Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst als Druckversion (PDF mit Fn. 11.2 MB)
Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst
in: Grenzen der Karthasis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin/New York 2009, S. 199-230.
Kapitel I: Eine Kunst in ihrer Zeit
Das aristotelische Katharsis-Konzept ist ein ästhetisches Wirkungskonzept. Wie immer man dessen konkretes Funktionieren bestimmt, gemeinsam bleibt den jeweiligen Bestimmungen, daß ein theatrales Geschehen bei seinen Zuschauern affektive Wirkungen auslöst, die als ein wesentliches, vielleicht sogar als das primäre Ziel der dramatischen Aufführung anzusehen sind. In den Diskussionen um die Performance-Kunst der 1960er und 1970er Jahre wurde auf das Katharsis-Konzept vielfältig zurückgegriffen. Es versprach eine Antwort auf die Fragen, die insbesondere diejenigen Performances aufwarfen, die Gewalt und Verletzung einsetzten: Warum trieben sich Künstler/innen an solche physische und psychische Grenzen, und: Warum sollte sich ein/e Betrachter/in ein solches Geschehen anschauen?
Die Schnittmenge zwischen einem theatralen Konzept, das die Reinigung oder Läuterung der Betrachter als künstlerisches Ziel begreift, und der Performance-Kunst lag für viele insbesondere zeitgenössische Interpreten auf der Hand. Denn Performances, die üblicherweise im institutionellen Rahmen der bildenden Kunst angesiedelt waren, trieben die bildende Kunst in Richtung des Theaters. Die Kommunikation zwischen Künstler und Betrachter erfolgte hier nicht durch Objekte, sondern geschah durch den Körper des Performers, und zwar in der unmittelbaren raumzeitlichen Gegenwart. Entscheidender noch war der Umstand, daß es die meisten Performances auf die Erzeugung starker emotionaler Spannungen anlegten – Spannungen im Inneren des Künstlers, zwischen Künstler und Betrachter sowie im Inneren des Betrachters. Obwohl die einzelnen Performances intentional, formal und ideologisch stark divergierten, teilten sie die Absicht, ihre Inhalte auf eine möglichst suggestive und affektorientierte Weise zu vermitteln. Häufig geschah dies im ausdrücklichen Rückgriff auf rituelle Praktiken, wobei der eher vage gebrauchte Begriff des Rituals für ein performatives Verhalten stand, das mit den antithetischen Formeln von Ekstase und Disziplin, Rohem und Stilisiertem, expressiver Naivität und intellektueller Allusion umschrieben werden kann. Dieser Rückgriff auf Ritualität war gegen andere Rituale gerichtet, die durchkreuzt und aufgebrochen werden sollten: gegen Rituale des verdinglichten und durch den Markt korrumpierten Kunstgenusses ebenso wie gegen erstarrte Verhaltensformen des Alltags. Dabei vollzog sich die Performance-Kunst, deren Hochphase in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre fiel, in einer Zeitstimmung, die in Nordamerika und Europa von der Eskalation des Kalten Krieges in der Kubakrise und im Vietnamkrieg, von der Expansion der kapitalistischen Warenwirtschaft, aber auch von den ersten globalen Rezessionen der Nachkriegszeit, vom Vordringen massenmedialer Wirklichkeitsvermittlung bzw. Wirklichkeitserzeugung sowie von verschärften Konflikten zwischen den Generationen und Geschlechtern, in den USA auch zwischen den Ethnien, geprägt war. In die politisch-religiöse Befreiungssehnsucht, die sich in unterschiedlichster Weise manifestierte, integrierte sich, so schien es, auch die Bewegung der Performance-Kunst, wenn sie der entgleisenden Moderne archaisierende Ausdruckskonzepte entgegensetzte und diese mit aktuellen gesellschaftlichen Anliegen verband. Auch sie wurde zu einem Träger der Hoffnung auf Reinigung vom falschen und Eintritt in ein wahreres Leben.
