zu verrechnen ist, sondern vielmehr als Freisetzung von Kräften erscheint, die dem Bewußtsein vorausgehen. Subjekt und Medium erweisen sich als ambivalente Schauplätze, die in doppelter Funktion stehen. Sie sind der Ort des Aussagens, d.h. der Ort, wo etwas ausgesagt wird, wie zugleich die Sache der Aussage, d.h. der eigentliche Inhalt, den das Kunstwerk kommuniziert.

Drei Beispiele der gegenseitigen Überschreibung von Subjekt und Medium sollen hier zur Sprache kommen. Sie sind absichtlich heterogen gewählt, da es weniger darum gehen soll, eine Geschichte der Selbstreflexion zu skizzieren, sondern vielmehr, ein Feld zu umreißen. Die Metapher des Feldes impliziert den Raum, welcher der Kunst sich hier eröffnet, und andererseits die Grenzen, die diesem Raum gesetzt sind. Denn was hier thematisiert wird, beansprucht keineswegs, den Schlüssel zum Verständnis moderner Kunstpraxis überhaupt zu bieten, sondern versucht allein, einen bestimmten Aspekt derselben herauszustellen. Von den vielen künstlerischen Positionen, die sich unter einer solchen Perspektive zur Betrachtung anbieten, fiel die Wahl auf Eugène Delacroix, Lucio Fontana und Bruce Nauman. Sie erlauben es, drei sehr unterschiedliche Formen der künstlerischen Praxis und des Medieneinsatzes zu untersuchen. Geht es bei Delacroix um die Materialität der Farbe und den Akt des Malens – hier analysiert anhand des Journal und nicht der Gemälde -, so bei Fontana um die Leinwandfläche und ihre Zerschneidung, und schließlich bei Nauman um die Verwicklungen von Körper, Raum und Video. Eine historische Dimension eröffnet sich ansatzweise gleichwohl. Während Delacroix‘ Reflexionen als Zeugnis des Übergangs zwischen klassischer und moderner Malerei gelten können, erscheint Fontana als Beispiel ‚modernistischer‘, die Grundelemente des Bildes thematisierender Kunst, und Nauman als Vertreter einer nachmodernen, neue Medien einsetzenden Künstlergeneration. Indem die drei Positionen miteinander konfrontiert werden, wird es möglich, eine Thematik herauszuarbeiten, welche die Unterschiedlichkeit von Vorgehen, historischer Stellung und eingesetzten Medien übergreift.

Punkt Kapitel I: Einleitung
Punkt Kapitel II: Eugène Delacroix
Kapitel III: Lucio Fontana
Kapitel IV: Bruce Nauman
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Eugène Delacroix Journal Romantik le vague Farbe

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Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne. Delacroix – Fontana – Nauman

in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 46/2, 2001, S. 227-254.

Kapitel II: Eugène Delacroix

Mit dem Zurücktreten der religiösen Weltsetzung, mit dem Fraglichwerden des Weltbeobachters Gott, auf dessen Blick sich alles bezieht, stellt sich die Frage, für wessen Blick die Welt wohl geschaffen sei. Die Romantik antwortet mit dem Subjekt als dem Beobachter der Welt. Das Selbst findet sich nicht mehr gespiegelt in der Welt – in Gott oder in der Natur -, sondern nur noch in sich selbst. Selbst- und Weltbeobachtung beginnen sich zu verschränken, das Subjekt wird, mit Luhmann gesprochen, zum „Beobachter zweiter Ordnung“, zum Beobachter des Beobachtens. Im Zuge dessen entdecken die Künstler der Romantik die eigentümliche Ambivalenz ihrer Produktivität, in der Authentizität zur Losung und zugleich unerreichbar wird und das Problem der Kommunikation sich auf allen Ebenen stellt. Von der Ambivalenz der eigenen Produktivität lassen sie sich faszinieren – oder sie verzweifeln daran, wenn sich zur Angst vor der Leere des gottlosen Alls die Angst vor der Leere der menschlichen Natur gesellt. Kommuniziert werden nun weniger bestimmte Inhalte, sondern Subjektivität selbst, sofern man unter Subjektivität die Vermittlung von Selbst und Welt versteht.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schreibt Eugène Delacroix sein Journal, sein Tagebuch; zwischen 1822 und 1863, dem Todesjahr des Künstlers, schwillt es zu erheblichem Umfang an. Im Feld der bildenden Kunst handelt es sich um eines der frühesten und ausführlichsten Zeugnisse künstlerischer Selbstreflexion. Kaum zuvor wurde die Analyse der künstlerischen Praxis so unmittelbar mit der Ausleuchtung des eigenen Ich verwoben, und wenige Künstler haben ihr Tun auf so distanzierte und zugleich leidenschaftliche Weise beschrieben wie Delacroix. Das geschah durchaus auch im Versuch, sich von der Künstlerkrankheit der Zeit zu heilen, dem ‚ennui‘, von dem auch Delacroix sich befallen sieht, und gegen den er nur ein Mittel kennt: „Produzieren, produzieren!“, wie er sich im Tagebuch immer wieder zuruft. Entscheidend sei es, „den Geist ohne Unterlaß arbeiten zu lassen“: „Das Geheimnis, dem ‚ennui‘ nicht zu verfallen, besteht darin, jedenfalls für mich, Ideen zu haben. Ich kann also nicht genug nach den Mitteln suchen, sie entstehen zu lassen.“

