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Porträts wovon? Zum Wandel einer Kunstgattung in der Moderne
in: Interjekte, Online Publikationsreihe des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), hrsg. von Mona Körte und Judith Elisabeth Weiss, Berlin 2013.
[Abb. 1] Sozusagen als Motto meiner Ausführungen zur Gattung des Porträts bzw. zur Porträtkunst habe ich eine Arbeit von Robert Rauschenberg gewählt. 1961 plante die Pariser Galeristin Iris Clert eine Porträt-Ausstellung und lud Robert Rauschenberg, den amerikanischen Pop-Künstler, zu einem Beitrag ein. Dieser reagierte mit einem aus Stockholm geschickten Telegramm mit dem Inhalt: This is a portrait of Iris Clert if I say so – Robert Rauschenberg. Als Motto zeige ich die Arbeit deshalb, weil das Porträt im Laufe der Moderne und insbesondere im 20. Jahrhundert zu einer umstrittenen, ja in gewisser Hinsicht unmöglichen Gattung wird, und Rauschenbergs Telegramm nun zeigen kann, dass dieses Umstrittene zwei unterschiedliche Dimensionen hat: zum einen ist es der Streit über das, was als legitimes Porträt eines Menschen angesehen werden kann; zum anderen ist es der Streit darüber, was legitimerweise als ein Kunstwerk angesehen werden kann. Was den ersten Streit, denjenigen ums Porträt, betrifft, so haben auf die Frage nach dem angemessenen Bild des Menschen im Zuge der Moderne die Anthropologie, die Psychoanalyse, der Strukturalismus, aber beispielsweise auch die Ökonomie so mannigfaltige wie widersprüchliche Antworten gegeben – denen aber zumindest eines gemeinsam ist: die Auffassung, das Wesen eines Menschen sei gerade nicht über sein Äußeres zu erfassen, sondern müsse an anderer Stelle, sei es im Unbewussten, sei es in übergeordneten Strukturen, gesucht werden. Damit aber erodierte die entscheidende, über Jahrhunderte nicht bezweifelte Voraussetzung des Porträts, nämlich die Korrespondenz von physiognomischer Erscheinung und Persönlichkeit. Hinsichtlich des anderen Streit, demjenigen um die Legitimität oder Illegitimität einzelner Artefakte als Kunst, wurden im Zuge der Moderne ebenfalls ganz unterschiedliche Antworten gegeben, von den einzelnen künstlerischen Strömungen, von der Kunstwissenschaft, aber auch von der philosophischen Ästhetik. Und auch hier zeichnet sich in den divergierenden Auffassungen zumindest eine Gemeinsamkeit ab: die Auffassung, dass die Funktion des Repräsentierens oder bildlichen Darstellens für ein Kunstwerk überhaupt nicht zwingend ist. Etwas kann ein Kunstwerk sein, auch wenn es nichts zeigt – und auch dies, die Relativierung des Abbildparadigmas, ist natürlich für die Porträtkunst von einschneidender Bedeutung. Rauschenbergs witziger Telegramm-Beitrag zu Iris Clerts Porträtausstellung situiert sich am Kreuzungspunkt beider Offenheiten – sowohl der Offenheit, was ein Porträt sein kann, als auch der Offenheit, was ein Kunstwerk sein kann. Die Beantwortung beider Fragen wird von Rauschenberg radikal subjektiviert: Dies ist ein Porträt – und damit implizit ein Kunstwerk –, wenn ich es als ein solches bestimme – „if I say so“. Der Name Robert Rauschenberg, der unter diesem Satz steht, ist zugleich die Unterschrift unter dieses kunstprogrammatische Statement wie auch die Signatur eines Kunstwerks – mit der Folge, dass hier das Porträt und seine Verweigerung, das Kunstwerk und seine Negation ineinander aufgehen.
