Duchamp Malerei Geist Perspektive Glas

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PERSPEKTIVINVERSION

Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation

in: Perspektive und Fiktion, hrsg. von Thomas Hilgers und Gertrud Koch, München 2017, S. 157–177.

II. DUCHAMPS TRANSFORMATIONEN

An eine solche Auffassung des Bildes als dreistellige Relation von sehendem Subjekt, sich zeigendem Objekt und einem medialen ‚Dazwischen‘ schließt Marcel Duchamp an – freilich unter den gewandelten künstlerischen und technischen Bedingungen seiner Zeit. „Je voulais remettre la peinture au service de l’esprit“– „Ich wollte die Malerei wieder in den Dienst des Geistes stellen“, so lautet die berühmte Selbstbeschreibung Duchamps. Es ist dabei nicht zufällig, dass er diese Mission als Gegensatz zu dem beschreibt, was seiner Ansicht nach mit der Malerei seit dem 19. Jahrhundert, insbesondere seit Courbet und den Impressionisten, geschah. Duchamp erkannte darin einen verhängnisvollen Zug zur ‚Physikalisierung‘ des Bildes und des Sehens, die dazu geführt habe, dass die Malerei nun ausschließlich auf die Erregung sinnlich-visueller Reize zielte. Für Duchamp obsiegte, so könnte man seinen Einspruch paraphrasieren, der Gegenbegriff der perspicuitas, nämlich obscuritas, und diese ‚Dunkelheit‘ obsiegte genau in jener doppelten Bedeutung, die auch den Begriff der perspicuitas prägt: einerseits indem sich die Durchsichtigkeit des Bildes immer mehr trübte, von der impressionistischen ‚Flecken‘ bis zum Extremfall der monochromen, tiefenlosen Farbwand, andererseits indem die Malerei die Ambition aufgab, nicht nur die Sinne, sondern den Geist zu beleben – jener „discorso mentale“zu sein, den Leonardo da Vinci in der Malerei erkannte. Ob Duchamps Diagnose zutrifft – sie trifft wohl eher nicht zu –, braucht uns an dieser Stelle nicht weiter zu kümmern. Entscheidend ist, dass sie Duchamps lebenslanges künstlerisches Wollen befeuerte, das in seinen einzelnen Realisaten eigentümliche Verzweigungen und scharfe Brüche kennt und dennoch im Rückblick auf konzeptueller Ebene geschlossen wirkt.

Um dem selbst gesteckten Ziel zuzuarbeiten, griff er in seinen Hauptwerken jene topologische Bildordnung auf, die ich mithilfe des Veronese-Gemäldes und darauf aufbauend anhand der Dürer-Grafik umriss. So ist beim Großen Glas das Bild tatsächlich ein in den Raum gestellter ‚Bildschirm‘, in welchem sich die Dinge wie auch die Blicke zu verfangen scheinen und das wie Dürers Gitterrahmen keine eindeutige Vorder- und Rückseite aufweist. Durch die heterogene Gestaltung der auf dem Glas sichtbar werdenden Elemente wird ungewiss, wofür jene Glasscheibe eigentlich steht. Denn was sich auf dieser Scheibe abzeichnet, gleicht einmal mehr einem zur Flächigkeit tendierenden Querschnitt durch ein Objekt, in anderen Fällen wiederum handelt es sich um plastisch-perspektivische Darstellungen dreidimensionaler Dinge, sodass die Glasscheibe bald eher in die Dinge zu schneiden, bald eher vor oder hinter den Dingen zu liegen scheint. Indem wir auf diese Weise keiner räumlich kohärenten Szenerie begegnen, dementiert das Große Glas die alte, von Leon Battista Alberti in die Metapher des „geöffneten Fensters“ gekleidete Auffassung, das Bild sei als Ausblick in einen fiktiven Raum zu verstehen, wobei es zu den Pointen des Großen Glases gehört, dieses Dementi in Gestalt eines transparenten Durchblicks zu präsentieren. Was sich auf dem Großen Glasdarbietet, gleicht in seiner Mischung aus anschaulicher Darstellung und nur kognitiv zu erfassender Zeichenkonstellation eher einem Diagramm. Es ist das Diagramm eines ‚undarstellbaren‘, da in wesentlichen Aspekten ‚unsichtbaren‘ transformativen Geschehens: der durch das Begehren zwischen Mann und Frau initiierten psycho-physischen Interaktion – womit sich das Große Glas nicht nur in seiner Eigenart als im Raum stehendes ‚Dazwischen‘, sondern auch hinsichtlich seines Sujets nicht allzu weit von Dürer entfernt.

Kapitel I: Perspektivität und Fiktion in der klassischen Repräsentation
Punkt Duchamp Kapitel II: Duchamps Transformationen
Duchamp Kapitel III: Ästhetische Osmose und Inframince
Kapitel IV: Ein vierfaches Explizitwerden des Sehens
Kapitel V: Auf den Schwellen von Étant donnés
Kapitel VI: Das Bild als Gemälde, als Glas und als Inframince
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