Duchamp Passage Schwelle Étant donnés

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PERSPEKTIVINVERSION

Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation

in: Perspektive und Fiktion, hrsg. von Thomas Hilgers und Gertrud Koch, München 2017, S. 157–177.

IV. EIN VIERFACHES EXPLIZITWERDEN DES SEHENS

Étant donnésscheint mir die werkgewordene Materialisierung des soeben umrissenen Denkfeldes von inframince und ästhetischer Osmose zu sein. Es ist die Realisierung eines Artefaktes als Schwelle, Passage und Intervall, das die beiden Seiten – den Betrachter und das Gesehene – ebenso separiert wie sich berühren lässt, wobei im Zusammenspiel beider Seiten ein ungreifbares, ultradünnes ‚Bild‘ entsteht.

Im Grunde wiederholt die Anlage von Étant donnés diejenige von Dürers Perspektivgrafik – allerdings mit einigen signifikanten Abweichungen. Der Betrachter nimmt die Stelle des Zeichners ein, und die durch den trennenden Schirm hindurch gesehene Welt ist nicht die Wirklichkeit, sondern ein aufwendig gestaltetes Artefakt. Des Weiteren wird Dürers Szenario in eine Ästhetik überführt, die durch den Illusionismus der Wachsfigurenkabinette ebenso hindurchging wie durch die Erfahrung der Fotografie; und insbesondere auf Letzteres, den Fotografiebezug, wird noch genauer einzugehen sein.

Wenn ich mich nun der konkreten Realisierung von Étantdonnés zuwende, muss allerdings einschränkend betont werden, dass dieses Werk sich der Reproduzierbarkeit fast vollständig entzieht. Die Erfahrungen, die in der Begegnung mit diesem Artefakt zu machen sind, lassen sich in keiner Weise an Abbildungen, sondern nur an Ort und Stelle machen. Dies gilt ganz besonders für den hier herauszuarbeitenden Effekt, Wirklichkeit und Fiktion in phantasmatischer Weise zu überblenden und sie dabei in ein Verhältnis der „Inframince-Separation“zu bringen. Um mein Argument dennoch zu plausibilisieren, behelfe ich mir mit einem durchaus problematischen Mittel: Ich greife auf Fotografien zurück, die Ansichten von Étantdonnés zeigen, die dem Museumsbesucher verborgen sind; teilweise handelt es sich um Fotografien, die Duchamp selbst anfertigte, die er aber nicht zur Veröffentlichung bestimmte, sondern für einen detaillierten Leitfaden anfertigte, der es ermöglichen sollte, die überaus komplex konstruierte Arbeit nach seinem Tod in seinem New Yorker Atelier abzubauen und im Philadelphia Museum of Art korrekt wieder zu installieren.

Spätestens 1954 wählte Duchamp den zukünftigen Museumsraum für seine Installation aus. Es ist der letzte im langen nördlichen Seitenflügel des Philadelphia Museum of Art, und man gelangt in den kleinen, halbdunklen Raum von der hellen und hohen Halle aus, in welcher Duchamps Großes Glas installiert ist. Beim Einbau von Étantdonnés in der ersten Jahreshälfte 1969 wurde der Raum durch eine grob verputzte Mauer in zwei gleich große Teilräume unterteilt, wobei diese Mauer im Zusammenspiel mit der verwitterten, von einem Backsteinrahmen gefassten Holztüre dem Betrachter suggeriert, er stünde auf einmal nicht mehr im Inneren des Museums, sondern vor einer Außenwand. Die vordere Raumhälfte, die der Betrachter betritt, ist vollständig leer, lediglich ein Sisalteppich bedeckt den gesamten Boden. In der hinteren Raumhälfte hingegen, die von der eingezogenen Mauer vollständig abgeschlossen wird, ist ein hell beleuchtetes Diorama aufgebaut, in dem hinter einer durchbrochenen Backsteinmauer eine nackte Frau in einem Landschaftszusammenhang liegt und von dem der Betrachter nur genau den Ausschnitt zu sehen bekommt, den zwei auf Augenhöhe vorhandene Löcher in der Holztüre gewähren. Während der leere vordere Raum von Étant donnés kein eigenes Licht aufweist und daher in eigentümlichem Zwielicht liegt, ist das Diorama von unterschiedlichen Lampen sorgfältig ausgeleuchtet wie von hellem, aber sanftem Sonnenlicht. Diese Helligkeit dringt durch die beiden Türlöcher wie ein Versprechen, das man vernimmt, sobald man sich der Tür nähert.