Setzungen wie diejenige Rauschenbergs machen im Rückblick deutlich, wie viele Voraussetzungen sich in dem bündelten, was wir als die große Tradition der Porträtkunst kennen, die sich zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert insbesondere in Europa entfaltete. Die lexikalische Bestimmung des Porträts ist einfach: Es handelt sich dabei um die bildliche Wiedergabe der körperlichen Erscheinung der Dargestellten, seien sie lebendig oder bereits verstorben, um in dieser Wiedergabe deren Persönlichkeit festzuhalten. Sie gründen auf der Abbildbeziehung des Gemäldes zu dem Menschen, der darin aufscheinen soll.
[Abb. 2] Dass auch in der Vormoderne das Porträt im Kreuzungspunkt beider Auffassungen stand – sowohl derjenigen, was ein Mensch sei, als auch derjenigen, was ein Kunstwerk sei, zeigt sich gerade im klassischen Porträt. Allerdings nicht so, dass sich die beiden Auffassungen wechselseitig unterlaufen wie bei Rauschenberg, sondern so, dass sie sich wechselseitig stützen. Die frühe Neuzeit begann, den Menschen als ein unverwechselbares, idealerweise in sich gerundetes Individuum zu begreifen – und diese Gerundete kann man bei Raffaels Castiglione wörtlich nehmen, wenn Sie darauf achten, wie das Bildnis aus lauter Kreisformen aufgebaut ist.
Zugleich entwickelte sich zur selben Zeit die Idee des autonomen Tafelbildes, das – und das meint der Begriff der Autonomie –, etwas zu zeigen vermag, das in sich stimmig und aus sich heraus verständlich sein sollte. Während das Gesicht eines Porträtierten aus überindividuellen Elementen besteht, die in der jeweiligen Physiognomie gleichwohl zu einer einmaligen und unwiederholbaren Konstellation zusammentreten, stellt das Tafelbild eine Darstellungsleistung dar, die durch Gesetze der Komposition, der Farbgebung und der inhaltlichen wie formalen Angemessenheit zwar stark reguliert war, innerhalb dieses Rahmens aber gleichwohl auf Singularität, auf ein so nur hier vorfindliches individuelles Gelingen, angelegt war. Und wenn das klassische Porträt in der Überzeugung entstand, im Äußeren eines Menschen spiegele sich sein Inneres, dann paart sich dies mit der Überzeugung, in der ästhetischen Organisation des Bildes spiegele sich der politische und soziale Organismus der Welt als ganzer. Die harmonischen Rundungen von Raffaels Castiglione beziehen sich auf beides: sie sind ebensosehr Erfassungen genau dieses Individuums als auch die Teilhabe dieses Bildnisses an übergreifenden Ordnungsvorstellungen.
[Abb. 3 u. 4] Eine analoge Korrespondenz zeigt sich auf metaphorischer Ebene. In der Gründungszeit des Tafelbildes setzte sich die Metapher durch, es sei ein „Fenster zur Welt“, zugleich finden wir die Metapher vom Auge als „Fenster zur Seele“. Den Zusammenhang der Metaphern finden wir bei Dürer, zum einen die Porträtierung vor einem Fensterausblick wie in seinem Selbstbildnis (Abb. 3), zum anderen die Fensterspiegelung im Auge wie im Porträt des Hieronymus Holzschuher (Abb. 4).
Der Fenstervergleich von Bild wie von Auge führt zu einer sinnfälligen Verschränkung von inneren und äußeren Räumen, zur Behauptung der Kontinuität über die jeweilige Schwelle hinweg. An all dem wird deutlich, wie fest und zugleich vielschichtig das traditionelle Porträt in einer bestimmten Idee der Repräsentation verankert war: Repräsentation – als Zeigen von etwas, das nicht nur für sich selbst, sondern zugleich für etwas anderes steht – ist sowohl ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der vormodernen Vorstellung des Individuums als auch der vormodernen Auffassung des Bildes.