Das Journal ist ein einziges ausgedehntes Selbstgespräch, worin Delacroix zugleich als Autor, Adressat, Verhandlungsgegenstand und sogar als Leser seines eigenen Schreibens erscheint. So notiert er am 14. Mai 1824: „Deine Seele verlangt von dir, auch zum Zuge zu kommen. Und warum sich gegen ihren Befehl stemmen?“ – d.h. Delacroix spricht zu sich über seine Seele und tritt bei sich selbst als deren Anwalt auf. Schon in der allerersten Eintragung vom 3. September 1822 doppelt sich das Subjekt, indem das Journal zum Mittel der Selbstverbesserung erklärt wird: „Ich beginne mit der Ausführung des schon so oft gefaßten Vorhabens: ein Tagebuch zu schreiben. Was ich dabei am meisten wünsche, ist, nicht aus dem Blick zu verlieren, daß ich es für mich allein schreibe; ich werde daher wahrhaftig sein, wie ich hoffe; und ich werde dadurch besser werden. Dieses Papier wird mir meine Abweichungen vorhalten.“

Als Manuskript ist das Journal wesentlich ungeordneter als es in den publizierten Varianten erscheint: Inhaltlich zusammenhängende Einträge ziehen sich fragmentiert über verschiedene Tagesnotate hinweg, manches wird an späterer Stelle modifiziert wieder abgeschrieben, wobei Delacroix bei dieser Gelegenheit sich selbst kommentiert und korrigiert, ohne das Korrigierte aber zu löschen. Über viele Jahre hinweg finden sich zudem, erratisch den Schreibduktus unterbrechend, kurze Abhandlungen über verschiedene malerische Sachfragen, die Vorarbeiten zu einem schließlich doch nie publizierten Dictionnaire des Beaux-Arts darstellen. Genau darin aber liegt das Faszinierende des Journal, das sich allerdings nur dem erschließt, der es von vorne bis hinten liest und auf diese Weise dessen Sprunghaftigkeit, Heterogenität und innere Gespanntheit erfährt.

Delacroix‘ Schreiben entfaltet sich vom allerersten Eintrag an in der Spannung zwischen der Angst vor dem Selbstverlust und einer unerschütterlichen Selbstgewißheit. Die herausragende Stellung, die das Journal in der Geschichte moderner künstlerischer Selbstreflexion einnimmt, ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, daß das Angst-Ich und das selbstgewisse Ich sich gegenseitig in Schach halten und Delacroix sich im Schreiben nicht auf eine der Seiten schlägt, sondern beides aufeinanderprallen läßt. So wird das Journal zum Monument eines einzelnen Charakters wie zugleich zum Zeugnis der Widersprüchlichkeit moderner Subjekterfahrung. Eine der Stellen, an der eine anfängliche Verunsicherung plötzlich – auch sprachlich unvermittelt – in trotzige Selbstgewißheit umschlägt, findet sich unter dem Datum des 7. April 1824. Aufschlußreich ist, daß beide Gemütszustände mit dem Medium des Schreibens verflochten sind:

