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Zwei Aspekte der Formdynamisierung in der Kunst der Moderne
in: Form. Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis, hrg. v. Armen Avanessian, Franck Hofmann, Susanne Leeb und Hans Stauffacher, Zürich/Berlin 2009, S. 167-188.
„Die moderne Kunst beginnt in genau dem Augenblick, in dem dieselben Ursachen aufhören, dieselben Wirkungen hervorzubringen. Sie vereitelt die Reproduktion des Gleichen, die Zeugung desselben durch dasselbe.“ (Denis Hollier)
Einleitung
Seit Aristoteles‘ Metaphysik ist der Formbegriff in den Dualismus von Stoff und Form eingespannt. Im Bereich der bildenden Kunst entfaltet sich dieser auf zweierlei Weise: als Dualismus von Form und Inhalt sowie als Dualismus von Materie und Form. Die Stellung des Formbegriffs in diesen beiden Begriffskoppelungen ist allerdings konträr. Wird (wie in der älteren Kunsttheorie) das Kunstwerk als Repräsentation aufgefasst, erscheint der Inhalt als dessen eigentlicher Gehalt. So verfuhr auch die lange Zeit maßgebliche kunstwissenschaftliche Methode der Ikonologie, die den Inhalt als das ‚Wesen‘ des Kunstwerks, die Form (bzw. den ‚Stil‘) hingegen lediglich als dessen Gefäß begriff. Zur Kunst der Moderne passten das ikonologische Kunstverständnis und das ihm zugrunde liegende Repräsentationsmodell immer weniger. Die normativen Inhalte, die insbesondere die hohen Bildgattungen der religiösen und profanen Historienmalerei mit darstellungswürdigen Stoffen versorgt hatten, fielen im 19. Jahrhundert allmählich aus oder liefen leer, mit der Folge, dass die ikonologisch bestimmbare Inhaltsseite zunehmend schwerer als der Gehalt der Kunst betrachtet werden konnte. Das Ende dieses Modells war mit der ungegenständlichen Kunst erreicht, welche die Unterscheidung von außerkünstlerisch vorgegebenem Inhalt und künstlerisch realisierter Form undurchführbar werden ließ. Hier nun setzten Formästhetiken an, für welche die Formgebung das Entscheidende am Kunstwerk war. Im Übergang von der Inhalts- zur Gestaltästhetik vollzog sich zugleich der Wechsel vom Begriffspaar Form/Inhalt zum Begriffspaar Materie/Form, und in diesem letzteren dominierte eindeutig der Pol der Form. Das Vermögen der Kunst bestand nun nicht mehr in der Veranschaulichung signifikanter Inhalte, den die Form lediglich ‚transportierte‘, sondern in der Leistung, Materie (Leinwand, Farbe, Holz oder Stein) in sinnhafte Form zu verwandeln, wofür das Bildsujet häufig nur noch den äußerlichen Anlass bildete.
Was meint nun angesichts dieser beiden Begriffsdualismen ‚Dynamik der Form‘? Meine These lautet: Was sich in der Kunst der Moderne dynamisiert, ist nicht allein die Form (als unvollendete, offene, seriell wiederholte oder ephemere Form), sondern vielmehr die Relation der jeweils verkoppelten Begriffe. Die Relation von Form und Inhalt dynamisiert sich, indem die jeweilige Auffassung der künstlerischen Form darüber entscheidet, was dem Kunstwerk als Inhalt zugeschrieben wird, und die jeweilige Bestimmung des Inhalts darüber entscheidet, wie die künstlerische Form uns erscheint. Fraglich wird hier das Kunstwerk als Kommunikat. Die Relation von Materie und Form dynamisiert sich, indem das Kunstwerk die Formgebung als einen Prozess offenlegt. Der Streit zwischen Materie und Form wird auf Dauer gestellt, das Unvollendbare oder die Umkehrbarkeit des Formprozesses als Kunstwerk ausgestellt. Fraglich wird hier das Kunstwerk als Artefakt.
Beide Dynamisierungsprozesse sind, wie im Folgenden deutlich werden wird, eng miteinander verflochten. Aus analytischen Gründen sollen sie gleichwohl getrennt und nacheinander analysiert werden. Dies geschieht jeweils anhand von exemplarischen Werkbeispielen, womit dem Umstand Rechnung getragen wird, dass die Formdynamisierung in jedem Kunstwerk spezifisch ist.