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Drei Dimensionen des Unverfügbaren im künstlerischen Bild
in: Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung, hrsg. von Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch und Daniel Tyradellis, Zürich/Berlin 2013, S. 211-228.
Kapitel 3: Das Unsichtbare im Bild
Ebenso wie das Vorhandensein einer Bildfläche gehört auch die Sichtbarkeit zu den unbezweifelbaren Eigenschaften eines Kunstwerks. Aus phänomenologischer Perspektive ist die Sichtbarkeit des Bildes – wie in jüngerer Zeit Lambert Wiesing herausgearbeitet hat – sogar dessen mediales Alleinstellungsmerkmal. Sichtbarkeit ist der Modus, in den das Bild dasjenige, was es zeigt, überführt, unter Preisgabe aller anderen Eigenschaften, beispielsweise Materialität oder Geruch. Während Sichtbarkeit normalerweise keine substanzielle, sondern eine den Dingen bloß ›anhängende‹ Eigenschaft ist, wird sie im Bild zu einer eigenständigen Form des Seins. Das Bild zeichnet sich nach Wiesing durch ›reine Sichtbarkeit‹ aus, wobei sich das Attribut der ›Reinheit‹ sowohl darauf bezieht, dass vom Ding hier nur seine Sichtbarkeit berücksichtigt wird, als auch darauf, dass das Ding zwar zu sehen, jedoch als solches abwesend ist.
Wiesing wurde häufiger vorgeworfen, eine auf ›Sichtbarkeit‹ fokussierte Bildtheorie verkenne andere Bildaspekte, die insbesondere im Falle von Kunstwerken gleichermaßen wesentlich seien, beispielsweise deren Materialität, Bedeutungshaftigkeit oder Historizität. Meine Infragestellung von Wiesings Argument ist anderer Art. Das bildtheoretische Definiens der ›Sichtbarkeit‹ relativiere ich nicht mit dem Hinweis auf andere substanzielle Aspekte künstlerischer Bilder. Vielmehr möchte ich zeigen, dass beim künstlerischen Bild die ›reine Sichtbarkeit‹ selbst unterminiert wird. Erneut geht es mir darum, auf ein Unverfügbares inmitten des Verfügbaren, auf eine inhärente Negativität hinzuweisen, und das heißt in diesem Falle, auf das Unsichtbare im Sichtbaren. Dieses Unsichtbare wird akut, sobald wir nicht die begriffliche Bestimmung von Bildlichkeit, sondern die konkrete Erfahrung von Kunstwerken ins Auge fassen.
Zwei unscheinbar wirkende Bemerkungen können uns auf die Spur des Gemeinten führen. Die erste stammt von Walter Benjamin, der in der Einbahnstraße notiert, der Ausdruck der Menschen, die sich in Gemäldegalerien bewegten, zeige eine schlecht verhehlte Enttäuschung darüber, dass dort nur Bilder hingen. Benjamins Bemerkung lässt sich in zweierlei Hinsicht deuten. Die Enttäuschung kann darin gründen, dass die ›Sichtbarkeit‹ der Bilder notwendig mit der Abwesenheit dessen verknüpft ist, was sie zeigen. Sie kann aber ebensogut daraus resultieren, dass die Bilder gerade dies und nichts anderes zeigen. Die zweite Bemerkung fällt im Zusammenhang einer Studie von Louis Marin über das Verhältnis von Bild und Betrachter. Marin spricht hier vom rätselhaften Tausch-Zeremoniell, das sich vollziehe, wenn ein Galeriegänger scheinbar grundlos vor einem Bild stehenbleibe und es betrachte. Benjamin und Marin lenken den Blick von der phänomenologischen Bestimmung von Bildlichkeit auf die kommunikative Situation, die in Kunstwerken angelegt ist. Sie sind Orte eines Austauschs, wo sich die Absicht des Betrachters, etwas zu sehen, mit der künstlerischen Absicht kreuzt, etwas zu zeigen. Und genau im Augenblick dieses Kreuzens von Sehenwollen und Zeigenwollen wird das Moment des Unsichtbaren virulent.
Eine erste Manifestation dieses Unsichtbaren kam bereits im Zuge der Betrachtung von Manets Balcon ins Spiel. Die ›Begegnung‹ von Bild und Betrachter wird im Balcon entscheidend dadurch geprägt, dass wir in Augen blicken, auf etwas schauen, was uns verborgen bleibt. Inmitten des Sichtbaren klafft ein Mangel: die Unsichtbarkeit dessen, was die Figuren sehen. Worauf ihr Blick ruht, liegt unsichtbar in unserem Rücken. Es ließe sich nur erkennen, wenn wir die Seite wechseln und die Welt aus der Perspektive der Bildfiguren betrachten könnten. Da dies unmöglich ist, wird das Sichtbare vom Unsichtbaren gleichsam ›durchlöchert‹.
Diese Durchdringung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ereignet sich nicht nur im singulären Fall des Balcon, sondern in all jenen ›transitiven‹ Bildern, in denen sich das Bildgeschehen zwischen einem Pol innerhalb des Bildes und einem Pol außerhalb des Bildes entfaltetet, beispielsweise in einer Darstellung Christi unter den Schriftgelehrten, bei der Christus weniger die Schriftgelehrten als vielmehr den Betrachter zu lehren scheint, oder bei einem Verkündigungsbild, in dem wir die vom Engel angesprochene Maria frontal erblicken, nicht aber den Engel, der sozusagen neben dem Betrachter stehend zu imaginieren ist. Das Sujet ist hier jeweils darauf angelegt, sich diesseits des Bildes, im Raum des Betrachters, zu vollenden – eine Vollendung, die aufgrund des Fehlens eines Pols nicht gelingen kann. Das Bildgeschehen nimmt die Form einer Ellipse an, deren Brennpunkte ›Sichtbarkeit‹ und ›Unsichtbarkeit‹ sind.