„Ich habe soeben das Vorhergehende überflogen: Ich beklage die Lücken. Es scheint mir, als wäre ich noch immer Herr über die Tage, über die ich geschrieben habe, obschon sie vergangen sind. Aber diejenigen, die dieses Papier nicht erwähnt, sie sind, als hätten sie nie existiert. / In welche Finsternis bin ich gestürzt? Kann es sein, daß ein elendes und vergängliches Papier aufgrund meiner menschlichen Schwäche das einzige Zeugnis meiner Existenz ist, das mir bleibt? Die Zukunft ist vollkommen schwarz. Die Vergangenheit, die keine Spur hinterließ, ist es ebenso. Ich möchte mich über den Zwang beschweren, stets darauf zurückgreifen zu müssen; aber warum sich immer über meine Schwäche empören? Kann ich einen Tag ohne Schlaf oder ohne Essen sein? So jedenfalls steht es um meinen Körper. Aber mein Geist und die Entwicklung meiner Seele, all dies wird ausgelöscht sein, weil ich das, was mir davon bleiben kann, nicht der Verpflichtung zum Schreiben verdanken will. Im Gegenteil, der Zwang zu einer kleinen Pflicht, die täglich wiederkehrt, wird eine gute Sache sein. / Eine einzige Beschäftigung gibt dem Leben regelmäßig Halt und ordnet den ganzen Rest des Lebens: Alles wird sich darum herum anordnen. Indem ich die Geschichte meiner Erfahrungen aufbewahre, lebe ich doppelt; die Vergangenheit wird zu mir zurückkehren. Die Zukunft ist stets da.“

Manches von dem, was Delacroix notiert, gehört zweifellos zum geläufigen Repertoire der Romantik, die das Kunstwerk als Resultat des Ausdruckswillens und -vermögens eines Subjekts begriff. Authentizität gewinnt das Journal indessen da, wo Delacroix die Grenzen der Ausdrucksästhetik zu erkunden beginnt. Hier werden wir Zeugen eines Aufbruchs, der den Malerautor in ungesichertes Terrain führt. Auffällig häufig thematisiert Delacroix das ‚Unbestimmte‘, ‚le vague‘, als einen der größten Reize der Malerei. Auch dies gehört zum romantischen Repertoire. Doch er geht darüber hinaus, wenn er zugleich bemerkt: „Die Originalität des Malers braucht nicht immer ein Sujet“ – wobei Delacroix unter ‚Sujet‘ das dargestellte Thema eines Bildes versteht. Worin liegt dann der Anlaß des Bildes, und was kommuniziert ein ’sujetloses‘ Kunstwerk? Was meint ‚Unbestimmtheit‘, wenn sie nicht nur die Art und Weise bezeichnet, in der das Bild etwas zeigt, sondern zum eigentlichen ‚Bildinhalt‘ avanciert? ‚Unbestimmtheit‘ dürfte dann am ehesten als Chiffre für ein Schweben zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘ aufzufassen sein – für ein Schweben, das auf keine der beiden Seiten hin aufgelöst werden kann, sondern ins Kunstwerk eingetragen und als Offenheit an den Betrachter weitergegeben wird. Das aber bedeutet die gleichsam kopernikanische Wende, daß Subjektivität – als Vermittlung von Selbst und Welt, ‚innen‘ und ‚außen‘ – zum neuen und eigentlichen Inhalt des Kunstwerks wird. Es wird zum Ort, wo dieser Augenblick der Vermittlung Form gewinnt. Hundert Jahre nach Delacroix wird Yves Klein dasselbe so formulieren: „Malerei dient nur dazu, für andere den malerischen, abstrakten Moment auf faßbare und sichtbare Art zu verlängern.“

Damit ergeben sich für Delacroix gleich zwei Probleme, denen er sich im Journal zu stellen versucht. Das eine betrifft das Funktionierenkönnen dieser Vermittlung, das andere deren Legitimität. Denn Subjektivität als ‚Inhalt‘ zu entdecken läßt zugleich die Fragen aufbrechen, wie dann Intersubjektivität zu begreifen sei, und wie es zudem gerechtfertigt werden könne, Subjektivität überhaupt mitteilen zu wollen.

