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Die Wahrheit ist … / The Truth is …
in: Hilmar Boehle. Skulpturen, Objekte und Performances von 1978 bis 2009, hrsg. von Ulrich Krempel, Kettler, Dortmund, 2015, S. 121-153.
Kapitel 3
Boehles Kunst verschreibt sich diesem künstlerischen Verfahren, mit immer neuen ästhetischen und semantischen Folgen. Insgesamt steht sie im Zeichen einer Poetisierung der Wirklichkeit, die zum ersten Mal in der deutschen Romantik als ein Programm bestimmt wurde, die Kluft zwischen Subjekt und Welt durch ein gesteigertes Gefühl für die tieferen Zusammenhänge der Wirklichkeit zu überbrücken. Die alltäglichen Zusammenhänge, in denen die Dinge feststecken, werden gelockert, um stattdessen neue Zusammenhänge zu stiften, die im Augenblick, wenn sich die Dinge auf neue Weise zusammenschließen, zu ästhetischer Evidenz gebracht werden. Eine solche Poetisierung der Dingwelt schafft jenen „Freiraum“, den Boehle in der Kunst vermutet. Diesen Freiraum zu schaffen ist für ihn ein ebenso ethischer wie therapeutischer Imperativ: Die „heutige Gesellschaft“, so Boehle, brauche „den Künstler nötiger als primitive Kulturen ihren Medizinmann.“
So leichtfüßig Werke wie die Tänzerin daherkommen (der zahlreiche vergleichbare Arbeiten zur Seite gestellt werden könnten, beispielsweise Seestück von 1981, Grüne Träne – Ein Augenblick des Traums vom Glück von 1984, Blüte von 1986 oder Glühwürmchen von 1987): als bloße Form- und Wahrnehmungsexperimente wären sie missverstanden. Für Boehle ist die Frage nach der Form und ihren semantischen Potenzialen unmittelbar verwoben mit denjenigen nach der Erfahrungsfähigkeit des Menschen und nach den Freiheitsgraden in der Gesellschaft.
Selbst eine Arbeit wie Der Sonnenreflex in der Wasserkaraffe von 1988, die lediglich auf das im Titel genannte sinnliche Erlebnis bezogen zu sein scheint, postuliert in jenem Text, den Boehle der Arbeit als integralen Teil beifügt, dass solche Augenblicke Epiphanien sein können: Epiphanien, die der „Degradierung des Lebensraums zum Funktionsraum“ entgegenwirken, indem sie blitzhaft einen tieferen und wesentlicheren Zusammenhang zwischen den Dingen und den Menschen, dem Fluss der Zeit und dem uns umgebenden Raum aufscheinen lassen.
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