[Abb. 5] Am Übergang zur Moderne hatte Hegel diese Verankerung der vormodernen Kunst in der Idee der Repräsentation in seinen Vorlesungen über die Ästhetik zwingend beschrieben. In den großen Themen der klassischen und der neuzeitlichen Kunst – im griechischen Helden, in der Gestalt Christi sowie im weltlichen Fürsten – erkannte Hegel die Vermittlung des Individuellen mit dem Allgemeinen, und zwar in Gestalt eines sinnlichen und zugleich übersinnlichen Körpers. Der Körper des Helden, des Gottessohnes und des Fürsten stellten, in je unterschiedlicher Weise, eine Konkretwerdung des Absoluten dar. Gerade dadurch wurden sie zum privilegierten Thema der Kunst, deren Leistung für Hegel ebenfalls, genau analog zur Leistung dieser sinnlich-übersinnlichen Körper, in der sinnlichen Vergegenwärtigung ideeller Grundüberzeugungen bestand. Velázquez’ Las meninas zeigt genau diesen Repräsentationszusammenhang, der hier sozusagen im Augenblick seiner Verfertigung gezeigt wird – als Ineinanderschachtelung von – erstens – künstlerischer Repräsentation – Velázquez malt auf jenem rückseitig gesehenen Riesenbild das Doppelporträt des spanischen Herrscherpaars, das wir im Spiegel im Hintergrund sehen –, zweitens höfischer Repräsentation – die Prinzessin und Thronfolgerin zeigt sich inmitten ihres Hofstaates – und schließlich drittens staatlich-juristische Repräsentation – insofern als Velázquez’ Bild die dynastische Erbfolge inszeniert, d.h. den die einzelnen Repräsentanten übergreifenden Zusammenhang des Königtums. Michel Foucault hat diese Facetten des Repräsentationsbegriffs, der hier ins Spiel kommt, in seiner berühmten Deutung des Bildes in einer zwingenden Deutung dargelegt.
Für unseren Zusammenhang des Porträts ist daran wichtig, dass hier ein Zusammenhang deutlich wird, der die neuzeitliche europäische Porträtkunst sozusagen physisch-metaphysisch stabilisierte: nämlich der ebenso plastische wie ungreifbare Zusammenhang zwischen dem leiblichen Körper des Dargestellten und dem materiellen Bildkörper. Hegel umreißt diesen Repräsentationszusammenhang allerdings nur, um zu beschreiben, wie er in seiner eigenen Gegenwart, also am Beginn der Moderne, zerfällt. In der Zeit um 1800 begannen, so Hegels Diagnose, das Allgemeine und das Individuelle, also jene beiden Dimensionen jener Körper, die bei Velázquez auftreten, auseinanderzutreten. Ersteres, das Allgemeine wurde zum abstrakten Gesetz – sei es im Verfassungsstaat, sei es in der Wissenschaft –, letzteres, das Individuelle, partikularisierte sich zur jeweiligen Subjektivität von Gemüt und Charakter, die keine überpersonale Gültigkeit mehr beanspruchen kann. Die Vermittlung, die sich in jenen neuzeitlichen Körpern – der Dargestellten und des Bildes – vollzogen hatte, brach entzwei. Damit verlor die Kunst, so Hegel, nicht nur den zu vermittelnden Gegenstand; zugleich wurde ihre im künstlerischen Medium angelegte Vermittlungsleistung selbst in Frage gestellt – woraus Hegel ja den berühmten Schluss zog, die Kunst sei, gemessen an dieser einstmaligen Bestimmung, ein nun Vergangenes.