Was zunächst den ersten Punkt – die Möglichkeit intersubjektiver Kommunikation – betrifft, so heißt es dazu in einem frühen Eintrag: „Wenn ich ein gutes Bild gemalt habe, habe ich nicht einen Gedanken niedergeschrieben. Das ist, was die anderen sagen. […] Sie rauben der Malerei alle ihre Vorzüge. Der Schriftsteller sagt um des Verständnisses wegen beinahe alles. In der Malerei ergibt sich das Verständnis wie eine geheimnisvolle Brücke zwischen der Seele der dargestellten Personen und derjenigen des Betrachters. Er sieht Figuren gemäß der äußeren Natur; aber in seinem Inneren denkt er die wahren Gedanken, die allen Menschen gemeinsam sind […].“ Und er fügt hinzu: „Die Kunst des Malers ist umso intimer im Herzen des Menschen, je materieller sie erscheint; denn der Maler gibt, wie auch die äußere Natur, selbstverständlich sowohl dem Vollendeten seinen Raum wie auch dem Unvollendeten, d.h. auch demjenigen, was die Seele an den Dingen, die nur die Sinne gefangen nehmen, an innerlich Bewegendem entdeckt.“

Was das Bild an Wiedererkennbarem darstellt, ist gemäß Delacroix bloß ein Vehikel für ein ‚geheimnisvolles‘ Anderes, das er zugleich mit dem Begriff des ‚Materiellen‘ zu fassen versucht. Die Lesbarkeit der Literatur dient ihm als Gegenfolie, um das ‚materielle Andere‘ der Malerei näher zu umschreiben. Dem Buchstaben der Schrift stellt er die Hieroglyphe der Malerei gegenüber: „Die der Malerei eigentümlichen Emotionen sind gewissermaßen handgreiflich […]. Man genießt die wirklichkeitsgetreue Darstellung der Dinge, als sähe man sie wirklich, und im selben Augenblick erhitzt und entführt einen der Sinn, den die Dinge für den Geist in sich tragen. Diese Figuren, diese Dinge, die für einen Teil unseres intelligenten Wesens die Sache selbst zu sein scheinen, erscheinen wie eine solide Brücke, die die Imagination benutzt, um bis zur geheimnisvollen und tiefen Empfindung vorzudringen, deren Hieroglyphe die Formen in gewisser Weise sind, aber eine Hieroglyphe, die in ganz anderer Weise sprechend ist als eine kalte Wiedergabe, die nur die Stelle eines Druckbuchstabens einnimmt: eine erhabene Kunst also, wenn man sie mit derjenigen vergleicht, bei der der Gedanke den Geist nur mit der Hilfe von Buchstaben erreicht, die in eine konventionalisierte Ordnung gebracht sind; eine sehr viel kompliziertere Kunst, wenn man will, da der Buchstabe nichts ist und der Gedanke alles zu sein scheint, aber tausendmal ausdrucksstärker, wenn man bedenkt, daß unabhängig von der Idee das sichtbare Zeichen, die sprechende Hieroglyphe, Zeichen ohne geistigen Wert im Werk des Schriftstellers, beim Maler eine Quelle des lebendigsten Genießens wird.“

Delacroix‘ Wunsch nach der Mitteilung tiefer Empfindung und „lebendigsten Genießens“, das Verlangen, die eigene „Seele mit derjenigen eines anderen zu identifizieren“, führt ihn dazu, das Bild als Medium im eigentlichen Wortsinn zu verstehen: als Kommunikationsmittel, das eine Brücke zwischen dem „Geist des Malers und dem des Betrachters“ schlägt. Indem er aber gleichzeitig von der ‚Materialität‘ und ‚Handgreiflichkeit‘ des Mediums spricht, enthüllt sich die Doppeldeutigkeit dieses Begriffs. Es steht zwischen dem miteinander Vermittelten, verbindet und trennt es im gleichen Zuge. Die Unmittelbarkeit, nach der Delacroix strebt – im Niederschlag seiner Empfindungen im Bild wie auch in der Wirkung des Bildes beim Betrachter -, wird durch das ‚Dazwischensein‘ des Vermittlungsmediums von vornherein durchkreuzt, nämlich ans Materielle entfremdet.

