Warhol Todesserie Electric chair Car crash

Warhols Disaster-Diptychen als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 519 KB)

spacer

Warhols Disaster-Diptychen: Das Dementi als Bildform

in: Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit, hrsg. von Anke Hennig und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 71), Wien/München 2008, S. 475-507.

1. Death in America

Warhols Diptychen gehören fast ausnahmslos zur sogenannten Todes-Serie, die das Werk der frühen und mittleren 1960er Jahre zahlen- und bedeutungsmäßig dominiert. Sie bildet ein wahres Panoptikum von Toten und Todesformen, von Unfallopfern über den elektrischen Stuhl und die Atombombe bis zum Selbstmord Marilyn Monroes oder der Erschießung John F. Kennedys. Die Serie umfasst zwei Unterserien. Die eine handelt von berühmten Toten wie Marilyn Monroe, wodurch sich hier Überschneidungen mit Warhols Serie der Starporträts ergeben. Die andere Unterserie, die sogenannten Disaster Paintings, befasst sich hingegen mit anonymen Toten. Sie ist Warhols motivisch und formal radikalste Werkgruppe. Sie zeigt gewaltsame Todesformen, deren ‚Modernität‘ unter anderem darin liegt, dass sie häufig mit technischen Apparaten verbunden sind. Der Tod tritt als Ergebnis falschen Funktionierens (Car Crashes) oder präzisen Funktionierens (Electric Chairs) ein. Im Augenblick des Todes verbinden sich Mensch und Maschine zu einer verhängnisvollen Einheit. Bei den Electric Chairs stirbt der Mensch durch den körperlichen Kontakt mit dem Stuhl, an den er festgeschnallt ist, bei den Car Crashes sterben Mensch und Maschine gewissermaßen gemeinsam. Warhols Disaster führen ausgesprochen theatralische Todesformen vor. Entweder bricht die Wucht des Aufpralls den Innenraum des Autos auf und gibt den Blick auf die Leiche frei, oder die Leichen werden aus dem Wagen heraus dem Betrachter entgegengeworfen. Die Theatralität kann so weit gehen, dass der Tod gleich zweifach inszeniert erscheint. In White Disaster I erlitt der Fahrer nicht nur einen heftigen Unfall, dem er kaum lebend entkommen wäre, sondern wurde darüber hinaus so aus dem Wagen geschleudert, dass er wie ein Gehängter an einem Telefonmast baumelt. Ambulance Disaster wiederum zeigt eines von zwei Notfallfahrzeugen, die vom gleichen Unfallort aufbrachen und später zusammenstießen. Dadurch wurde die aus dem Wagen heraushängende Frau zum zweiten Mal zum Verkehrsopfer, diesmal in dem Fahrzeug, das sie hätte retten sollen. Warhol musste nach solchen Bildern lange suchen, und seine Freunde, darunter solche, die in Bildredaktionen arbeiteten, versorgten ihn zusätzlich mit dem Sensationellsten, das sie finden konnten.

Gerade weil sich diese Tode nicht in der Intimität eines Sterbezimmers vollziehen, sondern in der Öffentlichkeit, stehen sie in einem ambivalenten Bezug zum Betrachter. Zum einen ‚platzen‘ die malträtierten Körper in die Sichtbarkeit hinein und drängen sich unserem Blick geradezu auf, zum anderen gewinnt der ungehinderte Blick darauf einen obszönen Zug, angesichts einer Situation, bei der Zurückhaltung oder aber entschiedenes Eingreifen angemessen wäre. Dieser obszöne Blick ist zuweilen in den Bildern selbst enthalten. Im Hintergrund von White Disaster I geht ein Mann, die Hände in die Hosentaschen gesteckt und den Kopf zum Unfallort gewendet, unbeteiligt seines Weges. In diesem Aufeinanderprallen von höchster Dramatik und Gleichgültigkeit, das die Qualität eines Bartheschen „punctums“ erreicht, spiegelt sich die Heterogenität zwischen dem Ereignis und dessen Betrachtung: die Unmöglichkeit, sich zum Sichtbaren in ein sinnvolles Verhältnis zu setzen. Im Falle eines weiteren Car Crash-Motivs stehen wir sogar Auge in Auge mit den beiden weiblichen Unfallopfern, welche die Kollision überlebt haben und auf ihre Befreiung aus dem Autowrack warten; obszön erscheint hier nicht nur der Blickwechsel über die Bildgrenze hinweg, sondern auch die Tatsache, dass jemand dieses Foto schoss und dabei die beiden Frauen sozusagen porträtierte.

Die Electric Chairs führen eine noch wörtlichere Variante theatralischen Sterbens vor: Das Sterben erhält seine eigene Bühne und sein eigenes Publikum. Das Hinweisschild mit dem Wort SILENCE beginnt im Hinrichtungsraum immer dann zu leuchten, wenn der Stromstoß unmittelbar bevorsteht, als Schweigeaufforderung an die gesetzlich vorgeschriebenen Zeugen, die dem Verurteilten gegenübersitzen. Die Ungleichheit zwischen Verurteiltem und Zeugen, die das Hinrichtungsgeschehen von einer Bühnensituation unterscheidet, findet seine Entsprechung in einer asymmetrischen Blickbeziehung. Denn die Zeugen sitzen hinter einer einseitig verspiegelten Scheibe, die ihnen den Blick erlaubt, den Warhols Bild zeigt, sie zugleich aber vor dem Verurteilten verbirgt. Bereits als Motiv verweisen die Electric Chairs auf einen Aspekt, der angesichts von Warhols bildnerischer Verarbeitung erneut anzusprechen sein wird: das Wiederholungsmoment. Hier ist es dadurch gegeben, dass die Verurteilten wechseln, der Stuhl hingegen bleibt. Das zu exekutierende Subjekt bleibt ausgespart, wir sehen lediglich die Bühne, vor oder nach dem Akt. Damit ist eine generelle Spannung von Warhols Disasters berührt, die Peggy Phelan als Spannung zwischen „performance“ und „performativity“ beschreibt. Auf der einen Seite zeigten die Bilder, so Phelan, die individuelle Performance des Sterbens – dieses Mannes am Telefonmast, jener Frau im Ambulanzfahrzeug -, auf der anderen Seite deren Einrücken in die allgemeine Performativität des Todes, in die zahllosen Autounfälle, Hinrichtungen oder Selbstmorde, die bereits geschehen sind und noch geschehen werden. Warhols Bilder thematisierten, so Phelan weiter, die Kluft, aber auch den Übergang zwischen dem singulären Tod, der die Geschichte entzweie und das Sprechen unterbreche, und der Iteration des Todes, die das einzelne Sterben als kulturelles Phänomen und als statistische Größe banalisiere und dem Diskurs wieder öffne.

Einleitung
Punkt Warhol Disaster-Diptychon 1. Death in America
Pfeil Warhol Disaster-Diptychon 2. Von der Faktografie zur Faktur
3. Blanks
4. Das Dementi als Bildform
spacer
Warhols Disaster-Diptychen als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 519 KB)