Diese Vergangenheitsform zeichnet seither auch das Porträt aus. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Porträtgeschichte, dass genau dann, als der Mensch seine bürgerlichen Rechte erwirbt, sich demokratische Verfassungen durchzusetzen beginnen, der Idee der Gleichheit unter den Menschen propagiert wird, der Mensch also im juristischen Sinne zum autonomen Subjekt wird, die Porträtkunst in eine Krise gerät, aus der sie sich nie mehr erholen sollte; wenn Hegels Diagnose eines Vergangenseins der Kunst überhaupt Geltung hat, dann für das Porträt, das in der Moderne seine ehedem einzigartige Rolle für die Bestimmung des Menschen einbüßt. Die Art und Weise, wie Hegel sein Argument anlegt, enthüllt dabei einen der Gründe, warum dem so war. Es war eine zutiefst aristokratische, aufs exemplarische, auf besonders bildwürdige Individuum ausgerichtete Kunst, und gerade nicht eine, die von den Ideen der Gleichheit der Menschen lebte.
[Abb. 6] Nicht nur das moderne Ende der Kunst wurde verkündet, sondern auch das moderne Ende des Menschen, ersteres wie erwähnt durch Hegel, letzteres unter anderem durch den ebenfalls bereits genannten Michel Foucault, der dasselbe Buch, das er mit seiner Deutung von Velázquez’ Meninas beginnt, mit jenem berühmten Satz beschließt, demzufolge der Mensch in der Moderne verschwinde „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Die neuen Leitwissenschaften, die Foucault unter anderem in der Sprachwissenschaft und in der Psychoanalyse erblickte, festigten weniger das Bild des Menschen, als dass sie, so Foucault, dessen Grenzen erkundeten. Sie fragten nach den Gesetzen, denen er unterworfen sei, und den Strukturen, die durch ihn sprächen. Die Moderne entdeckte das Individuum – was ja wörtlich ‚das Unteilbare‘ heißt – als Kompositum verschiedener Schichten, die in komplexer, nie ganz aufhellbarer Weise zusammenwirken, sowie als dynamisches Prozesswesen, dessen Selbst- und Fremdwahrnehmung beständigen Wandlungen unterworfen ist.
Dennoch verschwindet das Porträt in der Moderne keineswegs. Im Gegenteil: Nachdem im 19. Jahrhundert die technische Bildproduktion aufkam und im 20. Jahrhundert die Möglichkeit massenmedialer Kommunikation hinzutrat, wurde das Bild des Menschen sogar in einer Weise zugänglich, billig zu haben, ja, inflationär, dass der Mensch zuweilen hinter seinen Bildern zu verschwinden droht. Was den engeren Fall des künstlerischen Porträts betrifft, so lässt sich beobachten, wie seither die verschiedenen Elemente, die in der klassischen Repräsentation so überaus kunstvoll ineinandergeflochten waren, sich verselbständigen, um sich in je besonderer Weise zu äußerst singulären Lösungen zu konstellieren. Denn was ein Bild respektive ein Kunstwerk sein kann, multipliziert sich in der Moderne in ebenso dramatischer Weise wie die Auffassungen, was der Mensch sei und woran sich seine Eigenart festmachen lasse. Entsprechend unberechenbar wird die Gattung des Porträts, die beides – die Variabilität des Bildes und die Variabilität des Menschen – in ein je besonderes Mischungsverhältnis bringt – sozusagen als Lösung einer Formel mit zwei Unbekannten. Mit diesem dynamisierten und entgrenzten Subjekt- und Kunstbegriff ist das offene Feld einer Porträtkunst jenseits des klassisch repräsentierenden Bildnisses markiert. Sobald offensichtlich wurde, dass das Subjekt in seinen körperlichen Repräsentationen nicht aufgeht, sondern beides vielmehr in einem permanenten Spannungsverhältnis zueinander steht, wandelte sich das Porträt von einem Medium der individuellen wie zugleich gesellschaftlichen Konsolidierung des Subjekts zu einem Medium der Suche nach ebendiesem Subjekt, wobei sich in den einzelnen Ergebnissen gar nicht trennen lässt, wo die Reflexion auf den Menschen in die Reflexion aufs Medium der Kunst übergeht, so wie wir dies bereits an Robert Rauschenbergs Telegramm sehen konnten. Dass die stabilen Relationen, welche die klassische Porträtkunst regulierten, fehlen, wird jetzt zum produktiven Prinzip, das immer neue Porträtverfahren hervorbringt, in der sich der Mensch aber eher in den Formen seines Verschwindens anzeigt. Bestimmte das klassische Porträt den Platz des Individuums, indem es ihm einen Körper und ein Gesicht gab, vergegenwärtigt die Porträts der Moderne diesen Platz als unbestimmbar, ja vielleicht sogar als leer.