Wie also kann Delacroix die Materialität des malerischen Mediums, welche die Unmittelbarkeit zerstört, als eigentlichen Reiz der Malerei empfinden? Warum verachtet er die akademischen Maler für ihren haarfeinen Pinselstrich, der das Bild hinter dem Dargestellten zum Verschwinden bringt, und kontert mit dem Konzept des ‚Unbestimmten‘, das die Selbsttransparenz des Mediums trübt? Erneut ist also danach zu fragen, welches Potential Delacroix im ‚Unbestimmten‘ erkennt – das, wie jetzt deutlich wird, mit dem ‚Materiellen‘ des malerischen Mediums in direktem Bezug steht. Im Unbestimmten des Bildes erkennt Delacroix offensichtlich eine Möglichkeit, das Unbestimmte von dessen Herkunft sprechen zu lassen. Und die Materialität der Malerei wiederum ist das Indiz dafür, daß es sich bei dieser Herkunft um eine dunkle, ’somatische‘ Energie handelt, die in ihr ’spricht‘.

So ist es bezeichnend, welche Antwort er auf die zweite der oben angesprochenen Fragen findet, nämlich wie es zu rechtfertigen sei, daß die eigene Seele nicht nur nach Ausdruck strebe, sondern auch noch danach, sich als Kunstwerk gleichsam auszustellen. Er vergleicht diesen Drang mit einem vitalen körperlichen Bedürfnis: „Ist ihre [=der Seele] Forderung lächerlicher als das Verlangen nach Schlaf, das deine Glieder anmelden, wenn sie und deine ganze körperliche Natur müde geworden sind?“ Wie ’somatisch‘ diese Forderung der Seele nach Mitteilung wirklich ist, zeigt sich in einer der ergreifendsten Passagen des Journal, in der Delacroix über den Genuß spricht, den einem Maler allein sein eigenes Metier bieten kann. Am 11. April 1824 schreibt er: „Den Velazquez gesehen und ihn zum Kopieren erhalten. Ich bin von ihm ganz besessen. Das ist es, was ich so lange gesucht habe, dieses Dicke und doch Verfließende. […] / Ich kehre früh nach Hause zurück und beglückwünsche mich, meinen Velazquez kopieren zu können, und ich sprühe vor Lebenslust.“

Doch dann überfällt Delacroix eine Produktionshemmung, die in eine Reflexion über die Punktualität der Inspiration mündet.

„Welche Verrücktheit, sich stets für die Zukunft Sujets aufzuheben, die schöner als andere sein sollen. / […] Mit dieser dummen Manie macht man stets Dinge, für die man nicht aufgelegt ist, und die folglich schlecht herauskommen; je mehr man davon macht, desto schlimmer wird es. Zu jeder Zeit kommen mir hervorragende Ideen, und statt sie auszuführen, in dem Augenblick, in dem sie vom Reiz gesättigt sind, den ihnen die Vorstellungskraft im Zustand verleiht, in dem sie sich gerade befindet, verspricht man sich, sie später aufzugreifen, aber wann? Man vergißt sie wieder, oder was schlimmer ist, man findet keinerlei Interesse mehr an dem, was einem zur Inspiration geeignet erschien. Bei einem so vagabundierenden und leicht zu beeindruckenden Geist jagt eine Phantasie die andere, schneller als der Wind dreht und das Segel in die entgegengesetzte Richtung umschlägt: Es geschieht, daß ich viele Sujets zugleich in mir habe. Nun, was soll ich damit machen? Sie werden im Magazin liegen und kühl auf ihre Verwendung warten, und niemals wird sie die Inspiration des Augenblicks mit dem Atem des Prometheus beseelen: Man wird sie aus der Schublade ziehen müssen, wenn es die Notwendigkeit gibt, ein Bild zu machen! Das ist der Tod des Genies. Was geschieht heute abend? Seit einer Stunde schwanke ich zwischen Mazeppa, Don Juan, Tasso und hundert anderen hin und her. […] / Was bestimmt meine Wahl unter den Sujets, die ich mir gemerkt habe, weil sie mir eines Tages schön erschienen waren, jetzt, wo ich in einer Stimmung bin, die allen gleichermaßen entspricht? Zwischen zwei schwanken zu können bedeutet nichts anderes als das Fehlen der Inspiration.“ Mitten in dieser Klage aber kehrt die „Besessenheit“, die der Velazquez in ihm auslöste, zurück: „Sicher, wenn ich in diesem Augenblick die Palette nähme, und ich sterbe vor Verlangen danach, dann verfolgte mich der schöne Velazquez. Ich möchte auf einer braunen oder roten Leinwand schöne, dicke, fette Farbe verstreichen.“

