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Vom Raum in der Fläche des Modernismus
in: fRaktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde, hrsg. von Anke Hennig, Brigitte Obermayr und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 63), Wien/München 2006, S. 149-178.
Kapitel IV: Der Raum im Inneren des Bildes 2: Fontana
In der Collage wurde zu recht einer der Gründungsakte der Kunst des 20. Jahrhunderts erkannt. Man begriff sie als die bis dahin deutlichste Affirmation jener Einsicht von Maurice Denis, dass das Bild zunächst eine materielle Fläche sei, bevor es eine Darstellung von etwas sein könne. Betont wurde somit hauptsächlich der materielle, die Bildfläche verdinglichende Aspekt: das Moment des Draufklebens, der Schichtung und der Assemblage heterogener Materialien. Seltener gesehen wurde das Moment der Brechung und des Schnittes, welches das Bild der Verdinglichung entzieht, indem es einen schillernden Raum erzeugt, in dem stets etwas fehlt, nicht an seinem Platz ist oder unsichtbar bleibt. An diese Dimension des kubistischen Verfahrens knüpfte ein Künstler an, der in einer Diskussion der modernistischen Dialektik zwischen Materialität und Immaterialität nicht fehlen darf, hier allerdings aus argumentationsökonomischen Gründen bloß genannt werden kann: Marcel Duchamp, der über den Kubismus zu seinen Versuchen einer ‚vierdimensionalen‘ Kunst fand. Stattdessen möchte ich erneut einen Zeitsprung machen und auf zwei ungefähr gleichzeitig, aber völlig unabhängig voneinander arbeitende Künstler der 1950er und l960er Jahre eingehen: auf Lucio Fontana und Robert Rauschenberg.
Fontanas Bilder kommen hier ins Spiel als Radikalisierungen einer Kunst des Schnittes: Während Picassos Schneiden allein den aufgeklebten Zeitungen galt, trifft es nun den Bildträger selbst (Abb. 6 und 7). Die geschlitzten Bilder, die ab 1958 als Fontanas umfangreichste Werkserie entstanden, haben meistens nur zwei Komponenten: die monochrome Fläche des Bildträgers sowie einen oder mehrere Schlitze. Vor der Schlitzung war die Bildfläche ein leerer, unmarkierter Raum, dessen Reinheit die Dreistigkeit des Schnittes noch verstärkt. Dieser bringt die Doppelnatur der Bildfläche zum Vorschein, zugleich materieller Träger und immaterieller Erscheinungsort eines Abwesenden zu sein. Er erreicht dies allerdings dadurch, dass er beides im selben Zuge zerstört: sowohl den Illusionismus der traditionellen Malerei als auch den flachen Bildträger als das Kennzeichen der Moderne.
Fontanas Schlitzen ist dem Ziehen einer Linie vergleichbar, wie die Gegenüberstellung von Fontanas Schlitzaktion und Picassos initialer Liniensetzung auf leerer Leinwand verdeutlichen kann (Abb. 8 und 9). Raum eröffnend sind beide. Bereits die erste Linie, die auf einer Leinwand gezogen wird, zerstört deren Oberfläche und erzeugt die Illusion der dritten Dimension. Denn sie erzeugt Unterscheidungen, beispielsweise zwischen diesseits und jenseits, innen und außen, drunter und drüber. Im Unterschied zu Picasso trägt Fontana jedoch keinerlei Material auf. Vor allem aber bringt sein ‚Zeichnen‘, indem es die Bildfläche durchdringt, genau jene Unterscheidungen zum Einsturz. Innen und außen, vorne und hinten, realer Raum und imaginärer Raum fallen hier in eins.
Oft wurde gesagt, es handle sich bei diesen Bildern um Darstellungen des Unendlichen. Doch streng genommen zeigen Fontanas Bilder nichts – auch nicht die Unendlichkeit, die sich der Darstellung ohnehin entzieht. Der Schlitz hat seine Pointe vielmehr gerade darin, die Darstellungsleistung des Bildes zu liquidieren. Es gibt kein ‚Dahinter‘ das im Bild dargestellt wäre, kein ‚Darunter‘ das sich in der Oberfläche abzeichnete. Sowohl auf wie hinter dem Bild ist buchstäblich nichts. Fontanas Kunstpraxis schlitzt nicht nur die Leinwand, sondern sprengt zugleich die Repräsentation. „Wenn ich ein Bild mit einem Schnitt mache“, sagte er, „will ich kein Bild machen: ich öffne einen Raum, eine neue Dimension […]“. Während die Räumlichkeit eines repräsentierenden Bildes darin besteht, einen virtuellen Raum entstehen zu lassen, der sich jenseits der Bildfläche eröffnet, überführt Fontana die Darstellung von Räumlichkeit in deren performatives Erzeugen. Doch obschon Fontana mit den Schnittbildern von der repräsentierenden Gegenständlichkeit des Frühwerks zu einer performativen Kunstform übergeht, zieht er jene Konsequenz nicht, die vielen Künstlern dieser Zeit geboten scheint, nämlich ganz aus dem Bild auszusteigen und im tatsächlichen Raum installativ oder im Rahmen von Happenings oder Performances tätig zu werden. Fontanas Schnitt bleibt bildimmanent und erzeugt ein Klaffen als Bild. Seine Bildschöpfung als Bildzerstörung bringt ein paradoxes Bild hervor, das etwas zu sehen gibt und doch nichts zeigt. Dessen Pointe besteht darin, Sein und Schein gleichermaßen zu sein. Es handelt sich nicht einfach um ‚Raum‘, sondern um ein Raumkonzept. Die ‚Unendlichkeit‘ wird im Schnitt konkret erschaffen und zugleich als Effekt inszeniert – insbesondere dadurch, dass Fontana hinter die Leinwand eine mattschwarze Gaze spannt, die das Licht schluckt und verhindert, dass die Wand sichtbar wird. Denn dadurch offenbarte sich, dass die Tiefe dieser Unendlichkeit lediglich wenige Millimeter beträgt. Die im Schnitt eröffnete Enttäuschung, dass ‚nichts dahinter’ ist, schirmt Fontana mit einem schwarzen Tuch ab, das erneut ein unsichtbares ‚Dahinter‘ erzeugt. Die Effektivität des Schnitts besteht demzufolge nicht etwa darin, den Schein zu durchbrechen und zum Sein vorzudringen, sondern beides sich gegenseitig negieren zu lassen. Der Schnitt liquidiert den Scheincharakter des Bildes und erneuert ihn im selben Zuge. Die Unendlichkeit ist weder ‚da’ noch dargestellt. Sie entspringt der sowohl realen als auch semantischen ‚Lücke‘ des Schnitts, d.h. sie entsteht qua Ambivalenz, Unbestimmbarkeit und Unsichtbarkeit: als blinder Fleck, der buchstäblich inmitten der Bildoberfläche sitzt, gerahmt von den sich jeweils leicht wölbenden Schnittkanten der zerteilten Leinwand.