Wenn ich im Folgenden der Frage nachgehe, ob und inwiefern Performances auf Katharsis angelegt waren, sind dazu einige Vorbemerkungen nötig. Der von mir gewählte Weg besteht in der Rekonstruktion der Absichten und kommunikativen Strukturen einiger Performances, die sich im Abstand von inzwischen gut dreißig Jahren als herausragend und prägend erwiesen haben. Damit ist eine methodische Vorentscheidung getroffen, die dem Vorgehen von vornherein Grenzen setzt. Denn die Frage nach der kathartischen Wirkung von Performances könnte auch anders gestellt werden, nämlich indem man sie konsequent historisierte und kontextualisierte. Als Wirkung eines Kunstwerkes hätte dann all dasjenige zu gelten, als was es in seiner Zeit aufgefaßt wurde, ungeachtet der Möglichkeit eines unbewußten oder bewußten misreadings. Die Möglichkeit, daß die Wirkung einer Performance weder ihrer Absicht entsprach noch auch demjenigen, was wir heute als deren kommunikative Struktur rekonstruieren können, war bei Performances stets gegeben. Selbst wenn sie andere Ziele verfolgten, konnten sie als kathartische Rituale aufgefaßt werden – einfach deshalb, weil sie so aufgefaßt werden wollten. Zum einen lag dies an der religiös-politisch-ästhetischen Gemengelage, in welcher die Performance-Kunst sich vollzog. Im kulturellen Kontext der 1960er und 1970er Jahre erzeugte deren Außenseiter-Status, der sich nicht zuletzt darin manifestierte, daß sie sich häufig an halböffentlichen oder privaten Orten vor handverlesener Zuschauerschar vollzogen, ein Gruppengefühl durch Exklusion, ein emphatisches Gefühl des Dabeiseins trotz (oder gerade wegen) der möglichen Drastik der Aktionen. Zum anderen lag es am Ungewohnten, bald Sinndunklen, bald Brutalen des Vorgeführten, das unter den ‚aufgeladenen‘ Rezeptionsbedingungen zu kaum kontrollierbaren Verstehensvollzügen führte. Eine Aktion konnte scheitern, weil der Performer Handlungen oder Symbole einsetzte, die für ihn mit komplexer Bedeutung befrachtet waren, denen jedoch das Potential abging, die Brücke zum Publikum zu schlagen. Umgekehrt konnten Handlungen und Symbole für das Publikum ein anderes Potential haben, als der Performer beabsichtigt hatte, so daß die der Aktion zugeschriebene Bedeutung vor allem jene war, die der Betrachter darauf projizierte. Eine und dieselbe Aktion konnte zudem ganz unterschiedlich als reinigend aufgefaßt werden. Entweder wurde sie als Reinigung von genau den Emotionen verstanden, die von der Performance erzeugt wurden, das heißt als Abreaktion oder aber Abhärtung. Gegensätzlich dazu konnte die produzierte Emotionalität als aufrüttelnde Schockerfahrung erfahren werden, die vom Zustand innerer Leere und Entfremdung befreite. Eine dritte Variante erkannte den Sinn der Performances in der Sensibilisierung für diejenigen Körper- und Seelenzustände, von denen die Performance handelte. Darin spiegelten sich dieselben Lesarten, die auch der Kernsatz der aristotelischen Katharsis-Lehre, die Tragödie erreiche eine Katharsis der Emotionen, erlaubt. Denn auch darunter konnte man dreierlei verstehen: die Reinigung von den Emotionen, die Reinigung durch Emotionen oder aber die Reinigung der Emotionen. Im Unterschied zur intensiven philologischen Bemühung der Aristoteles-Exegese, diese unterschiedlichen Lesarten in ihrer Plausiblität gegeneinander abzuwägen, neigen die Interpreten und Historiographen der Performance-Kunst dazu, sie ineinanderfließen zu lassen, auch wenn sie miteinander unvereinbare Antworten auf die beiden von Performances aufgeworfenen Fragen gaben, warum Künstler/innen sich solchen Grenzzuständen aussetzten, und warum Betrachter/innen ihnen dabei zuschauen sollten. Eine prinzipielle Parteilichkeit ist spürbar, die das Erzeugen starker Emotionen und das Durchkreuzen künstlerischer und gesellschaftlicher Normen in einer Weise begrüßt, welche die genauere Analyse der Absicht-Wirkung-Relation oder der konzeptionellen Struktur der jeweiligen Performance für entbehrlich oder gar kontraproduktiv hält.
Genau dies aber möchte ich hier versuchen, um der undifferenzierten und unscharfen Anwendung des Katharsis-Konzeptes entgegenzuwirken. Man kommt um die hermeneutische Aufgabe nicht herum, zunächst die kommunikativen Strukturen der einzelnen Werke zu untersuchen, bevor von deren Wirksamkeit die Rede sein kann. Unter ‚Katharsis‘ verstehe ich im Folgenden zunächst ausschließlich deren aristotelische Bestimmung, und zwar deshalb, weil sich Aristoteles ebenfalls auf die Wirkung von Kunst bezieht, ja, genauer noch, auf die Wirkung einer theatralen Darbietung, wozu im weitesten Sinne und mit signifikanten Abweichungen, von denen gleich zu sprechen sein wird, auch Performances gezählt werden können. Erst später werde ich kurz auf die Frage eingehen, ob für die Diskussion der Wirksamkeit von Performances statt auf das aristotelische womöglich eher auf das psychoanalytische Katharsis-Konzept zurückgegriffen werden sollte.