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Poetik der Nachträglichkeit oder Das Warten des Marcel Duchamp
in: Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, hrsg. von Margit Kern, Thomas Kirchner und Hubertus Kohle, Berlin 2004, S. 461-469.
Kapitel III: Poetik der Nachträglichkeit
Bei Duchamp beginnt alles mit der Reproduktion, erweist sich als das Nachleben einer Gegenwart, die nie da war und deren bedeutete Präsenz immer im nachhinein und gleichsam als Hinzufügung rekonstituiert wird. „Meine Werke atmen“, sagte Duchamp, der sich in späteren Jahren selbst gerne als „Atmer“ beschrieb, wenn er nach seiner Profession gefragt wurde. Das hohe Alter, das Duchamp erreichte, erlaubte es ihm, eine über Jahrzehnte sich erstreckende beständige Metamorphose des „Flaschentrockners“ teils zu initiieren, teils lediglich zu beobachten. So wurde er Zeuge, wie das anfänglich unbemerkte und mehrfach verschwundene Objekt nicht nur zu einem der bekanntesten Kunstwerke der Moderne avancierte, sondern im nachhinein und gegen die rezeptionsgeschichtlichen Fakten zu einem der folgenreichsten Gründungswerke der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts erklärt wurde. Trotz der Kanonisierung aber bleiben Fragen, die bei Kunstwerken gemeinhin leicht zu beantworten sind, in irritierender Weise offen: Gibt es den „Flaschentrockner“ überhaupt, und wenn ja, in welcher Gestalt? Wer schuf ihn wann und wie? Statt das künstlerische Tun zu verdinglichen und zu trivialisieren, entpuppt sich das Readymade als Reflexion über ebendieses Tun. Der „Flaschentrockner“ thematisiert es, indem er es en abîme führt.
Duchamps Poetik der Nachträglichkeit, die „mit allen Formen der Verspätung“ arbeitete, bestimmte den schöpferischen Prozeß weniger als Verhältnis von Ursache und Wirkung, sondern als Abfolge verschiedener Zustände eines Systems. Dieses Verfahren prägte nicht nur die Readymades, sondern ebenso sehr auch die anderen, bereits erwähnten Hauptwerke (und dürfte übrigens auch Duchamps Interesse am Schachspiel erklären). Schon die äußerlichen Daten und Fakten verdeutlichen dies. Am „Großen Glas“, dem er den Untertitel „Verspätung aus Glas“ gab, arbeitete er nach längerer Vorbereitung acht Jahre lang, bis er es 1923 für endgültig unvollendet erklärte. Ein Grund für den Abbruch lag in Duchamps Überdruss, nur noch als handwerklicher Ausführungsgehilfe seiner bereits fertigen Ideen tätig zu sein, als Hand ohne Geist. Gegenüber dem Readymade kehrte sich die Situation hier um: Beim „Großen Glas“ waren es die Ideen, die „ready made“ vorlagen, während der Gegenstand erst danach hergestellt wurde. Auf dem Rücktransport von der einzigen Ausstellung, auf der das Werk je zu sehen war, 1926/27 im Brooklyn Museum, zerbrachen die Glastafeln und lagerten fortan in einem Depot. Als Duchamp, der bereits seit einem Jahrzehnt wieder in Paris lebte und offiziell nur noch Schach spielte, 1933 davon erfuhr, begann er die Arbeit an der „Grünen Schachtel“. In ihr versammelte er knapp hundert Notizzettel, die während der Konzeptionsphase des „Großen Glases“ entstanden waren. Seine vor zwanzig Jahren notierten Gedanken und Skizzen behandelte er dabei in genau derselben Weise, wie er später die Readymades als Multiples reproduzieren sollte: Jede Zufälligkeit der Tintenfärbung, der Papierqualität oder der Abrißkanten der verschiedenen Zettel wurde genauestens reproduziert. Bewußt schob Duchamp, wie er in einem Brief festhielt, dem Glasbild ein Textkorpus nach, das „so amorph wie möglich“ nie Form gewinnen sollte. Er ergänzte die Anschauung durch eine Lektüre, damit beide sich gegenseitig daran hinderten, eine „ästhetisch-plastische oder literarische Form zu gewinnen“. 1936, zwei Jahre nach dem Erscheinen der „Grünen Schachtel“, restaurierte er schließlich in monatelanger Arbeit das völlig zersplitterte Werk. Die Risse, die nun das gesamte Bildfeld durchzogen, akzeptierte Duchamp als neue Dimension des Werks, obschon er dafür nicht verantwortlich sei. Sie stellten jedoch eine „ready-made-Absicht“ dar, die er „respektiere und liebe“. Paradoxerweise führte also die Zerstörung des Werks zu seiner Wiedererweckung, ja, Neuerschaffung, vor allem durch die Publikation der „Grünen Schachtel“. Letztere verschaffte dem „Großen Glas“ erstmals ein Publikum, und mit einem Essay André Bretons von 1936 setzen die bis heute anhaltenden Versuche ein, das hermetische Werk aufgrund der ebenso hermetischen Notate zu deuten. Währenddessen jedoch blieb das „Große Glas“ selbst weitgehend unsichtbar. Das äußerst fragile, nicht reisefähige Werk befand sich bis 1954, als es im Philadelphia Museum of Art aufgebaut wurde, in einer amerikanischen Privatsammlung.
An „Etant donnés“ wiederum arbeitete Duchamp seit 1946 zwanzig Jahre im verborgenen, während er in Interviews die regelmäßig gestellte Frage, ob er die Kunst wirklich aufgegeben habe, ebenso regelmäßig bejahte. Seinem Willen gemäß wurde das Werk, das einem Environment ähnelt, jedoch nicht zu betreten ist, erst nach seinem Tod 1968 in New York abgebaut und im Philadelphia Museum of Art wieder errichtet. Dort wurde es am 7. Juli 1969 einer überraschten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Für den Transfer vom kleinen Raum eines Geschäftshauses, wo Duchamp das Werk fertiggestellt hatte, nach Philadelphia verfaßte er ein ebenso umfangreiches wie akribisches technisches Manual, dem er den Titel „Approximation démontable“, „Zerlegbare Annäherung“, gab. Im Falle von „Etant donnés“ überschritt Duchamps Poetik des stetigen Aufschubs sogar die Schwelle des eigenen Todes. Zugleich wußte er, daß die Nachricht des neuen und zugleich postumen Werks sein Œuvre und seine Künstlervita in ein völlig verändertes Licht rücken und manche der bisherigen Deutungen seines Kunstwollens falsifizieren würde, insbesondere diejenige, er habe das Kunstmachen seit langem zugunsten des Schachspiels aufgegeben. Niemand konnte ahnen, wie wörtlich der Schluß eines Statements zu nehmen war, das Duchamp 1961 in Philadelphia vortrug, und zwar genau in derjenigen Institution, für die er sein letztes Werk bestimmt hatte: „Zum Schluß hoffe ich, daß diese Mittelmäßigkeit, die durch zu viele, der Kunst per se fremde Faktoren bedingt ist, eine Revolution, diesmal eine von asketischer Art, herbeiführen wird, über die sich das große Publikum nicht einmal bewußt werden wird und die bloß einige Eingeweihte entwickeln werden, – am Rande einer Welt, die durch das ökonomische Feuerwerk geblendet ist. The great artist of tomorrow will go underground.“