Wittgenstein Philosophische Untersuchungen Aspekt Aspektwechsel

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Das Medium der ästhetischen Erfahrung
Wittgensteins Aspektbegriff, exemplifiziert an Pollocks Malerei

in: Imaginäre Medialität – Immaterielle Medien, hrsg. von Gertrud Koch, Kirsten Maar und Fiona McGovern, München 2012, S. 125-142.

Kapitel II: Wittgensteins Aspektbegriff

Den in Kambartels Analyse von Pollocks Gemälde fassbar werdenden Verstehensprozess als interne und externe Relationierung des Kunstwerks möchte ich nun anhand von Wittgensteins Ausführungen zum „Aspekt“ genauer und zugleich grundsätzlicher untersuchen. Diese Ausführungen finden sich im zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen sowie in einer Reihe vorbereitender und begleitender Schriften, die hier ebenfalls herangezogen werden.
Das Sehen eines Aspekts ist, so Wittgenstein, das Bemerken eines Aspekts an etwas, das man zuvor so nicht gesehen hat. Bemerkt man einen Aspekt, oder, anders gewendet, leuchtet ein Aspekt an etwas auf, dann ändern sich, so Wittgenstein, das Sehen und das Denken. Wittgenstein geht es darum, dualistische Auffassungen von Sehen und Denken zu unterlaufen. Es sei nicht so, dass sich, wenn ein Aspekt bemerkt werde, erst das Sehen und dann das Denken – oder umgekehrt – ändere. Beide Änderungen vollzögen sich vielmehr simultan. Wenn jemand sage, er sehe jetzt dies, dann sei das kein Bericht mehr über den Gegenstand, sondern über eine Modifikation, die das Deuten, das Sehen und den Gegenstand übergreife. Wenn ein Kind beim Hantieren mit einer Kiste ausrufe, dies sei ein Haus, drücke es damit nicht nur eine andere Auffassung der Kiste aus, sondern die Kiste sei in diesem Augenblick zum Haus geworden. Der Aspekt ist Wittgenstein zufolge weder ein intelligibles Objekt des Denkens noch ein physisches Objekt der Wahrnehmung. Ihn zu sehen heißt, etwas zu sehen, worauf man nicht zeigen kann.
Wenn wir am Wahrgenommenen einen Aspekt bemerken, machen wir, genau genommen, die Erfahrung eines Aspektwechsels, denn das Bemerken des Aspekts ist der Austausch einer bisherigen Auffassung durch eine neue – zum Beispiel der Auffassung „Kiste“ durch die Auffassung „Haus“. Bedeutsam an dieser Differenzierung ist für Wittgenstein, dass sie das Sehen insgesamt als ein Auffassen ausweist, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Sobald wir an einem Wahrnehmungsgegenstand die Erfahrung des Aspektwechsels gemacht haben, können wir sagen, dass jenes, was wir bislang sahen, ein Aspekt des Gegenstands war und nicht der Gegenstand selbst. Sobald an etwas mit einem Mal etwas anderes aufscheint, vollziehen sich demnach drei ineinandergreifende Modifikationen: die Verwandlung des Sehens in einen bewussten Akt, das Auseinandertreten von Wahrnehmungsgegenstand und Aspekt sowie die Neubestimmung des Gegenstands als Modifikation des Sehens und Denkens zugleich.
Solche Erfahrungen des Aspektwechsels haben, so Wittgenstein, etwas „Unbegreifliches“. Unbegreiflich daran ist die wundersame Vermehrung nicht nur seitens der Auffassungen, die wir vom Gegenstand gewinnen, sondern auch seitens des Gegenstands selbst. Zwar ist offensichtlich, dass sich materiell nichts geändert hat, und doch ist er plötzlich zu einem anderen geworden. Im Aspektwechsel verdoppeln sich sowohl die Wahrnehmung als auch der Gegenstand, bei vollem Bewusstsein der Dingkonstanz. Wittgensteins bündigste Formulierung dafür lautet:

„Der Ausdruck des Aspektwechsels ist der Ausdruck einer neuen Wahrnehmung, zugleich mit dem Ausdruck der unveränderten Wahrnehmung.“

