Duchamp Perspektive Étant donnés Inframince

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PERSPEKTIVINVERSION

Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation

in: Perspektive und Fiktion, hrsg. von Thomas Hilgers und Gertrud Koch, München 2017, S. 157–177.

III. ÄSTHETISCHE OSMOSE UND INFRAMINCE

Eine topologische Inszenierung des mediumistischen ‚Dazwischen‘ des Bildes ist aber auch – wenn auch ganz anders realisiert – die installationsartige Arbeit Étant donnés. Es ist jene Arbeit Duchamps, die er über die letzten zwanzig Jahre seines Lebens konzipierte und realisierte, als künstlerisches Vermächtnis, das erst posthum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden durfte, und zugleich als Summa seiner lebenslangen Reflexion über den Status des Kunstwerks, über die dynamischen Prozesse zwischen Betrachter und Kunstwerk sowie über die Eigenart des Sehens.

Bevor ich mich dieser Arbeit als solcher zuwende, seien hinführend zwei Konzepte genannt, die für Duchamps Auffassung vom Kunstwerk wichtig sind. Im vielleicht programmatischsten Text, den Duchamp verfasste – dem Vortrag „Der kreative Akt“, den er 1957, inmitten der Arbeit an Étant donnés, hielt –, spricht er von einer „ästhetischen Osmose“, die sich zwischen Künstler und Betrachter durch das Medium des Kunstwerks hindurch ereigne. Im Zuge dieser Osmose erfahre der Betrachter eine Verwandlung von inerter Materie in ein Kunstwerk. Duchamp benutzt für diese Verwandlung den alchemistischen Begriff der „Transmutation“ sowie, parallel dazu, den christologischen Begriff der „Transsubstantiation“. Wie Duchamps Ausführungen verdeutlichen, verwandelt sich in der Kunsterfahrung qua ästhetischer Osmose beides, sowohl das materielle Ding, das vor Augen liegt, als auch der Betrachter. Die inerte, passive Materie aktiviert sich zum Kunstwerk, das als solches auf den Betrachter zurückwirkt und auch diesen verwandelt.

Ein weiterer Begriff Duchamps erlaubt es, seine Auffassung der Medialität des Kunstwerks als jenes ‚Zwischen‘, das den Betrachter und das Sichtbarwerdende zugleich trennt und verbindet, genauer zu erfassen. Es ist der seit der Mitte der 1930er-Jahre entwickelte Begriff des inframince – ein unübersetzbarer Begriff, einzudeutschen etwa als das ‚Ultradünne‘ oder das ‚Dünner als Dünne‘; wörtlich meint er das ‚Unterhalb des Dünnen‘. In den zahlreichen Notaten zu diesem Begriff, die erst posthum veröffentlicht wurden, definiert ihn Duchamp nie, sondern gibt dafür lediglich Beispiele. Diese kreisen jeweils um etwas, das im Kontakt zwischen zwei Dingen entsteht und doch ungreifbar bleibt. Das einzige zu Lebzeiten Duchamps publik gemachte Beispiel wurde auf dem rückwärtigen Umschlag einer 1945 erschienenen Ausgabe der Zeitschrift View abgedruckt. Hier ist – in deutscher Übersetzung – zu lesen: „Wenn der Tabakrauch auch nach dem Mund riecht, der ihn ausatmet, vermählen sich die beiden Gerüche durch inframince“. Eine andere Notiz lautet: „Die Wärme eines Stuhls (der soeben frei wurde) ist inframince“, und eine weitere bezeichnet die Reibung zweier Samthosenbeine beim Gehen als „Inframince-Separation“, die durch das entstehende Geräusch angezeigt werde. Inframince, so darf man vorsichtig verallgemeinern, ist ein paradoxales Zugleich von Vermischung und Scheidung: eine Trennung, die erst im Kontakt entsteht. Der Begriff des inframince ist nicht überraschend mit demjenigen eng verwandt, was Duchamp im Vortrag „Der kreative Akt“ als „ästhetische Osmose“ zwischen Künstler und Betrachter bezeichnet. Gerade im Hinblick auf Étantdonnés mit seiner das Werk und dessen Erfahrung dominierenden, den Blick verstellenden und doch durchlassenden Holztüre ist überdies die Nähe signifikant, die das inframince zu den Phänomenen von Schwellen, Passagen und Intervallen unterhält. So heißt es in einer weiteren Note, der Begriff der „séparation inframince“ sei besser als derjenige der ‚Trennwand‘, da er ebenso sehr ‚Intervall‘ meine wie ‚Trennung‘.

Kapitel I: Perspektivität und Fiktion in der klassischen Repräsentation
Kapitel II: Duchamps Transformationen
Punkt Duchamp Kapitel III: Ästhetische Osmose und Inframince
Duchamp Kapitel IV: Ein vierfaches Explizitwerden des Sehens
Kapitel V: Auf den Schwellen von Étant donnés
Kapitel VI: Das Bild als Gemälde, als Glas und als Inframince
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