Perspektivinversion als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 9.700 KB)
PERSPEKTIVINVERSION
Über das Sehen von Duchamps Étant donnés. Mit Vorbemerkungen zur perspicuitas in der klassischen Repräsentation
in: Perspektive und Fiktion, hrsg. von Thomas Hilgers und Gertrud Koch, München 2017, S. 157–177.
VI. DAS BILD ALS GEMÄLDE, ALS GLAS UND ALS INFRAMINCE
Um die Sphären des ‚Davor‘ und des ‚Dahinter‘ des Bildes sowie die Sphären des Betrachters und des Kunstwerks in ein osmotisches Austauschverhältnis zu bringen, gab Duchamp um 1913 die Malerei auf und begann die Arbeit am Großen Glas. Während aber das Große Glas trotz allem noch auf einem materiellen Träger basiert – sei dieser auch im Unterschied zu einem Gemälde transparent und sei dieses auch, erneut im Gegensatz zu einem herkömmlichen Bild, inmitten des Raums aufgestellt –, verzichtet Étant donnés nun gänzlich auf ein solches materielles ‚Dazwischen‘. Hier gibt es nur noch ein buchstäbliches Nichts, das die Seiten des ‚Davor‘ und ‚Dahinter‘ trennt: nur noch die Luft in den beiden Löchern der Holztüre. Und während das Große Glas eine antinaturalistische, einem Diagramm angenäherte Abstraktion entwirft, um das Bild von einer herkömmlichen Mimesis und von der Malerei als Sinnenreiz abzulösen, um daraus jenes Andere zu machen, was man mit Leonardo als ‚Discorso mentale‘ bezeichnen kann, schockiert Étant donnés den Betrachter mit dem krassen Naturalismus von Wachsfigurenkabinetten und naturhistorischen Dioramen. Damit maximalisiert Duchamp die Spannung zwischen der Schaustellung tatsächlicher Dinge und der Evokation einer der Wirklichkeit gänzlich entrückten Fiktion. Auf der einen Seite folgt Étant donnés einer Ästhetik des raumzeitlich Aktualen, der Präsenz von Körpern und Materialien sowie der situativen Einbindung des Betrachters. Damit konkurriert jedoch die gegenläufige Strategie, gerade kein Hier und Jetzt zu evozieren, sondern eine räumlich und zeitlich abgeschiedene Welt, einen U-Topos, der sich aus dem Kontext des Museums, in dem er sich befindet, radikal aussondert. Aus diesen beiden heterogenen, ja gegenläufigen Komponenten speist sich jenes ‚Bild‘, das wir beim Blick durch die beiden Löcher sehen und das gänzlich immateriell bleibt, weil es sozusagen im Nichts jener Löcher hängt, in dem sich das Sehen des Betrachters und die Erscheinung des Dioramas kreuzen. Es ist ein ‚Bild‘, das Duchamps Raumkonstruktion zwar hervorbringt, das er aber in einem strengen Sinne nicht geschaffen hat, da es erst in der Erfahrung des Betrachters entsteht: im Zusammenspiel zwischen dem topologischen Dispositiv der Installation mit seiner genau kalkulierten und fixierten Perspektive, in die es den Betrachter zwingt, und der kognitiven Verarbeitung dessen, was sich dem Betrachter unter diesen Bedingungen zeigt. In diesem ‚Bild‘ kippen Realität und Fiktion permanent ineinander um, voneinander geschieden durch eine Inframince-Trennung, einer dünner als dünnen Differenz.