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Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Edgar Degas’ Werkprozess
in: Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis. Gottfried Boehm zum 60. Geburtstag, hrsg. von Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt und Gundolf Winter, Berlin 2005, S. 35-51.
„Wie viele neue Dinge ich gesehen habe, welche Pläne das in meinen Kopf gesetzt hat! Und doch gebe sie schon wieder auf, ich will nichts weiter als meinen Winkel, in dem ich liebevoll graben kann. Die Kunst weitet sich nicht aus, sie wiederholt und verdichtet sich. Und wenn Sie um jeden Preis Vergleiche mögen, so werde ich Ihnen sagen, dass man, um gute Früchte hervorzubringen, sich am Spalier aufbinden muss. Da bleibt man sein ganzes Leben, die Arme ausgebreitet, den Mund offen, um mit dem zu verschmelzen, was vorüberkommt, was einen umgibt, um davon zu leben.“ (Degas an Lorenz Frölich, 27. November 1872)
„Nicht im Salon enden, das Leben anderswo verbringen – in der Küche.“ (Degas an Paul Bartholomé, 9. September 1882)
Kapitel I: Einleitung
Was heißt es, sich in Degas‘ Œuvre zu orientieren, das mit über 1500 Gemälden und Pastellen, mehreren tausend Zeichnungen, einem reichen druckgrafischen Werk und hunderten von Skulpturen schon in seinem Umfang kolossal ist? Was heißt es, sich in seinem Denken zu orientieren, das bestimmten Ideen und Absichten jahrzehntelang treu blieb, selbst über die verschiedenen Perioden hinweg, in die man das Werk rückblickend einzuteilen versucht? Welche Motive werden erkennbar, wenn man unter Motiv nicht nur den gegenständlichen Vorwurf der Bilder versteht, sondern zugleich die Motivation, dieselben Sujets immer wieder aufzugreifen? Mit dem schlichten Wunsch, sich künstlerisch mitzuteilen, ist Degas’ Œuvre kaum zu erklären. Über ein halbes Jahrhundert künstlerisch produktiv, erscheint die Zeitspanne von 1865 bis 1886, in der er seine Werke öffentlich präsentiert, beinahe wie eine Anomalie, nach der er sich, ebenso menschenscheu wie unbekümmert um öffentliche Anerkennung, wieder in die Privatheit seines Ateliers zurückzieht. Besonders das Spätwerk verdeutlicht, dass der Rahmen des Visuellen überschritten wird. Denn an beiden Enden der Kommunikationskette steht eine Form von Unsichtbarkeit: auf der einen Seite die Verborgenheit der Werke, auf der anderen Seite die zunehmende Erblindung des Künstlers. Letztere beendet seine Arbeit indessen keineswegs, sondern akzentuiert sie lediglich um. Sie hält ihn nicht einmal davon ab, Ausstellungen zu besuchen, wie der bewegende Bericht über den fast 80jährigen Degas belegt, der täglich die Retrospektive des verehrten Ingres besucht, um die Bilder abzutasten, die er kaum mehr sehen kann. Degas’ Werk handelt von mehr als dem Sehen, so wie jene „Folge von Operationen“, als die er das Kunstwerk definiert, auf etwas zielt, was die Form übersteigt. Um sich diesem Mehr und Anderem zu nähern, müssen die Prozesse der Bildentstehung ins Auge gefasst, das Gemachte aus dem Blickwinkel des Machens betrachtet werden, bis zu dem Punkt, insbesondere das Spätwerk als ein einziges work in progress zu begreifen.