Strassenkinder im Museum als Druckversion (PDF 1.250 KB)
Strassenkinder im Museum. Betrachtungen zu Kunst und Moral: Das Projekt „Devotionalia“
in: ZeitSchrift/Reformatio, Jg. 46, Nr. 1, Februar 1997 (Sondernummer „Moralismus“), S. 55-63.
Kapitel 1: Kunst und Moral
In regelmässiger Wiederkehr äussert sich bei manchen Künstlern und Künstlerinnen sowie bei einem Teil des Publikums ein Unbehagen, das durch ein kennzeichnendes Merkmal der modernen Kunst hervorgerufen wird – durch deren Autonomie und die damit einhergehende scheinbare Folgenlosigkeit für das Leben. Das Unbehagen stellt sich ein, weil das „bloss Ästhetische“ der Kunst dem Ethisch-Praktischen des „wirklichen Lebens“ entgegensetzt und damit zugleich eine klare Wertung vollzogen wird. Denn indem die Kunst vom Treiben der Welt bewusst Abstand nehme, offenbare sie sich als ein Bereich vermiedener Verantwortung, als spielerischer Immoralismus angesichts der brennenden Fragen einer unerlösten Wirklichkeit. Versuche, die Kunst an das „Leben“ neu anzukoppeln sind deshalb vielfältig erfolgt, allerdings jeweils ohne länger währenden Erfolg.
Augenblicklich ist das Unbehagen wieder gross. In den achtziger Jahren ergab sich das Missverständnis, das Problem des Verhältnisses von Kunst und Leben sei auf allseits beglückende Weise gelöst. Der Bedarf nach Kunst schien unstillbar, und endlich wurden nicht mehr nur die Alten Meister oder die Impressionisten begehrt, sondern gleichermassen die so akzeptanzgefährdete Moderne bis hin zur neusten Position. Kunstmessen und Auktionshäuser blühten, Museen für moderne Kunst schossen aus dem Boden, und Firmen entdeckten das Kunstsponsoring als Baustein der corporate identity. Gedanken über die Bedeutung der Kunst für das Leben erübrigten sich, der finanzielle Erfolg und die überwältigende gesellschaftliche Aufmerksamkeit entlasteten davon. 1990 jedoch brach der Kunstmarkt massiv ein, die öffentlichen Kulturbudgets wurden reduziert, und das Sponsoring fokussierte sich wieder auf konjunkturbeständigere Felder wie den Sport. Das plötzliche Austrocknen des Geldflusses schlug auf das Selbstwertgefühl der Künstler und das Interesse des Publikums unmittelbar durch, auf allen Seiten breitete sich Katerstimmung aus. Wenn aber eine seelische Baisse auf eine Zeit ungezügelten Gewinnstrebens und blinder Wachstumsausrichtung folgt, ist die Kunst, die ihr Selbstverständnis gerne jenseits des Materiellen bestimmt, besonders anfällig für die Behauptung, was ihr fehle, sei die Moral.
So nahe der Schluss liegt, so falsch dürfte er sein. Zunächst ist fraglich, was Boom oder Baisse mit der inneren Verfassung der Kunst zu tun haben. Warum van Goghs Lilien, um das einschlägige Beispiel zu nennen, 1987 54 Millionen Dollar wert waren und 1992 nur noch ein Fünftel davon, ist dem Bild selbst nicht abzulesen. Und dass die Stadt Frankfurt mit einer monströsen öffentlichen Schuld kämpft und natürlich zunächst bei der Kultur (und beim Sozialen) spart, hat nichts mit der gegenwärtigen Gesinnung der Kunst zu tun. Allerdings muss man sich nun eingestehen, dass die beschleunigte Geldzirkulation und die Besucherrekorde gar keine wirkliche Akzeptanz und kein tiefergehendes Verständnis der Kunst anzeigten. Denn nur so ist es erklärlich, dass mit dem Rückzug des Geldes auch gleich das Interesse an der Kunst wegbrach. Die Rekorde waren offenbar wichtiger als die Kunst. Damit wird es notwendig, den Wert der Kunst wieder unabhängig von Höchstpreisen und der Länge von Besucherschlangen zu definieren und sich an ihr eigentliches Potentials zu erinnern, das als Potential unvermindert weiterbesteht. Diese Rückbesinnung tut not, und zwar bei allen am Umgang mit Kunst Beteiligten, nicht aber die Remedur durch eine moralische Aufrüstung, um ihr einen höheren gesellschaftlichen Nutzen und einen besseren Sitz im Leben zu verschaffen.
