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Relationale Ästhetik. Über den ‚Fleck‘ bei Cézanne und Lacan
in: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265-288.
„Die Natur lesen heißt, sie unter dem Schleier der Interpretation durch farbige Flecken sehen, die nach einem Harmoniegesetz aufeinander folgen.“ (Paul Cézanne)
Kapitel I: Zwei Formen des Relationalen
Wir werden nie genau wissen, worin Cézannes Ziel bestand, von dem er noch wenige Wochen vor seinem Tod in einem Brief an Emile Bernard sprach:
„Werde ich das so sehr gesuchte und so lange verfolgte Ziel erreichen? Ich wünsche es, aber so lange es nicht erreicht ist, bleibt ein gewisser Zustand von Unbehagen bestehen, der erst verschwinden wird, wenn ich den Hafen erreicht haben werde, das heißt, wenn ich etwas realisiert haben werde, das sich besser als bisher entwickelt.“
War es die „Harmonie parallel zur Natur“, die seine Gemälde zeigen sollten, oder die „Organisation der Empfindungen“ angesichts der studierten Natur? Worauf richtete er seinen Blick, wenn er, einmal mehr, seinen Malerplatz eingenommen hatte, und was sah er dort, das er in Malerei zu übertragen versuchte? Manches deutet darauf hin, dass es sich hierbei nicht um eines der genannten Ziele handelte, sondern um ein schwer zu fassendes Dazwischen, das auf keinen seiner Pole rückführbar ist.
Eine erste Vorstellung davon geben die Begriffe, die Cézanne vorzugsweise benutzte, wenn er sein malerisches Verfahren beschrieb. Da ist zunächst das ‚Motiv‘, mit dem er nicht nur den gegenständlichen Vorwurf des Bildes meinte, sondern ebenfalls die Motivation für seine unermüdliche Arbeit des Beobachtens und Malens. In Anbetracht seines beinahe schon seriellen Vorgehens, das ihn seine Sujets immer wieder aufgreifen ließ, sowie mit einem Seitenblick auf die musikalische Terminologie gewinnt der Begriff des Motivs zudem die weitere Bedeutung eines rhythmisch-melodischen Kerns, den er in seinen jeweiligen Bilderfolgen künstlerisch ausarbeitete. Aller sur le motif, wie er seinen Gang zur Arbeit nannte, bedeutete demnach, in eine Beziehung zu einem äußeren Objekt zu treten, das einen innerlich bewegt und das es bildnerisch auszuarbeiten gilt. Das Sichtbare war ihm Darstellungsgegenstand und Inspirationsquelle, Modell und Muse zugleich. Heteronome und autonome Vorstellungen künstlerischer Kreativität verschränken sich, indem diese als zugleich innen- und außengeleitet erscheint, motiviert durch etwas, was man mit Lacan eine „intime Exteriorität“ nennen könnte.
Sensation (‚Empfindung‘), ein weiterer Schlüsselbegriff in Cézannes Vokabular, entfaltet eine vergleichbare Komplexität. Zunächst meint er die visuelle Wahrnehmung im Sinne der ‚Impression‘, also ein vom Objekt ausgehender optischer Sinnesreiz. Zugleich umfasst er die Emotion als psychische Reaktion auf das Wahrgenommene. Ausdrücklich stellte Cézanne nicht das darzustellende Objekt, sondern die sensation in den Mittelpunkt seiner malerischen Bemühungen: „Nach der Natur malen bedeutet nicht den Gegenstand kopieren, es bedeutet seine Empfindungen realisieren.“ Damit formulierte er eine Beziehung zur Welt, die, um eine Wendung Maurice Merleau-Pontys aufzunehmen, „gleichzeitig Ergreifen und Ergriffenwerden“ war. Das Medium, das zwischen den Dingen und den Empfindungen vermittelte, war die Farbe, wobei Cézanne offen lässt, wie weit sie den Dingen entspringt oder aber eine Abstraktion seines Sehen ist.