Die Installation erweist sich als eine Art Gehäuse, in welchem der Augenblick des Sehens als ein expliziter Akt erfahrbar wird. Genau genommen wird der Akt des Sehens in mindestens vierfacher Hinsicht explizit. Auffällig wird erstens dessen Körpergebundenheit, da man sich an eine ganz bestimmte Stelle bewegen und sich genau positionieren muss, um überhaupt etwas sehen zu können. Zweitens zeigt er sich in seiner optischen Dimension, weil die Topologie von Étantdonnés das Sehen als perspektivisch gerichtetes Sehen, aber auch als ein Konnex von Sehen und Licht inszeniert. Die dritte Dimension ist die kognitive – und bedarf einer etwas ausführlicheren Explikation: Die kleinen Gucklöcher gestatten aufgrund der eingeschränkten und festgezurrten Perspektive keine befriedigende Übersicht über das dargebotene Sehfeld. Oder mit dem zu Beginn eingeführten Begriff der perspicuitas formuliert: Indem die ‚Durchsicht‘ durch die Türlöcher auf die dahinter befindliche Szenerie dergestalt eingeschränkt und fixiert ist, unterläuft sie die perspicuitas im Sinne der ‚Deutlichkeit‘ und der ‚Durchdringung‘ des Wahrgenommenen. Was wir sehen – oder zu sehen meinen –, zeigt sich als irreduzibles Zusammenspiel von Wahrnehmung und konstruierender Vorstellung. Die kognitive Dimension des Sehens wird zudem in einer ganz basalen Art und Weise explizit: Da jedes Auge nur einzeln durch das jeweilige Türloch schauen kann, ist der einzige Modus, das Diorama zu erblicken, derjenige zweier distinkter Einzelbilder. Wir können nun – und das gehört zu den überraschendsten Erfahrungen von Étantdonnés – sozusagen unserem Hirn zusehen, wie es diese beiden Bilder zu einem plastisch-dreidimensionalen Bild synthetisiert. Doch da die Gucklöcher jede seitliche Verschiebung unserer Blickperspektive verhindern, werden wir trotz dieser Synthese zweier leicht voneinander unterschiedener Einzelbilder der tatsächlichen Tiefe des Dioramas nie wirklich habhaft; beispielsweise lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, in welchem Abstand die Gaslampe und der Landschaftshintergrund sich befinden oder in welcher Relation die durchbrochene Backsteinmauer zum Reisigfeld steht, in welchem die Frau liegt. Obschon wir in einen tatsächlich gebauten Raum blicken, ähnelt der Blick durch die Türlocher dem Blick in ein Stereoskop, also in einen jener kleinen Apparate, die durch zwei in ihrer Aufnahmeperspektive des Gegenstands geringfügig abweichende Fotografien den Eindruck einer Tiefe erzeugen, die physikalisch nicht vorhanden ist. Während jedoch ein Stereoskop anhand zweier Bilder eine physikalisch nicht vorhandene Tiefe vortäuscht, erzeugt Étantdonnésanhand zweier Blickperspektiven in einen tatsächlichen Raum einen Seheindruck, in welchem das Sichtbare unentscheidbar zwischen realer und bloß illudierter Tiefe schillert. Gerade diese phantasmatische (Un)Tiefe des Sehfeldes, die das Gesehene zwischen zweidimensionalem Bild und dreidimensionalem Raum oszillieren lässt, prägt die Erfahrung von Étant donnés entscheidend – doch gerade dies lässt sich an Abbildungen nicht einmal ansatzweise nachvollziehen. Duchamp verstärkte diese (Un)Tiefe dadurch weiter, dass der Betrachter dazu neigt, den Landschaftshintergrund als parallel zur Türe und zu der Backsteinmauer verlaufend anzunehmen, obschon er doch tatsächlich schräg verläuft, wie an Duchamps Faltmodell der Installation ablesbar ist. Und schließlich, als erzeugten die drei bislang benannten Aspekte des Sehaktes, die hier explizit werden – die somatisch-performative, die optische und die kognitive –, noch nicht genug an Komplexität, wird das Sehen hier auch in seiner Begehrensdimension thematisch: als ein Sehenwollen, dem ein nicht – oder zumindest nicht ganz – Sehenkönnen antwortet. Denn in irritierender Weise bleiben wesentliche Teile des hinter der Türe und der Backsteinmauer Befindlichen dem Blick entzogen, insbesondere der Kopf der Frau, von dem lediglich ein paar Strähnen ihres blonden Haares zu sehen sind. Dieses begehrende Sehen schlägt überdies von einem einsamen Voyeurismus in Ungemach um, sobald eine weitere Person den Raum betritt, wodurch wir selbst zu Objekten für einen anderen Blick werden, der uns von hinten beobachtet, wie wir durch die Türlöcher starren.

Kapitel I: Perspektivität und Fiktion in der klassischen Repräsentation
Kapitel II: Duchamps Transformationen
Kapitel III: Ästhetische Osmose und Inframince
Punkt Duchamp Kapitel IV: Ein vierfaches Explizitwerden des Sehens
Duchamp Kapitel V: Auf den Schwellen von Étant donnés
Kapitel VI: Das Bild als Gemälde, als Glas und als Inframince
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