Es scheint, als würde nach all dem zaudernden Schwanken zwischen diesem und jenem Sujet, die ihm alle gerade nichts gelten, plötzlich das wahre Begehren der Malerei sich Bahn brechen. Die Absicht, das Bild zu kopieren, das ihn in seiner Erscheinung zwischen Dicke und Verfließen faszinierte, kippt in den Wunsch, „schöne, dicke, fette Farbe“ zu verstreichen. Es ist nicht nur ein Malakt, den Delacroix hier imaginiert, sondern ein Lebensakt, bei dem das Maler-Ich als Medium erscheint, durch das hindurch ein unbekanntes ‚Es‘ nach lustvollem Ausdruck drängt, nach genießender Gegenwärtigkeit und gerade darin sich entgeht. Es zeigt sich als ein genuin malerisches Genießen, das unmittelbar mit dem Medium der Malerei, seinen Pasten und Bindemitteln, der Zähflüssigkeit der Farbe und dem intensiven Geruch verbunden ist. Vor allem aber löscht der Wunsch, schlichtweg Farbe zu verstreichen, die Absicht aus, das Bild zu kopieren. Würde er verwirklicht, hinterließe er statt des Bildes eines spanischen Edelmannes lediglich eine unförmige Spur. Was hier imaginiert wird, ist kein planvolles Produzieren mehr, aber auch kein Selbstausdruck des künstlerischen Ichs – es sei denn, man setzte dieses mit den Farbwülsten gleich, die auf der Leinwand zurückblieben. Was sich Delacroix an anderer Stelle seines Tagebuchs von der Art und Weise seines Produzierens wünscht, nämlich sich darin „ein wenig zu verlieren und im Machen zu finden“, läßt hier seine äußerste, sozusagen ‚unbewußte‘ Konsequenz aufscheinen. Das sich verlierende Finden offenbart den kreativen Akt – wie Marcel Duchamp formulieren wird -, als „arithmetische Beziehung zwischen dem Unausgesprochenen, jedoch Beabsichtigten und dem unbeabsichtigt Ausgesprochenen“.

Delacroix berührt die Grenze, an der die Malerei als performativer Akt von unbestimmter Herkunft und unbestimmter Aussage erscheint, als selbstbezügliches Begehren nach diesem Akt. Die ‚Leere‘ des Ausdrucks setzt den Eigensinn des Mediums frei, aber nicht im Sinne der abstrakten Malerei, sondern einer Materialität, die für den Körper des Künstlers einzustehen scheint. In der „schönen, dicken, fetten Farbe“ wird das Medium subjektiviert und das Subjekt medialisiert. Intimität und Fremdheit, Authentizität und Depersonalisierung schlagen ineinander um. Den Punkt, an dem die Malerei zum ‚Fleck‘ wird, hat Delacroix in seinem Journal berührt; ob überhaupt und in welcher Weise es sich auch in den Bildern ereignet, wäre ein eigenes Thema, das aufzugreifen hier unterbleiben muß.

Kapitel I: Einleitung
Punkt Kapitel II: Eugène Delacroix
Pfeil Kapitel III: Lucio Fontana
Kapitel IV: Bruce Nauman
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Subjekt und Medium als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 4.390 KB)

Kocherscheidt Spätwerk Wolfgang Rihm

Kocherscheidt – Sartre – Rihm als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 34.100 KB)

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„Ein Lob dem groben Schnitt, dem brechenden Rand und der Bildentgleisung.“ Kocherscheidt – Sartre – Rihm

in: Brustrauschen. Zum Werkdialog von Kurt Kocherscheidt und Wolfgang Rihm, hrsg. von Heinz Liesbrock, Stuttgart 2001, S. 28-53.