Mit dem dritten Zentralbegriff schließlich, réalisation, bezeichnete Cézanne die eigentliche malerische Aktivität, jenes Tun also, vor dessen Scheitern er sich bis zuletzt fürchtete, wie der eingangs zitierte Brief bezeugt. Zu ‚realisieren‘ galt es mehreres im selben Zuge: zunächst das Motiv in seiner unendlichen Vielfalt, des weiteren die Empfindungen, welche das Motiv in ihm auslöste, und schließlich das Gemälde selbst, dessen dingliches Realwerden die anderen ‚Realisierungen‘ allererst ans Licht bringen konnte. ‚Malen‘ hieß demnach, jene gegenläufigen Bewegungen des Aufnehmens und Abgebens, der ‚Impression‘ und der ‚Expression‘ in einer einzigen Geste ineinander aufgehen zu lassen. Als Cézanne habe zeigen wollen, was ein ‚Motiv‘ sei, so erinnerte sich Joaquim Gasquet, habe er die Hände voneinander entfernt, um sie dann ganz langsam mit gespreizten Fingern wieder aneinander anzunähern, sie ineinander zu schieben und fest miteinander zu verschränken. Was Cézanne auf der planen Fläche des Bildes zu realisieren versuchte, hatte den Charakter eines Knotens.
Cézannes Malerei belegt beispielhaft, wie in der Kunst der Moderne Sujet und Subjekt in einer Weise ineinander greifen, wie es seine verschränkten Hände veranschaulichen. Das Sujet des Bildes, d.h. das Objekt, wovon es spricht, wird untrennbar vom Subjekt, welches sich darin ausdrückt. Im Augenblick der Werkentstehung, der im Sinne der Literaturwissenschaft als Akt der écriture verstanden werden kann, findet eine wechselseitige Medialisierung statt, in welcher das Subjekt zum Medium der Werkerzeugung und das Sujet zum Medium einer Selbsterkundung wird. Diese wechselseitige Vermittlung, welche das Kunstwerk performativ vollzieht – in der Spannung zwischen Darstellung und Selbstdarstellung, Zeigen und Selbstreflexion –, tritt in der Moderne an die Stelle dessen, was in der älteren Kunst die Konzepte der Narration und der Repräsentation waren. Auf diese Weise spiegelt das moderne Kunstwerk weniger die Welt als vielmehr die Beziehung zur Welt, seine Subjektivität ist Relationalität. Die Künstler, freigesetzt von ihren traditionellen Darstellungsaufgaben, entdecken darin ein gänzlich neues Feld. Sie stoßen auf die irreduzible Ambivalenz ihrer Produktivität, in der Authentizität zur Losung und zugleich unerreichbar wird und das Problem der Vermittlung – Cézannes Schwierigkeiten des ‚Realisierens‘ – sich auf allen Ebenen stellt.