Die Schnittmenge von Kunst und Moral
Dass das die falsche Remedur wäre, hat nicht nur mit der Einschätzung der gegenwärtigen Situation zu tun, sondern vor allem damit, dass sich unter modernen Bedingungen Kunst und Moral wohl stets verfehlen dürften. Wenn wir Moral als die Gesamtheit der Normen und Einstellungen definieren, die unser Handeln in der Rücksichtnahme auf den Lebensvollzug Dritter leiten und kontrollieren; und wenn wir Kunst als das Tun definieren, sinnliche Erfahrungen in formal stimmigen Gebilden zu verdichten, die ebensolche Erfahrungen für den Betrachter bereithalten – dann stellen wir fest, dass es zwischen Kunst und Moral unmittelbar keine Schnittmenge gibt. Denn welcher Lebensvollzug Dritter wird durch die so oder anders vollzogene Verfertigung eines Kunstwerks betroffen, ja sogar eingeschränkt oder missachtet? So gesehen bleibt künstlerisches Tun tatsächlich folgenlos, verglichen mit dem Tun in Politik, Rechtsprechung oder Ökonomie. Auf die formale und inhaltliche Optimierung des Werks ausgerichtet, eröffnet die Kunst Möglichkeiten, wobei sich auch diese – als Erkenntnisse oder als Gefühle von Lust oder Unlust – nur mittelbar lebenspraktisch auswirken. Die Betrachter und Betrachterinnen müssen selbst bereit sein, das Kunstwerk auf sich wirken zu lassen, von sich aus erzielt es keine Wirksamkeit. Dennoch wird immer wieder behauptet, die Öffentlichkeit sei verderblichen Auswirkungen der Kunst ausgesetzt und müsse davor im Namen der Moral bewahrt werden. Den angeblichen Schädigungen liegen jedoch umstrittene Wirkungstheorien zugrunde, die davon ausgehen, das Sehen von Unmoralischem, zum Beispiel einer Vergewaltigung, verleite die Betrachter zur Nachahmung. Die Auswirkungen von fahrlässiger Umweltvergiftung oder von gewinnmaximierendem Downsizing bedürfen solcher Theorien hingegen nicht, sie sind unmittelbar und quantifizierbar. Ausserdem blendet man die mögliche kritische Position der Kunst aus und unterstellt dem Künstler von vornherein, das Dargestellte gutzuheissen. Immoralismus-Vorwürfe an die Kunst maskieren normalerweise Angriffe auf das in ihr Dargestellte. So war die Kampagne gegen die Photographien Mapplethorpes in den USA in Wahrheit eine Hetze gegen die Homosexuellen, zu denen der Künstler und ein Teil seiner Modelle gehörten. Zugleich blitzt hier das Ressentiment gegen die offene, nicht normativ durchgeregelte und deshalb „unmoralische“ Gesellschaft und gegen den Künstler als deren negativen Protagonisten auf. Diese Haltung spiegelt sich aus – um die schlimmsten Beispiele zu nennen – in den Staatsaktionen unter Hitler und Stalin zur Eliminierung „entarteter“, beziehungsweise „formalistischer“ Kunst, die im Namen völkischer und sozialistischer Moral erfolgten.
Die Zuspitzung des Problems in der Moderne
Allerdings wurde die Schnittfläche von Kunst und Moral erst in der Moderne so wenig selbstverständlich; sie kann heute nur noch mit einigem argumentativem Aufwand hergestellt werden. Von der Antike über das Mittelalter und die Renaissance bis zur Aufklärung empfand man beide als eng aufeinander bezogen. Zwar liesse sich zeigen, dass Moral und Kunst auch hier getrenntere Wege gingen, als es zunächst den Anschein hat. Denn worin besteht die Moral der Kunst des „Apoll von Belvedere“, einer karolingischen Miniatur oder Tizians, vom Darstellungsinhalt einmal abgesehen? Aber es gab ein Drittes, das sie miteinander verband: die Religion sowie die gemeinsame Verpflichtung auf die gottgeschaffene Natur, deren Wohlgeordnetsein nach Mass und Proportion sowohl das Schöne wie das Gute zu definieren erlaubte. Bei wenigen verdeutlicht sich der vormoderne Zusammenhang von Kunst, Natur, Gott und Moral so wie bei Dürer, der sein Leben lang nach der „wahren Schönheit“ in Natur und Kunst forschte. So schreibt er in den „Vier Büchern von menschlicher Proportion“ (1528): „Dan dÿ kunst ist gros, schwer und gut, und wir mügen und wöllen sÿ mit grossen eren jn das lob gottes wenden.“ Und er warnt seine Kollegen: „Doch hüt sich ein jedlicher, dass er nichts unmügliches mach, das die natur nit leiden künn. Dann so es der natur entgegen ist, so ist es bös.“
Als jedoch in der frühen Moderne die Normativität der Natur wie die Religion aus dem Zentrum des künstlerischen Wollens verschwanden, fiel auch das vermittelnde Dritte zwischen Kunst und Moral weg, und beide treten jetzt in ihrer Geschiedenheit heraus. Das Problem verschärfte sich, da Kunst wie Moral seit der Aufklärung zu hochgradig wandelbaren Begriffen wurden, so dass sich die Schwierigkeit ergibt, das Verhältnis zweier Variablen bestimmen zu wollen – ein beinahe aussichtsloses Unterfangen. Aus diesem Grund wende ich mich nun einem Beispiel und somit der bestimmten Moral eines bestimmten Kunstwerks zu.
Kapitel I: Kunst und Moral | |
Kapitel II: Das „Devotionalia“-Projekt | |
Kapitel III: Einige Folgerungen | |
Strassenkinder im Museum als Druckversion (PDF 1.250 KB) |