Kapitel V

Ich überspringe erneut einige Jahre und nähere mich dem Ende von Kocherscheidts künstlerischer Arbeit. Mit den Skulpturen und Malereien der Jahre 1990 bis 1992 stößt er zu einem schwer überbietbaren Endpunkt vor, zu einem Punkt gleichzeitig, an dem sich der Bogen zurückschlägt zu den prägenden Erfahrungen in Südamerika zwanzig Jahre zuvor, mit denen ehedem sein Werk neu begann. Angesichts dieser späten Werke offenbart sich, welche Verdichtungen im jeweiligen Medium die Aufspaltung der Arbeit in Malerei und Skulptur ermöglichte. Die Radikalisierung darf gleichzeitig vor dem Hintergrund der dauernden Drohung des Todes, unter der Kocherscheidt in den letzten Jahre seines Lebens stand, gesehen werden. Von den Skulpturen erscheinen diejenigen als die bezwingendsten, in denen die Durchlöcherung der kompakten Holzfläche, die einem bereits in der Englischen Acht begegnet, weiterentwickelt wird (Abb. S. 44, 45). Diese Aussparungen sind das „Punktum“ (Roland Barthes) dieser Werke: Sie sind der Ort, wo uns etwas Namenloses – Barthes nennt es das Reale – anrührt und sich gleichzeitig entzieht. Die Skulpturen realisieren sich dort, wo sie uns mit ihren blinden Löchern anblicken, wo in ihnen gleichsam der Sinn abfließt und nur als negativer, als Loch, als „grober Schnitt“ und „brechender Rand“ (Kocherscheidt), sein Verschwinden anzeigt.

Den Skulpturen stehen Malereien gegenüber, in denen genau gegenläufig eine amorphe und inerte Farbmasse sich immer maßloser über die Fläche auszubreiten beginnt. Braun und Schwarz sind die Töne, in denen die Buntfarben, die noch in der Mitte der 80er Jahre leuchteten, entropisch verdämmern. Oft erscheinen sie in antropomorpher Gestalt, als antlitzloser, kartoffelförmiger Kopf wie in Stehende Stunde (Abb. S. 46), doch sie können auch jegliche Form einbüßen wie in Merdasullaverda (Abb. S. 47): Es ist eine Urmaterie zwischen Lehm und Kot, die sich hier ausdehnt, eine erste und letzte Materie der Erde wie des Menschen, des Innen wie des Außen, die als schmierige Schicht das kaum noch sichtbare Grün überlagert.

Noch ein Jahr später, 1992, forcieren das die letzten Werke bis zu einem Grad von unüberbietbarer Elementarität. Eine Gruppe unter ihnen zeigt konzentrische Formen, zumeist Spiralen oder Kreise, deren minimalisierte, archaische Form eigentliche Farbwucherungen und Farbschiebungen sind (Abb. S. 50, 51). Hier ist der Wandel der Repräsentation abgeschlossen, von dem am Anfang die Rede war. Diese Bilder stellen nichts mehr dar im Sinne eines eindeutigen außerbildlichen Referenten, auf den sie sich abbildend beziehen. Wovon diese Malereien sprechen, können wir allein ihrer materiellen Verfassung sowie dem Prozeß ihrer Fertigung ablesen. So wurde zum Beispiel im Bild Ohne Titel (Abb. S. 50) die Farbe spiralenförmig einwärts gespachtelt bis zum Punkt, als es nicht mehr weiter ging. Wir stoßen hier auf eine entfesselte, wahrhaft „befreite“ und gleichwohl gefangene, dumpfe Farbe, die in erster Linie sich selbst, ihre Dichte, ihre warme Klebrigkeit, ihren Geruch artikuliert. „Habe ich sie geträumt, diese ungeheure Gegenwart?“, läßt Sartre Antoine Roquentin fragen. „Sie war da, lag auf diesem Park, war in diese Bäume gepurzelt, ganz wabbelig, alles verschmierend, ganz dickflüssig, eine Konfitüre.“ Und wenn Sartre weiter schreibt : „Es war da, abwartend, das hatte Ähnlichkeit mit einem Blick“, so mag man das für einen Augenblick wörtlich nehmen und auf den Blick hinweisen, der den Betrachter aus der Mitte der unförmigen Farbmasse heraus fixiert (Abb. S. 51). Wer oder was einen hier anblickt, ist nicht auszumachen. Man kann es nur behelfsweise benennen als ein radikal Heterogenes, das einen trifft, und von dem man erblickt ist, bevor man sich seiner gewahr werden kann.