Wenn Cézanne von sich sagte, er lenke seine Leinwand „in allen Teilen gleichzeitig“, so erlaubt dies einen Brückenschlag zu Lacan. Auf diese Weise könnte auch dessen Arbeit an seinem Begriffssystem beschrieben werden, das insbesondere in den späteren Schriften und Seminaren jeden Begriff nur in seiner Beziehung zu allen anderen bestehen lässt. Diese methodische Eigenart konfrontiert allerdings den Versuch, Lacans Bildtheorie aus denjenigen Stellen zu deduzieren, die sich ausdrücklich dem Bild widmen, mit Schwierigkeiten. Was Lacan unter ‚Bild‘ diskutiert – ausgefaltet in die Begriffe von image, écran und tableau-, lässt sich nur im Bezug auf seine Begriffstopologie insgesamt beziehen; die entscheidenden Passagen finden sich nicht zufällig in einem Seminar über ‚Grundbegriffe‘ der Psychoanalyse. Zugleich schreibt Lacan über die absolute Relationalität seiner Begriffe nicht so, wie man etwas Äußerliches beschreibt. Seine Art des Diskurses inszeniert sie stattdessen auf eine Weise, die den Interpreten hin und her springen und einzelne Formulierungen verknüpfen lässt. Die Entdeckung argumentativer Kohärenz lässt sich folglich von deren Konstruktion schwer abgrenzen. Im Hinblick auf den spezifischen Fall der Malerei sind weitere Eigenheiten von Lacans Bilddiskurs zu berücksichtigen. Lacan thematisiert Gemälde nicht als Artefakte, deren verborgene Bedeutung es zu entschlüsseln gilt. Die kunstwissenschaftliche Frage, was dieses oder jenes Kunstwerk bedeute, wird vielmehr durch die grundsätzliche Frage ersetzt, was den Maler überhaupt dazu bewegt, ein Bild zu produzieren, und was umgekehrt dem Betrachter widerfährt, wenn er Bilder anschaut. ‚Bedeutung‘ erhält in beiden Fällen die Struktur eines Ereignisses: Sie selbst ist ein Geschehen, das sich nicht auf die Denotation innerbildlicher Gegebenheiten oder außerbildlicher Kontexte historischer, soziologischer oder individualpsychologischer Art zurückbringen lässt. Selbst den ästhetischen Charakter bildlichen Sinns ordnet er einer diskursiven Merkmalsbestimmung unter, der es allein um das Funktionsprinzip des Bildes im Feld des Sehens und der Sichtbarkeit geht, und zwar ausschließlich in Bezug auf das Subjekt, das sich in und gegenüber der Welt artikuliert. Lacan geht sogar so weit zu betonen, Sinn und Zweck eines Bildes lägen nicht in dem, was auf ihm dargestellt sei. Er beruft sich hierfür auf das Beispiel Cézannes, der, wenn er Äpfel male, etwas ganz anderes tue als Äpfel zu malen. Auf dieses ‚Andere‘ deuten, so Lacan, die eigentümlichen ‚Flecken‘, aus denen die Bilder bestehen, jenes „kleine Blau, kleine Braun, kleine Weiß“, die „vom Pinsel des Malers tropfen“.
Doch auch beim Subjekt, bei jener Instanz also, auf die Lacan die Funktion des Bildes bezieht, stoßen wir auf eine Art von absoluter Relationalität. Lacan billigt dem Subjekt kein Sein außerhalb des Bezugs auf heteronome Instanzen zu. Es entsteht und gewinnt seine Handlungsfähigkeit vielmehr allein als Subjekt von etwas: des Signifikanten, des Unbewussten, des Begehrens, des Blicks usw. Diese Spaltung im Subjekt, stets diesseits und jenseits seiner selbst zu sein, kehrt in der Ambivalenz des Bildes wieder, welche die Grenze der Repräsentation markiert, die ein Subjekt von sich ausbilden kann. Denn das Bild lässt ein Anderes aufscheinen, das die Selbstbespiegelung des Subjekts durchkreuzt. Wenn man produktionsästhetisch nach der Entstehung eines Kunstwerks fragt, bezieht Lacan folglich eine herausfordernde Zwischenposition. Sein Begriff des gespaltenen Subjekts durchkreuzt nicht nur die romantisch-idealistische Kreativitätsemphase, die das Kunstwerk im Künstler entspringen sieht, sondern ebenfalls jene Radikalisierung poststrukturalistischer Theorie, die das Künstlersubjekt als bloßen Effekt von Medien und Diskursen entlarven möchte.
