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Universalität und Geschichtlichkeit des Zeichnens – am Beispiel von Egon Schieles Weiblichem Akt mit angezogenem linkem Knie
in: Linea. Vom Umriss zur Aktion. Die Kunst der Linie zwischen Antike und Gegenwart, Ausstellungskatalog Kunsthaus Zug, Ostfildern 2010, S. 154-165.
„Es besteht ein unermesslicher Unterschied zwischen dem Sehen einer Sache ohne Bleistift in der Hand und dem Sehen, während man sie zeichnet. Oder vielmehr, es sind zwei sehr verschiedene Sachen, die man sieht. Selbst der unseren Augen vertrauteste Gegenstand wird etwas völlig anderes, sobald man sich bemüht, ihn zu zeichnen: man wird gewahr, dass man ihn nicht kannte, dass man ihn niemals wirklich gesehen hatte. […] Man muss also wollen, um zu sehen, und dieses gewollte Sehen ist das Ziel und das Mittel der Zeichnung zugleich.“ Paul Valéry
Kapitel I: Ursprünglichkeit(en) der Zeichnung
Im deutenden Umgang mit der künstlerischen Gattung der Zeichnung, in Überblickswerken nicht weniger als in theoretischen Abhandlungen, manifestiert sich die Tendenz, das „Ursprüngliche“ der Zeichenkunst herauszustellen. Dabei lassen sich zwei unterschiedlich ansetzende, jedoch wechselseitig sich bestärkende Varianten trennen:
Aus anthropologischer Perspektive wird die Zeichnung als primordiales Ausdrucksmittel des Menschen beschrieben, dessen älteste Zeugnisse, auf Faustkeile oder Höhlenwände geritzt, zeitlich weit hinter die frühesten Schriftzeichen zurückreichen. Zeichnen gilt als eine humane Uraktivität, deren „Anfänglichkeit“ sich bis heute in jeder Kinderzeichnung wiederholt. Widerhall findet dies im Urteil über künstlerische Zeichnungen als persönlichste und subjektivste Äußerung eines Künstlers, als unmittelbarer Ausdruck seines Selbst, mit der Folge, dass uns das Betrachten einer Zeichnung in ein privilegiertes, intimes Verhältnis zum Künstler zu setzen scheint.
Auch aus medialer Perspektive wird das Zeichnen als eine Basishandlung begriffen. Denn notwendig ist lediglich ein Minimum: ein markierendes Instrument (ein Stift, ein Finger, eine Tonscherbe, eine Computermaus) sowie etwas, das die Markierung aufnimmt (eine Mauer, eine Sandfläche, der Himmel, die virtuelle Ebene des Bildschirms). Schon der erste Strich, in welcher Materialisierung auch immer, lässt das mediale Potenzial der Zeichnung sich entfalten: die Scheidung zwischen der Markierung und dem tragendem Grund, aber auch die Doppelwertigkeit jeder Markierung, einerseits die Spur ihrer eigenen Genese zu sein, das heißt auf den Zeichnenden und sein Tun zurückzudeuten, und andererseits von sich weg auf anderes zu verweisen, bei einer einfachen horizontalen Linie beispielsweise auf den Horizont. Noch deutlicher als in der sprachlichen Artikulation werden wir angesichts eines solchen Strichs zum Zeugen eines fundamentalen Akts: der Genese eines Zeichens und seiner Kraft, gleichzeitig auf mehreres zu verweisen.
Der Hang, die Kunstgattung der Zeichnung anthropologisch oder medial zu universalisieren, wird zweifellos durch den Umstand befördert, dass die unüberblickbare stilistische und materielle Varianz der Realisierungen von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart es zwingend erscheinen lässt, einen Punkt zu bestimmen, um den sich alles anordnet, um der Fliehkraft der je besonderen Phänomene entgegenzuwirken und zu rechtfertigen, noch immer im Kollektivsingular von „der“ Zeichnung und „dem“ Zeichnen zu sprechen.
Diesem Universalismus (der sich auf mannigfache Zeugnisse seit der Antike berufen kann) sollte indessen eine Historisierung beigesellt werden. Gerade unter dem „Ursprünglichen“ verstehen die unterschiedlichen Epochen das denkbar Verschiedene – und praktizieren es entsprechend. Es sind, mit einem Begriff Ludwig Wittgensteins gesprochen, unterschiedliche „Sprachspiele“ des Primordialen, deren Reiz und Signifikanz in ihrer Besonderheit liegt. Der „Grund“, der im Zeichnen sichtbar zu werden scheint, ist kein überzeitlich gleicher; der Wandel der Kunst schließt den Wandel des Denkens über das eigene anthropologische oder mediale Fundament ein. Dies ist insbesondere mit Blick auf das 19. und das beginnende 20. Jahrhundert zu berücksichtigen, da die Kunst in diesen Jahrzehnten in einem vielschichtigen Prozess, der gemeinhin unter dem Begriff ihrer „Autonomisierung“ zusammengefasst wird, sich gleichsam neu erfand beziehungsweise neu erfinden musste. Alle drei Aspekte, unter denen wir eine künstlerische Zeichnung auffassen können: als Spur einer menschlichen Aktivität, als Kunstwerk und als zeichenhafte Darstellung, verändern sich im 19. Jahrhundert deutlich, denn nicht nur das Tun des Menschen, sondern auch die Kunst sowie schließlich auch die Darstellungsfunktion eines künstlerischen Bildes werden neu und anders aufgefasst.