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PERSPEKTIVINVERSION
Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation
in: Perspektive und Fiktion, hrsg. von Thomas Hilgers und Gertrud Koch, München 2017, S. 157–177.
V. AUF DEN SCHWELLEN VON ÉTANT DONNÉS
Inwiefern aber ereignet sich nun jene phantasmatische Überblendung von Realität und Fiktion, die ich als einen wesentlichen Effekt von Étant donnés bezeichnete? Und inwiefern hängt diese Überblendung auch hier mit jener Perspektivinversion zusammen, die ich einleitend an Veroneses Gemälde und an Dürers Holzstich herausarbeitete?
Auf einer ersten Ebene erweist sich die anhand von Veroneses Anbetung der Hirten beschriebene Kreuzung der Sehstrahlen, die ins Bild dringen, mit den Lichtstrahlen, die aus dem Bild heraus den Betrachter treffen, als dasjenige, was hier in buchstäblicher Weise geschieht. Wer durch die Gucklöcher blickt, wird getroffen von einem vielfältigen Leuchten und Glänzen: vom hellen Widerschein der – nicht sichtbaren – Lampen auf der Pergamenthaut der Puppe, vom Schimmern der in die Höhe gehaltenen Gaslampe sowie vom flirrenden Glitzern des Wasserfalls im Landschaftshintergrund. Auch dieses Glitzern ist durch Reproduktionen nicht vermittelbar, insbesondere da es am Rande der eigentümlich stillgestellten, wie aus der Zeit gefallenen Szenerie ein irritierendes zeitliches Moment einführt. Duchamp realisierte den Wasserfall als eine Durchlöcherung des Landschaftshintergrundes, die anschließend mit Klebstoff halbtransparent zugedeckt wurde. Das Glitzern selbst wird hervorgerufen durch eine hinter der Landschaftsdurchlöcherung in einer blechernen Dose eingeschlossene Glühbirne, vor der eine perforierte Metallscheibe langsam rotiert. Auf diese Weise werden in unregelmäßiger Abfolge wandernde Leuchtpunkte rückwärtig auf die Klebstoffkaskade projiziert.
Wie die Aufnahme der – für den Betrachter so nie einsehbaren – Gehäusekonstruktion von Étant donnés zeigt, trägt dieses Gehäuse Züge eines umgekehrten fotografischen Dispositivs. Wenn wir die Arbeit nicht vom Betrachter, sondern vom Raum des Dioramas her denken, dann ähnelt die Art und Weise, wie das im Diorama leuchtende Licht durch die Türlöcher in den halbdunklen Vorraum fällt, der Funktionsweise einer Camera obscura, wobei sich das vom Diorama her durch die Türöffnungen dringende Licht nicht wie bei einer Camera obscura auf der gegenüberliegenden Wand niederschlägt, sondern auf dem Gesicht des vor der Holztüre stehenden Betrachters. Wie um diese (prä)fotografischen Assonanzen zu bestätigen, befindet sich zwischen der durchbrochenen Backsteinmauer und der Holztüre eine dunkel verhangene Passage, die an den Balg historischer Kameras erinnert als jene Passage, die das Licht durchqueren muss, wenn es von der Objektlinse zur fotografischen Platte gelangen will.
Das Moment der zu durchmessenden Passage, der überschrittenen Schwelle und des sich öffnenden Intervalls findet sich aber nicht nur in diesem mit schwarzem Samt verhangenen Zwischenraum, sondern es handelt sich dabei um ein grundlegendes und durchgehendes Strukturelement der Installation. Das Sehen wird in Étant donnés als mehrfaches Überschreiten von Grenzen, als eine Hintereinanderstaffelung von Durchlöcherungen und Durchquerungen inszeniert. So führt die erste Passage vom riesigen und hellen Museumsraum, in dem das Große Glas steht, in den niedrigen, zwielichtigen und leeren Raum vor der Holztüre, die zweite Passage ereignet sich beim Blick durch die Gucklöcher, die dritte verläuft durch die verhangene Dunkelkammer, bei der vierten durchqueren wir die Backsteinmauer, die fünfte Passage ist die Vulva der liegenden Frau als Öffnung ins Innere ihres Körpers, die sechste schließlich ist der Wasserfall, der aus einer Höhle in der Hangkante des Landschaftshintergrundes hervorquillt.
Bei dieser letzten und hintersten Passage, dem hervorquellenden Wasserfall, erfolgt nun aber eine entscheidende Richtungsumkehr. Denn das Wasser bricht von hinten, von einem unsichtbaren Jenseits des Dioramas, durch die Landschaft hindurch und ergießt sich zu uns hin in einen See; und das Glitzern des Wasserfalls dringt in umgekehrter Richtung zum Betrachterblick durch all jene Intervalle, die dieser Betrachterblick soeben durchmaß: durch die Backsteinmauer, die verhangene Zwischenzone und die Löcher in der Holztüre, bis er auf das Auge des Betrachters trifft – eines Betrachters, der schließlich selbst umkehren und die Sackgasse des leeren Raums auf jenem Weg, den er gekommen ist, wieder verlassen wird. Die verschiedenen Öffnungen und Durchgänge sind strukturell homolog, indem es sich jeweils um Passagen in beiderlei Richtungen handelt und sie sich sämtlich als Orte eines osmotischen Austauschs erweisen. Zugleich verbinden sie sich aufgrund formaler Ähnlichkeiten, die bei der Öffnung in der Backsteinmauer, der Vulva der Frau und dem Wasserfall besonders auffällig sind. Genauso bedeutsam ist die strukturelle und zugleich atmosphärische Ähnlichkeit zwischen dem Eintritt in den halbdunklen Vorraum von Étant donnésund dem Blick in das dunkle Intervall zwischen der Holztüre und der Backsteinmauer. Im Zuge dieser hintereinandergestaffelten Transgressionen gleiten wir allmählich von der Seite der Realität auf die Seite der Fiktion hinüber, ohne allerdings angeben zu können, wo genau die Grenze zwischen beidem verläuft. Es ist ebenso plausibel, diese Grenze gleich am Anfang, am Türdurchgang zwischen dem hellen Raum des Großen Glasesund dem Halbdunkel des Vorraums von Étant donnés, zu situieren, wie sie in jener Backsteinmauer zu erkennen, hinter der sich der Ausblick auf die Landschaft und die nackte Frau öffnet, oder aber sie ganz am räumlichen Ende der Installation zu verorten, im Wasserfall, dessen optisch-mechanisch illudiertes Glitzern inmitten der stillgestellten Zeit zum vielleicht irrealsten Moment des gesamten Dioramas wird.