Es ist eine Unbestimmtheit oder gar Leere, wie sie in hintergründiger Weise hier, bei diesem Porträt von Andy Warhol aufblitzt, wenn er die Dargestellte, eine neureiche Unternehmersgattin und Kunstsammlerin im damaligen New York, im Spiel ihrer Selbst-Performanz festhält – wobei das Hintergründige des Porträts dadurch zustande kommt, dass Warhol bestimmte der Passbild-Aufnahmen wiederholt. Tatsächlich verwendete Warhol für die 36 Tafeln von Ethel Scull lediglich 25 Fotografien sowie 25 Farben. Die Wiederholungen werden aber dadurch maskiert, dass die Motive teils seitenverkehrt, immer aber auf anderem farblichen Grund auftreten. Die Selbstperformanz der Dargestellten wird in ein subtiles Spiel von Variation und Stereotypie einzelner Gesten verwandelt, die die Vitalität der Porträtierten zu untergraben beginnt.
Ein paar weitere Beispiele seien angetippt, wobei ich mich insbesondere dem Zeitraum ab ca. 1960 zuwenden werde. Die Beispiele können dabei die Fülle des Möglichen keinesfalls repräsentieren, sondern sie lediglich andeuten. Denn im Unterschied zur älteren Porträtkunst, die, bei aller Unterschiedlichkeit, durch das paradigmatische Begriffsdreieck von Körper, Organismus und Repräsentation gerahmt wird, fehlt dem Porträt der Moderne ein solcher paradigmatischer Rahmen – weswegen nurmehr Singularitäten ohne Oberbegriff verbleiben.
[Abb. 7] Ich fange mit einem Beispiel an, das wie Warhol auf Abbildähnlichkeit setzt, diese Abbildähnlichkeit, die übrigens auch hier fotografisch realisiert wurde, zugleich aber problematisiert. Ruff verfremdet die identifizierende Porträtfoto-Ästhetik dadurch, dass er sie auf ein sehr großes Format hochzieht – zu technisch-medial perfekt aufgelösten Gesichtern. Ruffs Werktitel markieren jeweils, dass es sich bei dem Bild um ein Porträt handelt, zugleich wird deutlich gesagt, wer dies ist – hier also: Anna Giese. Durch die Einklammerung des Namens wird jedoch gerade der Zusammenhang zwischen dem Bild als Porträt und dieser bestimmten Person in Frage gestellt, zumindest relativiert, durch die Einklammerung unterbrochen – so als wäre Vorsicht angezeigt, dieses Bild tatsächlich als Porträt von Anna Giese zu verstehen, in jenem vollen Sinne, wie er durch die Gattungstradition bestimmt war. Tatsächlich verschmelzen hier, um es mit französischen Begriffen zu sagen, „face“ und „effacement“, die Sichtbarkeit des Gesichtes und die Auslöschung der Person. In diesem Gesicht, gerade weil es uns in allen Details zugänglich ist, können wir auf paradoxe Weise kaum lesen, bei voller Beleuchtung kippt es ins Opake. Und so ist es vielleicht auch nicht zufällig, dass in den Augen der von Ruff porträtierten Menschen nicht wie bei Dürer kleine Fenster sich spiegeln, die die Öffnung in einen anderen Raum anzeigen, sondern lediglich die Blitzlichtschirme, die auf das fotografische Dispositiv zurückverweisen.