Blendet man an dieser Stelle zur Südamerikareise zurück, dann erkennt man, daß Kocherscheidt dort genau auf solche Phänomene – auf solche Konsistenzen – stieß, wie es seine letzten Malereien selbst sind. Wiederkehrend begegnet man in seinen Reise-Fotografien einer Natur, die nicht allein als ein fremdartiges und unbeherrschbares Gegenüber verstört. Das Verstörende ergibt sich vielmehr daraus, weil die Natur sich hier in ihrer Unförmigkeit zeigt, das heißt als eine, die nicht vom Gestaltlosen zum Gestalthaften sich entwickelt und die deshalb weder Kosmos noch Organismus ist, sondern die sich, ohne Anfang, ohne Plan und ohne Ziel, gähnend öffnet (Abb. S. 52 unten) oder sich wälzt und klumpend erstarrt (Abb. S. 52 oben). Das ist dieses inerte Etwas, von dem Sartre schreibt als dem „wirklichen Geheimnis der Existenz“: Ein Etwas, das beständig eine höhere Absicht suggeriert, die es sogleich wieder negiert. Und zum anderen liegt das Verstörende darin, daß man angesichts dessen zugleich auf sich selbst, auf die eigene Leib-Natur zurückgestoßen wird und es sein mag, daß man selbst nichts weiter ist als ein Loch unter Löchern und ein Klumpen unter Klumpen. Die Konfrontation mit dem Unförmigen der Natur veranlaßte Kocherscheidt, von einer Klärung des äußeren, uns umgebenden Raums, so wie es die Landschaftsmalerei unternahm und wie es noch in seinen frühen Arbeiten anklingt, zu einer Befragung des eigenen Leibes, des inneren Raums der Natur, überzugehen. Im Medium der selbst körperhaften Bilder und Skulpturen überkreuzen sich schließlich, unter der Prämisse des Ungestalten und Rohen, der Leib des Künstlers und der Körper der Natur.

Warum aber ließ die Erfahrung dessen, was Georges Bataille „l’informe“ nennt, Kocherscheidt nicht verstummen, sondern verhalf ihm im Gegenteil zu der ihm eigentümlichen Produktivität? Sartres Romanfigur kehrt nach der Begegnung mit der Kastanienwurzel in ihr Zimmer zurück und schreibt. Die einzige Antwort auf die Unartikuliertheit der Welt, so könnte man Sartres Einsicht verknappen, ist der trotzige Versuch zur Artikulation. Ein Diktum Wolfgang Rihms gibt diesem dialektischen Umschlag eine etwas andere Färbung. Es stammt aus der Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele 1991, die den Titel trägt „Was ’sagt‘ Musik?“ Die Rede beginnt mit der Beschreibung der Musik als ein skandalöses Etwas, „das ist und nicht sich nennen läßt“, und bündelt sich schließlich in folgender Satzkaskade: „Die Musik sagt: Ich bin: Damit ich sein kann: Höre. Damit du hörst: Sprich: Damit du sprichst, bin ich.“ Was Sartres Roquentin an der Namenlosigkeit der Natur erfuhr: daß auf ihre Stummheit nicht mit Schweigen, sondern nur mit Sprechen zu antworten ist, wird bei Rihm zum eigentlichen Daseinsgrund der Kunst: Sie ist, damit wir sprechen. Und, so wäre anzufügen, wir fahren stets fort zu sprechen, weil sich dieses Sein (der Natur bei Sartre, der Kunst bei Rihm) in seiner Kompaktheit und Ungeschiedenheit nicht sagen läßt – weil es sich nicht ganz und nicht auf einmal sagen läßt. Die einzelnen Realisationen, sagt Rihm über seine Kompositionen wie über die Arbeiten seines Freundes Kocherscheidt, sind wie Abtragungen von einem uneinholbaren, blockhaften Ganzen.

Kocherscheidts letzte Arbeiten mit ihrer Folge von Spiralen und Kreisformen und ihrem Insistieren auf der schieren materiellen Präsenz von Farbe und Holz sind sich nicht nur der Unförmigkeit der Existenz, sondern vor allem der Brüchigkeit des Artikulierenkönnens bewußt. Sie minimieren die Distanz der Repräsentation: Sie stellen das Unförmige nicht dar, sondern malen sich in es hinein. Dabei gehen sie bis zur Grenze – bis zur Inkaufnahme dessen, was Kocherscheidt die „Bildentgleisung“ nannte.

Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Punkt Kapitel V
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Kocherscheidt – Sartre – Rihm als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 34.100 KB)