Auch wenn Cézanne in Lacans Argumentation eine Schlüsselrolle spielt, fällt er aus dem Rahmen der übrigen im Seminar XI behandelten Kunstwerke gleichwohl heraus. An den anderen Beispielen zeigt Lacan, wie der ‚Blick‘ – definiert als Platzhalter des ‚Objekts a‘ im Feld des Sichtbaren – sich im Bild als eine Art ‚Fleck‘ abzeichnet. Vor allem die Diskussion von Holbeins Gesandten, aber auch der Ikonen, die im Zusammenhang einer kurzen Geschichte des ‚Blicks‘ in der Malerei erwähnt werden, befördern dabei die Auffassung, der Blick lasse sich mit einem inkarnierten und anthropomorphen Blick gleichsetzen – beispielsweise eben mit dem göttlichen Auge der Ikonen oder dem anamorphotisch verzerrten Totenschädel im Vordergrund der Gesandten. Bei Holbeins Gemälde erkennt Lacan die Pointe zudem in der Brechung der zentralperspektivischen Ordnung durch den sozusagen aus einem anderen Raum ins Bild hängenden Totenschädel. Der ‚Blick‘ manifestiert sich als Durchbrechung der zentralperspektivischen Illusion, die das Bild nicht nur transparent erscheinen lässt, sondern dem Betrachter gleichzeitig eine ideale Übersicht gewährt, in der nichts verstellt oder ungeordnet erscheint. Aus dieser privilegierten Stellung, die im Falle der Gesandten durch die Blickbeziehung zwischen Betrachter und Porträtierten noch gestützt wird, schleudert ihn der phallisch verzerrte Totenschädel buchstäblich heraus. Folgte man ausschließlich der Spur dieses Beispiels und suchte nach weiteren Gemälden, die einen inkarnierten Blick zeigen oder aber krypto- oder anamorphotische Kippeffekte aufweisen, schränkte man die Reichweite von Lacans Argument unnötig ein. Überdies müssten Cézannes Bilder aus dem Kreis der diskutierbaren Kunstwerke herausfallen, da sie weder am Illusionismus der klassischen Malerei teilhaben, noch nach zentralperspektivischen Gesetzen organisiert sind. Obschon Lacans prominente Analyse der Gesandten also verfänglich ist, arbeitet er in anderen Passagen den möglichen Missverständnissen entgegen. Selbst wenn nämlich, so bemerkt er an anderer Stelle, auf einem Bild weder ein Augenpaar noch eine menschliche Gestalt zu finden sei, werde man gleichwohl filigranhaft etwas sehen, was einem das Gefühl der Gegenwart eines Blicks vermittle. Gerade hinsichtlich Cézannes ist zudem ein ebenso bedrohlich wirkender wie etwas kryptisch bleibender Hinweis auf die veränderte Kunstsituation in der Moderne bedeutsam. Lacan war sich durchaus bewusst, dass die Tendenz zur Abstraktion und zur Flächigkeit dem Versuch, das ‚Blickhafte‘ der Malerei in den dargestellten Gegenständen oder in der Brechung der perspektivischen Ordnung zu erkennen, zunehmend den Boden entzieht. In der Moderne beziehe sich der Blick, so Lacan, nicht länger auf ein Element im Bild, sondern auf das Bild als Ganzes. In ihm werde vorherrschend, was André Malraux das ‚Ungetüm ohnegleichen‘ genannt habe: der Blick des Malers, „der sich als einer aufzwingen möchte, der, er alleine, Blick ist“. Folgen wir diesem Hinweis, dann reintegriert sich Cézannes ‚tröpfelnde Farbe‘ vielleicht doch wieder ins Feld von Lacans Bilddiskussion. Denn während die Pointe von Holbeins Gesandten im singulären anamorphotischen ‚Fleck‘ liegt, besteht die Pointe von Cézannes Malerei gerade darin, insgesamt aus lauter Flecken zu bestehen. (Abb. 1 u. 2) Diese Flecken aber sind das Ergebnis einer Malerei, die sich ausdrücklich vorgenommen hatte, sich allein auf das eigene Sehen zu gründen, um es ins Kunstwerk einzutragen und an den Betrachter weiterzugeben.