[Abb. 8] Das Ähnlichkeitsparadigma von Bild und Abgebildetem wird auch von Julian Opie ins Spiel gebracht – allerdings in ganz anderer, geradezu umgekehrter Weise, nämlich in einer, die an der Problematik visueller Zeichen interessiert ist, indem Opie die Frage aufzuwerfen scheint, wie weit ich diese Zeichen reduzieren kann, ohne die Porträtfunktion zu verspielen. Wenn das Verstehen visueller Zeichen bedeutet, ‚etwas als etwas’ zu erkennen, dann dehnen Opies Porträts jene Operation des ‚Sehens-als‘ bis zu dem Punkt, wo es als Vorgang sichtbar wird. Die Zeichen werden dafür nicht nur quantitativ reduziert, sondern auch anonymisiert, sodass der Umschlag in ein Auge oder in einen Mund, sondern mehr noch, in das Auge und den Mund eines bestimmten Menschen, überraschend ist – überraschend, weil wir auf die Stellen, an denen die unpersönlichen Bildzeichen ins Singuläre eines bestimmten Gesichts umschlagen, nicht zeigen können. Da sich das Gesicht von den Zeichen, aus denen es besteht, allerdings nicht emanzipieren kann, wird der Kippeffekt auf Dauer gestellt und dem Betrachter seine Deutungsaktivität, dies als ein Porträt anzusehen, zu Bewusstsein gebracht. Denn aus den unterschiedlichen Zeichen bildet sich nur dann ein Porträt heraus, wenn der Betrachter sie im in entsprechender Weise für ‚bedeutend‘ hält – beispielsweise jene schwarzen Punkte als ein Auge, ja, als ein ganz bestimmtes Auge, auffasst, obschon sie diese Bestimmtheit eigentlich nicht aufweisen.
[Abb. 9] Bei Felix Gonzalez-Torres kehren wir zum Feld jener antlitzlosen und unähnlichen Porträts zurück, in dem wir uns bereits mit Rauschenberg Telegramm befanden. Bei Gonzalez-Torres’ Porträt handelt es sich um einen Bonbonhaufen, der zum Mitnehmen und Lutschen der Bonbons einlädt und damit mit seiner potenziellen Auflösung, zumindest seiner Schrumpfung, spielt, womit metaphorisch auch der gemeinte Mensch schrumpft, während er sich in die lutschenden Menschen hinein zerstreut. Das Bildnis wird, in Verkehrung seiner ehemaligen Gedenkfunktion, die Dargestellten über ihren Tod hinaus präsent zu halten, zum Sinnbild eines Verschwindens, das es an sich selbst vollzieht. Und doch ist das Porträt bei Gonzalez-Torres auch ein Sinnbild des Überdauerns. Die Ähnlichkeit zwischen dem Dargestellten und dem Bild liegt hier nämlich nicht in einer formalen Ähnlichkeit beider, sondern im Gewicht. Untitled (Portrait of Marcel Brient) hat ein Idealgewicht von 90 Kilogramm, das dem Gewicht des Dargestellten entspricht – ein Gewicht, das vom Besitzer der Arbeit, der in diesem Fall der Porträtierte selbst ist, immer wieder durch das Hinzufügen neuer Bonbons zu halten ist, sodass Gonzalez-Torres’ Porträt ebenso mit der Zeit spielt wird wie mit der Aufhebung der Zeit.
[Abb. 10] Das Motiv der Hineinnahme eines Körpers in einen anderen, das durch den Verzehr der Bonbons virulent wird, gewinnt in Untitled (Lover Boys) eine weitere Dimension. Es handelt sich um eine überraschende Neudeutung der alten Gattung des Doppelporträts als Porträt zweier Liebender. Untitled (Lover Boys) ist das Selbstbildnis des Künstlers zusammen mit seinem Partner Ross Laycock. Das für die Arbeit vorgeschriebene Idealgewicht von 161 Kilogramm addiert das Körpergewicht beider, und da es auch nur eine Bonbon-Sorte für beide gibt, werden die beiden Körper vollständig ineinander entgrenzt.
