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Vom Raum in der Fläche des Modernismus
in: fRaktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde, hrsg. von Anke Hennig, Brigitte Obermayr und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 63), Wien/München 2006, S. 149-178.
Kapitel II: Negation und Affirmation der Faktur: Delaroche und Degas
Gehen wir jedoch zunächst einen Schritt unmittelbar hinter den Modernismus zurück und betrachten ein Gemälde Paul Delaroches, das 1834 zum Sensationserfolg des Pariser Salons wurde (Abb.1). Es zeigt eine Szene aus der blutigen englischen Geschichte der frühen Neuzeit, nämlich die Vorbereitungen zur Hinrichtung der sechzehnjährigen Jane Grey. Der protestantische König Eduard VI. hatte sie als Erbin eingesetzt, um die katholische Maria Tudor vom Thron fernzuhalten. Dieser gelang es als rechtmäßiger Thronerbin jedoch, die jugendliche Usurpatorin Jane Grey nach wenigen Tagen gefangen zu setzen und 1554 enthaupten zu lassen. Was mich an hier an Delaroches Bild interessiert, ist allerdings nicht dessen Ikonographie, sondern die Faktur – oder vielmehr deren Fehlen. Bei diesem Gemälde ist es kaum sinnvoll, von der Bildoberfläche zu sprechen, da sie vollständig geleugnet wird, um die perfekte Durchsicht in den Raum zu ermöglichen, in dem sich die dargestellte Szene ereignet. Mit diesem Gemälde wurde bewusst ein Beispiel gewählt, an dem die Entmaterialisierung des Bildes qua Oberfläche, die für die französische Salonmalerei nach David und lngres kennzeichnend war, auf pointierte Weise gezeigt werden kann. Denn Delaroches Darstellungparadigma war gar nicht die Malerei, sondern das Theater. Was das Bild zeigt, soll nicht die Illusion wecken, Zeuge des Geschehens selbst zu werden. Es eröffnet dagegen den Blick auf eine Bühnensituation, das heißt auf eine theatrale Aufführung des längst vergangenen Geschehens. Das Bild verdeutlicht dies bis in die Einzelheiten, von der Ausrichtung der Personen auf den Bühnenrand bis zum Treppenaufgang, der die Spielstätte rückwärtig erschließt. Die Orientierung am Theater erklärt die Unglaubwürdigkeit dessen, was das Bild uns zeigt. Der Gefängnisraum im Londoner Tower wirkt zu sauber, die Möbel sind zu neu, die Posen zu sprechend und deren Ausrichtung auf den Betrachter zu ausdrücklich. Diese Überpointierung vollzog Delaroche allerdings sehr bewusst. Sie hat die Aufgabe, die theatrale Doppelnatur des Dargestellten – der Dargestellten als Schauspieler, des Handlungsortes als Bühne hervortreten zu lassen. Am rechten unteren Bildrand wird die wahre Natur des Sichtbaren denn auch buchstäblich aufgedeckt Das zurückgeschlagene Tuch legt die Bühnenbretter frei – und ausgerechnet hier, auf diesen Brettern, signierte der Maler sein Bild. Sein und Schein werden in diesem Gemälde folglich in sehr spezifischer, für die Bildkunst allerdings höchst problematischer Weise miteinander vermittelt. Denn Delaroche verlagert diese Vermittlung vom Medium des Bildes ins Medium des Theaters. Entscheidend ist nicht die Doppelnatur des Bildes als materielle Oberfläche und als immaterielle Durchsicht in einen virtuellen Raum, sondern die theatrale Doppelnatur all dessen, was wir in jenem virtuellen Bildraum sehen. Die ästhetische Grenze, als Übergang vom Faktum zur Fiktion, verschiebt sich, metaphorisch gesprochen, von der Bildoberfläche an den Bühnenrand. Insofern ist es konsequent, dass Delaroche seine Signatur nicht auf die Bildoberfläche, sondern auf die Bühnenbretter setzte, und ebenso konsequent, dass ihn beispielsweise die Gebrüder Goncourt nicht als Maler, sondern als „unnachahmlichen metteur en scène“ priesen. Angesichts dessen wundert es nicht, dass das Gemälde keinerlei Faktur aufweist, sondern Delaroches Ehrgeiz darin bestand, nicht einen einzigen seiner Pinselstriche sichtbar werden zu lassen. Da er das Bild auf die Funktion eines transparenten Durchblicks reduzierte, könnte man sein Verfahren jedoch als ikonoklastisch bezeichnen. Denn was sich vollzieht, ist die Auslöschung des Bildes.
