Warhol Leere Leinwand Figur Grund Monochromie

Warhols Disaster-Diptychen als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 519 KB)

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Warhols Disaster-Diptychen: Das Dementi als Bildform

in: Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit, hrsg. von Anke Hennig und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 71), Wien/München 2008, S. 475-507.

3. Blanks

Die leeren Bildtafeln, auf die ich nun zu sprechen komme, stellen gewissermaßen die Auslagerung und Verselbständigung jener offen gebliebenen Leinwandpartie in White Disaster I dar. Warhol bezeichnete sie als „blanks“ – wie screen ein mehrdeutiges Wort. Es meint nicht nur leer und unbeschrieben, sondern auch ausdruckslos; auch an die Wortverbindung mental blank – Erinnerungslücke, sei in diesem Zusammenhang erinnert. Die Genese der leeren Leinwände hat bei Warhol nichts mit einer künstlerischen Entwicklung zur Ungegenständlichkeit zu tun, sondern dürfte sich aus der technischen Herstellungsweise der Siebdruckbilder erklären. Warhol begann jeweils mit dem Ausrollen der Leinwand auf dem Boden, grundierte sie farbig und bedeckte sie schließlich mit den schwarz gedruckten fotografischen Motiven. All dies spielte sich vor dem Zuschneiden und Aufspannen der Leinwände ab. Bereits die innerbildliche Serialität, also das mehrfache Zeigen desselben Motivs auf einer einzigen Leinwand, dürfte der Entscheidung geschuldet sein, die bedruckte Leinwand nicht wie geplant zu zerteilen, sondern als ein einziges Bild zu belassen. Auf diese Weise entstand aus einem Produktionsprinzip ein Formprinzip. Dasselbe gilt nun, wie ich vermute, auch für die leeren Leinwände, mit dem Unterschied, dass der Herstellungsvorgang hier noch früher abgebrochen wurde. Die blanks sind nicht zu Ende produzierte Bilder, Leerstellen im Tafelbildformat, Grund ohne Figur.

Warhols bildnerisches Vorgehen – das in den Diptychen besonders anschaulich wird, da sie gleichsam zwei Produktionsstufen desselben Bildes zeigen – radikalisiert die Figur-Grund-Problematik, welche die moderne Malerei spätestens seit Cézanne und dem Kubismus prägte. Mit Radikalisierung ist gemeint, dass Figur und Grund hier als distinkte, ja autonome Bildkomponenten vorgeführt werden, die erst auf der Oberfläche des Bildes zueinander kommen, indem sie buchstäblich übereinander gelegt werden. Damit kommt eine dritte Wortbedeutung von screen ins Spiel: die Projektionsleinwand. In Warhols screen prints entstehen Figur und Grund nicht im Zuge desselben bildnerischen Prozesses, so wie es in der klassischen Malerei der Fall ist. Vielmehr stellt Warhol zunächst den Grund als einen materiellen Träger her, auf den die Figur – d. h. die Drucke – in einem zweiten Schritt gleichsam projiziert werden.

Als distinkte Komponenten erscheinen Figur und Grund aber auch deshalb, weil die bunten, heiteren Farbgründe ein strikt heterogenes Moment ins Bild bringen. Warhols Farben begleiten das Dargestellte nicht wie Filmmusik, die das visuelle Geschehen passend und effektsteigernd umspielt. Zwischen den Bilderbuchfarben und den gezeigten Katastrophen klafft vielmehr eine Lücke, und beides stößt sich gegenseitig ab.

Obwohl Figur und Grund (bzw. Motiv und Farbe) in produktionstechnischer wie auch in ästhetischer Hinsicht distinkte, ja heterogene Bildbestandteile sind, treten sie aufgrund von Warhols Siebdruckverfahren in eine intensive Wechselbeziehung. Das liegt insbesondere an der forcierten Aufrasterung der Fotografien, die dazu führt, dass die Motive von der Grundierungsfarbe regelrecht imprägniert werden. Wenn Warhol seine Bilder Blue Electric Chair oder Green Car Crash nennt, ist das jeweils ganz wörtlich zu verstehen: Alles im Bild wird blau oder grün. So ist beispielsweise die Rückenlehne des elektrischen Stuhls genau so strahlend blau wie die Bildtafel rechts. Denn da die Übersteuerung des Bildkontrasts, die zur Eliminierung der Zwischentöne führen sollte, an dieser Stelle des Drucksiebs nur eine leere, lediglich durch die Außenkontur bestimmte Fläche erzeugte, kommt die Grundierungsfarbe hier ungebrochen zum Vorschein. Auf diese Weise gewinnt Warhol die Möglichkeit, allein durch das Kombinieren des Siebs mit verschiedenfarbigen Leinwänden verschiedene Varianten desselben Gegenstandes zu erzeugen. Eine blaue Leinwand, obschon lediglich die Projektionsfläche für das Druckmotiv, erzeugt einen blauen elektrischen Stuhl, eine rote Leinwand einen roten, usw. Auf diese Weise gelingt Warhol das Paradox invarianter Varianten. Dieses Paradox der Todesbilder, immer gleich und immer anders zu sein, führt uns zu Peggy Phelans Unterscheidung von „performance“ und „performativity“ zurück: zum problematischen Verhältnis zwischen dem irreduzibel singulären Sterben und der Allgemeinheit des Todes, das sie in Warhols Bildern verkörpert sieht.

Das gegenstrebige Verschmelzen und Auseinanderfallen von Figur und Grund führt nun bei den blanks dazu, dass das Motiv, obschon es dort gerade nicht erscheint, in ihnen gleichwohl nachhallt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dieses habe sich darin aufgelöst wie ein Eiswürfel im Wasser. So erscheinen die blanks als Aufhebung des Bildes. Es geht darin zu Grunde und bleibt in diesem Grund zugleich aufbewahrt.

Einleitung
1. Death in America
2. Von der Faktografie zur Faktur
Punkt Warhol Disaster-Diptychon 3. Blanks
Pfeil Warhol Disaster-Diptychon 4. Das Dementi als Bildform
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