Boehle Kunst Selbstreflexion Künstlerfigur Kunstwelt

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Die Wahrheit ist … / The Truth is …

in: Hilmar Boehle. Skulpturen, Objekte und Performances von 1978 bis 2009, hrsg. von Ulrich Krempel, Kettler, Dortmund, 2015, S. 121-153.

Kapitel 4

Um die Wende von den späten 1980er zu den 1990er Jahren wandelt sich Boehles Kunst erneut. Zwar hält er an seinem künstlerischen Verfahren fest, alltägliche Dinge in seinen Arbeiten so zu inszenieren, dass sie anschaulich werden für sinnlich-ästhetische Aspekte ihrer selbst, und zugleich bildhaft anschaulich werden für ein Drittes, das sie thematisch werden lassen. Dieses Dritte, auf das die Arbeiten verweisen, betrifft nun aber immer ausdrücklicher Fragestellungen, denen wir bereits in den frühen Streetlife Drawings begegnet sind. Boehle fragt nach dem eigenen künstlerischen Tun, der eigenen Stellung in der Gesellschaft, der Sinnhaftigkeit von Kunst und ihren Möglichkeiten der Kritik. Bereits die Romantiker erkannten, dass das Programm einer Poetisierung der Wirklichkeit dann, wenn sie lediglich als Veränderung der eigenen Sensibilität, nicht aber als kritische Transformation der Wirklichkeit selbst sich vollzieht, in folgenloser ästhetischer Immanenz zu erstarren droht. Dieser ästhetischen Immanenz stemmt sich Boehles Werk immer entschiedener entgegen, bald in herausfordernder, bald in kammermusikalisch-melancholischer Tonlage. Letztere prägt Arbeiten wie Ombelico von 1989, bei der Boehle einen ungebrannten Tonblock mit einer kreisrunden Markierung versieht und in eine mit Zinkblech ausgeschlagene Holzkiste legt. Ästhetisch evoziert sie Beuys’ späte und sehr persönliche Arbeiten, semantisch wird sie durch einen ‚disguised symbolism‘geprägt, in welchem der ungebrannte Ton mit dem Bauchnabel (italienisch: ‚ombelico‘) als Chiffre für den Künstler steht, der als formbare Materie in einer Art Krippe liegt, in die der Betrachter hinabblickt. Ombelico wird zum Symbol für das plastische Potenzial wie zugleich für die Schutzlosigkeit des Künstlers.

In dieselbe Reihe indirekter Selbstporträts gehören die verschiedenen Varianten des Anzugs für einen Künstler von 1990. Die in Vitrinen hängenden Anzüge (die erneut auf Beuys hindeuten) kombinieren eine Kampfsport-Jacke mit Berufskleidungselementen und einer selbstgeschneiderten Schürze, in welcher statt Waffen oder Werkzeugen die Utensilien eines Malers griffbereit stecken. Das künstlerische Tun wird zwischen Berufspraxis und Kampfsport situiert, erscheint gleichermaßen als Angriffs- wie als Verteidigungsmöglichkeit; und selbstbewusst wird darauf verwiesen, dass die Kunst, genauso wie ein Kampfsport, Ausdauer, Selbstbeherrschung und Treffsicherheit voraussetzt.

Die Reflexion auf den eigenen Status überwölbt auch ganze Ausstellungsprojekte, beispielsweise die Sequenz von Räumen, die Boehle 1994 im Düsseldorfer Institut für künstlerische Forschung einrichtete und der er den bezeichnenden Titel Eine Party für Alleinen gab. Dem Selbstporträt ‚in disguise‘ begegnen wir hier erneut, in der Arbeit Kokon, einer nahe einer Ecke hängenden Körpereinwicklung, die Mumie und Larve, Mortifikation und Verheißung bald schlüpfenden Lebens ineinander blendet. Verschiedene Arbeiten dieser Mehrraum-Installation, die insgesamt einen stillen Lebens-, Arbeits- und Empfindungsraum evoziert, verwenden jene matt schimmernden Bleikügelchen, die als unterer Saum zur Straffung von Vorhängen eingesetzt werden, um sie eine je unterschiedliche Sinnbildlichkeit entfalten zu lassen: als Verbarrikadierung der Sicht (Der weiße Vorhang), als Verrinnen der Zeit (Kalendarium), als Rohstoff zur Zukunftsdeutung (Arbeitstisch) oder als auf dem Meeresgrund liegende Spur eines entschwindenden Fisches (Laichplatz).

Dramatisch gesteigert wird die existenzielle Aufladung eines Raums als Außenbild innerer Zustände in Boehles letzter Arbeit von 2009, der er den Titel Alkaldien gibt. Geprägt wird sie durch ein ausgebreitetes Feld von Kronkorken, abgebrochenen Flaschenhälsen und weiteren Glasscherben, zwei Bierkästen sowie drei Benzinkanister, die zusammen mit einer Holzdiele zu einer Sitzbank umfunktioniert sind. In dieser Arbeit, die Stephan von Wiese in seinem ebenfalls hier abgedruckten Text prägnant deutet, verbindet sich das resignierte Fazit, dass die Kontrolle des eigenen Lebens Wunsch bleiben muss, mit dem ätzenden Bild dessen, was vom Fest der Kunst übrig bleibt, wenn die Eröffnungsgäste weitergezogen sind.

Dieser zweite Aspekt von Alkaldien: die kritische Reflexion auf die Sitten und Gebräuche des Kunstbetriebs, stellt die Arbeit in eine Reihe weiterer Werke, in denen Boehle bald humorvoll, bald abgründig die Zwänge thematisiert, denen Künstler im Biotop der Kunst ausgesetzt sind. Zu dieser Reihe gehören, um nur weniges herauszugreifen, Jumping at SMMOA (1989), das den Künstler als Leistungssportler vorzeigt, der eine öffentliche Performance zu bieten hat, oder Value (1994), in welchem Preisschilder wie Spermien auf die golden glänzenden Lettern des titelgebenden Begriffs zustreben. Die umfangreichste Arbeit dieses Werkkomplexes, die in ihrer Gelassenheit ein komplementäres Gegenstück zu Alkaldien bildet, ist die Rauminstallation Von Aachen bis Zürich, die Boehle 1997 für das Sprengel Museum Hannover realisiert. An einer durchlaufenden roten Bilderleiste hängen, zu jeweils einem Streifen zusammengefügt, die Ausstellungsannoncen, die die Zeit wöchentlich publiziert und jeweils alphabetisch nach Orten (von Aachen bis Zürich) aufreiht. Deren serielle Reihung unterbrechen quadratische, monochrom weiße Wechselrahmen als Stellvertreter der annoncierten Kunst. Die über drei Meter langen Streifen werden zu ‚Zips‘, auf denen die klein gedruckten Annoncentexte zu einem an- und abschwellenden Ornament verschwimmen. Das nervöse Agieren des Kunstsystems organisiert sich, sobald man den richtigen Abstand dazu einnimmt, zu einer klaren ästhetischen Gestalt von überraschender Schönheit.

Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Hilmar Boehle Kapitel IV
Hilmar Boehle Kapitel V
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