Im Rahmen der Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts stellt die Druckgrafik von Edgar Degas ein ebenso extremes, allerdings gegenteiliges Beispiel dar (Abb. 2 und 3). Degas‘ Drucke entstanden 1892 im Rahmen einer Serie von 21 Landschaftsdrucken, die er, wie er später erzählte, in Erinnerung an eine dreiwöchige Fahrt im offenen Tilbury durch das herbstliche Burgund anfertigte. Er habe während dieser Fahrten unbestimmt hinausgeschaut („je regardais vaguement“). Dies habe ihn auf den Gedanken gebracht, Landschaften zu machen. Was sie zeigten, so Degas weiter, sei weniger ein Seelenzustand als vielmehr ein Augenzustand. Aus Degas‘ Worten erschließt sich die Zwischenposition, die das Bild hier einnimmt, und die es von zwei Seiten her lesbar werden lässt. Wir können es von außen her verstehen, als Bild einer Landschaft, und zugleich von innen her, als bildliches Äquivalent eben jenes Augenzustandes, der Degas zu diesen Drucken bewegte. Das Bild befindet sich gewissermaßen genau dazwischen: an der Stelle, wo beides sich berührt. Dieser doppelten Lesbarkeit des Bildes – Degas selbst bezeichnete die Blätter als „imaginäre Landschaften“ – entsprechen die Ambivalenzen der Bildfaktur. Sie verdanken sich einem sowohl additiven wie subtraktiven Verfahren. Degas trägt deckende Farbe auf, um sie teilweise wieder wegzukratzen, und schafft Formen, um sie mit Lösungsmitteln wieder verfließen zu lassen. Dabei lässt er die Grenze verschwimmen, an der die gestalterischen Eingriffe aufhören und die Eigendynamik der verwendeten Medien beginnt. Wie in Paysage de Bourgogne (Abb. 2) sichtbar wird, verwendet Degas manchmal denselben Farbton in unterschiedlicher Farbkonsistenz. Die Pointe dieses Verfahrens liegt darin, einen Bildkontrast allein als Kontrast in der Faktur zu erzielen. Diesen Fakturkontrast sehen wir jedoch zugleich als Kontrast auf der Ebene des Dargestellten, in diesem Beispiel etwa als das Anstoßen von Ackerfurchen an einen schlammgenässten Abhang. Indem Farbfurchen und Ackerfurchen, Terpentinverflüssigung und Schlammfluss ineinander aufgehen, vollzieht sich ein metonymischer Transfer zwischen zwei Zeichensystemen: zwischen dem fakturalen, indexikalischen, das auf den Malprozess zurückverweist, und dem ikonischen, das auf das Dargestellte hinweist. Diese beiden Bildebenen rückt Degas gleichzeitig und gleichgewichtig in den Blick. Wenn ‚Sehen‘ normalerweise bedeutet, ‚etwas als etwas‘ zu sehen, dann dehnen Degas‘ Landschaften dieses ‚als‘ bis zu dem Punkt, wo es als Vorgang sichtbar wird. Sobald dieser Vorgang bewusst inszeniert wird, beginnen sich – und das zeigen diese Landschaften beispielhaft – optische und taktile Empfindungen zu überlagern.
Degas‘ Vorgehen zerstört jene Durchsichtigkeit des Bildes, die Delaroche zu erreichen suchte. Was seine Landschaften offenbar werden lassen, ist der Doppelcharakter eines Bildes, den Maurice Denis 1890, also zeitgleich zur Entstehung dieser Landschaften, in einer berühmt gewordenen Weise formulierte. Man solle nicht vergessen, so Denis, dass ein Bild, bevor es ein Schlachtpferd, eine nackte Frau oder irgendeine Anekdote darstelle, zunächst einmal eine Oberfläche sei, die von Farben in einer bestimmten Anordnung bedeckt werde. Während Delaroche diese Dialektik des Bildes zwischen Sein und Schein von der Malerei auf die Ebene des Dargestellten verlegt, sind bei Degas Sein und Schein Aspekte ein und derselben Oberfläche, wobei es gerade die Brüche in der Bildfaktur sind, an denen das eine ins andere umschlägt. Äußerste Flachheit und ungreifbare Tiefe gehen unmittelbar auseinander hervor – wobei beim Stichwort „Tiefe“ stets auch an die ungreifbare Tiefe jenes vagen Bewusstseinszustandes zu denken ist, den Degas an sich selbst beschrieb. Ob hier die Kunst materialisiert wird oder sich vielmehr Materialität zum ästhetischen Effekt entmaterialisiert – beispielsweise die rohe Natur sich zur Stimmung verklärt -, bleibt unentscheidbar. Der Bildraum erhält eine zeitliche Dimension, die ihn pulsieren – entstehen und wieder schwinden – lässt.
Das Zusammenfallen von Innen und Außen, Fläche und Tiefe setzt das Bild gleichsam unter Druck. Durch das angewandte technische Verfahren wird dieser Druck zugleich zu einem buchstäblichen. Es handelt sich jeweils um Monotypien, also um Einmaldrucke, und somit um ein paradoxes Druckverfahren, das eine entscheidende Motivation der Druckgrafik, mehrere Abzüge herstellen zu können, gerade nicht kennt: Die Monotypie bleibt ebenso ein Original wie ein Leinwandgemälde. Dass Degas diese Bildtechnik wählte, hat also allein ästhetische Gründe. Zum einen nutzte Degas die sich hier eröffnende Möglichkeit, den Gestaltungsprozess im wörtlichen und übertragenen Sinne flüssig, d.h. flexibel und über lange Zeit veränderbar zu halten. Denn bis er ein Papier auf die Kupferplatte drückte, konnte er die Farbe, die sich mit der Platte nicht verband, immer wieder neu verteilen, bearbeiten oder wegputzen. So sind beispielsweise die weißen Stellen in Paysage (Abb. 3) durch Wegwischen entstandene Auslassungen. Zugleich ermöglichte ihm das Monotypie-Verfahren die Entfaltung jenes metonymischen Spiels zwischen Bild und Naturprozessen, das die Bilder so aussehen lässt, als verdankten sie sich weniger der Tätigkeit des Künstlers als vielmehr einer sich selbst vollziehenden Reproduktion, so als habe sich die Natur in ihnen selbst abgedrückt. Von Darstellung in herkömmlichem Sinn, als einer auf dem distanzierten Sehen gründenden Relationierung von Auge, Motiv und Bild, kann hier kaum mehr gesprochen werden. Unter anderem daraus resultiert der entrückte Charakter dieser späten Arbeiten, die etwas zeigen, das weniger von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen als vielmehr aus einer horizontlosen Untiefe aufzutauchen scheint.