[Abb. 11 u. 12] Mit einer letzten Porträtvariante möchte ich schließen. Das klassische Porträt war ikonisch grundiert, d.h. es basierte auf der visuellen Ähnlichkeit zwischen dem Dargestellten und dem Bild. Bei Armans Portrait-robots – das französische Wort für Phantombilder –, begegnen wir Werken, die die versammelnde Mitte eines Körper-Ichs aussparen und das Subjekt sozusagen von seiner Peripherie her zu begreifen suchen. Der Körper wird zu einem Plexiglas-Kasten, der in der Höhe die Maße des Porträtierten besitzt, und der verschiedene, in Kunstharz eingegossene Gegenstände des Gemeinten, des Fotografen Charles Wilp, enthält. Inneres und Äußeres werden seltsam verkehrt, indem der Körper des Dargestellten, für den der Kasten einsteht, mit Dingen gefüllt ist, die eigentlich außerhalb dieses Körpers waren: mit seinen Kleindern, Arbeitsutensilien und diversen Abfällen. Das Band, das das Porträt mit dem Gemeinten verbindet, ist nicht ikonisch, es basiert nicht auf Ähnlichkeit, sondern ist indexikalisch: Es versammelt jene Spuren, die der Dargestellte in der Dingwelt hinterließ, als er mit diesen Dingen umging. Wie immer bei indexikalischen Zeichen schlagen Abwesenheit und Anwesenheit ineinander um. Einerseits gewinnt das Porträt eine unmittelbare, ja existenzielle Dimension, da die gezeigten Objekte die wirkliche Existenz dessen, der darin seine Spur hinterließ, bezeugen, ähnlich wie es Reliquien tun. Andererseits ist dieses Leben in seinen Spuren gerade nicht mehr präsent, vielmehr wird es durch die Präsentation seiner Reste ebenso verdinglicht wie banalisiert.
[Abb. 13] Eine etwas andere Variante dieses indexikalischen Verfahrens finden wir in Hans-Peter Feldmanns Alle Kleider einer Frau. Was Arman zu einem Containter-Block verdichtet, breitet Feldmann aus. Das Bildnis – als das eine charakteristische Bild eines Menschen – vermehrt sich zu einer Bilder-Folge, in die sich das Subjekt zerstreut – in insgesamt 70 Fotografien – von denen Sie hier 11 sehen –, die 70 Mal den Körper jener Person evozieren, die diese Kleider trägt oder getragen hat. Zugleich wird die totalisierende Angabe, es handle sich um alle Kleider einer Frau, von der Anonymität ebendieser Frau konterkariert, die lediglich mit unbestimmtem Artikel, als ›eine‹ Frau, benannt wird. Die Gemeinte dieses Porträts wird zu einer imaginären Größe, die wir aus den textilen Signifikanten eines Lebens zusammenlesen müssen, ohne es zu können. Das Porträt, als Bild eines Menschen, verlässt das Kunstwerk und siedelt sich neu an, irgendwo zwischen der Abbildung jener Kleider und der Einbildung der Betrachter.
Alle diese verstreuten Beispiele, die ich Ihnen hier zeigte, erweisen den Menschen als weder festgestellt noch feststellbar. Diese Porträts, die ihre eigene Gattung fortlaufend auf die Probe stellen, erzeugen einen paradoxen Raum, in dem stets etwas fehlt oder unsichtbar bleibt. Die Selbstspiegelung des Subjekts im Bild wird verunmöglicht, verweigert, zumindest irritiert. Umkreist wird ein Gemeintes, das stets verschwindet oder sich zerstreut, aber nicht, weil es dieses Gemeinte, diesen Menschen, nicht gäbe, sondern weil er sich nicht verbildlichen lässt. Diese eigentümliche Bildlosigkeit des Menschen ist die untergründige Dynamik des modernen Porträts, das versucht, dem Menschen wenigstens indirekt ein Minimum an Substanz zu verschaffen.
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