Die paradoxe Erfahrung des Aspektwechsels lässt sich nach Wittgenstein nicht im Bericht zusammenfassen, man habe das Wahrgenommene in seinen vielen Facetten gesehen. Was gesehen werde – und was das Wahrgenommene in diesem Augenblick auch sei -, sei nicht die Vielfalt, sondern jeweils nur dieses oder jenes oder ein Drittes. Dramatisiert wird die Erfahrung des Aspektwechsels dann, wenn die einzelnen Aspekte miteinander „unverträglich“ sind.
Ich halte an dieser Stelle ein und erläutere das Referierte anhand von Kambartels Pollock-Deutung. Denn an dieser lässt sich nicht nur zeigen, was unter Aspektsehen zu verstehen ist, sondern ebenso, was Wittgenstein als jene staunenerregende Erfahrung des Aspektwechsels beschreibt. In jeder der drei Deutungsperspektiven Kambartels bemerken wir am Gemälde bestimmte Aspekte, etwa wenn uns das Gemälde bald wie eine Wand und bald wie ein immaterieller Tiefenraum erscheint. Am physikalischen Objekt ändert sich nichts, und dennoch wird es nicht nur in einzelnen Hinsichten, sondern insgesamt zu einem anderen, wenn es einmal als Wand und einmal als immaterieller Tiefenraum gesehen wird. Im Sinne Wittgensteins handelt es sich hier tatsächlich um den Wechsel zwischen miteinander unverträglichen Aspekten, denn wie sollte es möglich sein, dass etwas zugleich eine Wand und ein immaterieller Tiefenraum ist? Kambartels logischer Terminus für diese Unverträglichkeit lautet jeweils „Antinomie“. Hinsichtlich des großen Bildformats spricht er von dem Gemälde als einer „antinomischen Identität von Bild und Wand“. Qua Unbegrenztes erscheine Pollocks Gemälde wie eine Wand, über deren Oberfläche der Blick gleite, qua Begrenztes hingegen erscheine es wie ein Bild, in welches wir hineinzuschauen vermeinen. Hinsichtlich der All-over-Struktur der schwarzen Linien wiederum schwanken wir Kambartel zufolge zwischen einer Auffassung der Struktur als regularisierte bzw. als chaotische Kontingenz, woraus die „antinomische Aggressivität“ des Phänomens resultiere, das sich der Kategorisierung fortwährend entziehe. Und hinsichtlich der Action-Painting schließlich hält er es für entscheidend, dass sie zu einer „antinomischen Verbindung von Aktion und Sachverhalt“, temporalem Malprozess und fixiertem Bild führe. Offensichtlich erkennt Kambartel den wesentlichen Zug an der Erfahrung von Pollocks Gemälde darin, unsere Auffassung davon permanent in andere, kontradiktorische Auffassungen umschlagen zu lassen, sodass weder das Bild sich unter einem bestimmten Aspekt stabilisiert noch unsere Auffassung desselben – als Sehen und Denken – zur Ruhe kommt. Entsprechend heißt es in der kurzen Schlussbemerkung, die Kambartel auf seine drei analytischen Kapitel folgen lässt, das Prinzip, das die drei Deutungsperspektiven übergreife, sei am ehesten in der „permanenten Aggressivität als einer dauerhaften Verweigerung der Adaptation“ zu erblicken.
Wittgensteins Ausführungen zum Aspektsehen gelten ausdrücklich den jeweils aktuellen Wahrnehmungen. Er betont, dass es sich beim Begriff des Aspektsehens um einen „Erfahrungsbegriff“ handle. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass der Betrachter in der Auseinandersetzung mit einem Wahrnehmungsgegenstand – und insbesondere mit den komplexen Gegebenheiten von Kunstwerken – die unterschiedlichen am Gegenstand bemerkten Aspekte in einem umfassenderen Verstehen des Wahrgenommenen integrieren kann – in einem Verstehen, das gerade auf der Einsicht in die unterschiedlichen Aspekte des Gegenstands basiert. Diese Differenzierung zwischen der je aktuellen Erfahrung und einem die einzelnen Erfahrungen integrierenden Verstehen bestätigt sich mit Blick auf Kambartels soeben zitiertes Resümee seiner Pollock-Deutung. Ein solches Resümee setzt voraus, dass der Betrachter die einzelnen Aspekte des Gemäldes, die Kambartel nacheinander diskutiert, in eine integrative Deutung des Bildes eingehen lassen kann, auch wenn es ihm – wie Kambartels Analyse deutlich zeigt – aufgrund des antinomischen Verhältnisses der Aspekte zueinander nicht möglich ist, diese im Bild auch gleichzeitig zu sehen.

Einleitung
Kapitel I: Pollock – nach Kambartel
Punkt Manet Velazquez Kapitel II: Wittgensteins Aspektbegriff
Manet Velazquez Kapitel III: Aspektwechsel und Kunst
Kapitel IV: „Passen“
Kapitel V: Erfahrung und Interpretation
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