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verschränken sich in Kunstwerken jedoch nicht allein aufgrund gewisser Bildsujets, sondern in einer allgemeineren, vom jeweiligen Sujet unabhängigen Art und Weise, und es ist zweifellos jenes Allgemeinere, das Benjamin und Marin im Blick haben, wenn sie den Austausch zwischen Bild und Betrachter als eigentümlich grundlos und rätselhaft sowie von Enttäuschung durchzogen bestimmen. Um diesem Allgemeineren näher zu kommen, ziehe ich, ähnlich wie im vorherigen Abschnitt Wittgenstein, erneut eine Autorität zu Rate. Diesmal ist es Jacques Lacan, der in seinem Seminar über die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse einige für unseren Zusammenhang einschlägige Hinweise gibt.
Lacan thematisiert Gemälde nicht als Artefakte, deren verborgene Bedeutung es zu entschlüsseln gilt. Die kunstwissenschaftliche Frage, was ein bestimmtes Kunstwerk bedeute, ersetzt er vielmehr durch die grundsätzliche Frage, was den Maler dazu bewegt, Bilder zu produzieren, und was umgekehrt dem Betrachter widerfährt, wenn er Bilder anschaut. ›Bedeutung‹ erhält die Struktur eines Ereignisses: Sie ist ein Geschehen, das sich nicht auf die Denotation innerbildlicher Gegebenheiten oder außerbildlicher Kontexte historischer, soziologischer oder individualpsychologischer Art zurückbringen lässt. Selbst den ästhetischen Charakter des Kunstwerks ordnet Lacan einer Funktionsbestimmung des Bildes unter – einer Funktionsbestimmung in Bezug auf das Subjekt, das sich im Feld des Sehens und der Sichtbarkeit positioniert und artikuliert. Lacan geht sogar so weit zu betonen, Sinn und Zweck eines Bildes lägen nicht in dem, was auf ihm dargestellt sei. Wenn das Subjekt am Sichtbaren hänge, dann weniger wegen dem, was es dort sehe. Den intensivsten Bezug zwischen Subjekt und Sehfeld stiften vielmehr, so Lacan, die Stellen, wo es etwas nicht sieht. Dabei handelt es sich um eine strikte Negativität, »unbefriedigt, unmöglich, verkannt« – um ein »Rendez-vous«, zu dem man stets gerufen ist und das man dennoch immer verpasst. Wie ist das zu verstehen?
Auf den begehrenden Blick des Betrachters, sehen zu wollen, reagiert der Maler, so Lacan, mit der Gabe des Gemäldes, das ein Teil seiner selbst ist und doch nicht er selbst, sondern vielmehr eine Art Schild oder Maske, die ihn zugleich zeigt und verbirgt: »Der Maler gibt dem, der sich vor sein Bild stellt, etwas, das […] in der Formel zusammenzufassen wäre – Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das!« Der Schautrieb des Betrachters soll durch diese Gabe so weit zufrieden gestellt werden, dass er seinen »gefräßigen« Blick darin deponiert, so wie man »Waffen deponiert«. Für Lacan ist das Gemälde ein Medium, das buchstäblich ›zwischen‹ Maler und Betrachter steht, und als ein solches ›Zwischen‹ hat es zwei ineinander verwobene Funktionen. Als ›image‹ (Abbild) eröffnet es einen imaginären Ausblick von der einen auf die jeweils andere Seite, als ›écran‹ (Schirm) hingegen trennt es beide Seiten voneinander. Der ›hinter‹ der Leinwand stehende Maler trägt auf die Leinwand jene Farbmarkierungen auf, die er dem Betrachterblick als ›Gabe‹ darbietet, die ihn aber zugleich, als ›Trübung‹ des Mediums, vom Betrachterblick abschirmen. Auf der anderen Seite steht der Betrachter, der im Bild zweierlei (nicht) sieht: das auf dem Bild Dargestellte sowie den das Bild hervorbringenden Maler. ›Image‹ und ›écran‹ sind konkurrierende Funktionen derselben Leinwand, weswegen sie fortlaufend ineinander umkippen. Das Gemälde ist das Medium einer Kommunikation, in deren Zentrum der begehrende, ›gefräßige‹ Blick steht – aber als einer, den es qua Bild auszusperren gilt, und zwar mit einer ›Sichtbarkeit‹, die mit ihrem Zeigen zugleich anderes verdeckt.
Dem Spiel der Malerei zwischen Schein und Sein, Täuschung und Enttäuschung gibt Lacan folglich eine überraschende Wendung. Für ihn liegt das Täuschende der Malerei nicht darin, dass das Dargestellte nur scheinhaft anwesend ist, und die Enttäuschung wiederum liegt nicht darin, dass die Scheinhaftigkeit durchschaut und das Sichtbare in seiner bloßen Bildlichkeit erkannt wird. Das Scheinhafte der Kunst begründet für Lacan sogar deren »pazifizierende, apollinische Wirkung«: Hinter dem Schein lauert nicht das Reale, sondern der Schein des Bildes ist hier bereits alles, was es zu sehen gibt, weswegen ein Gemälde gefahrlos und mit ›friedlichem‹ Blick betrachtet werden kann. Die eigentliche Enttäuschung in der Malerei liegt in etwas anderem: nämlich darin, dass das Bild mir nie das zeigt, was ich sehen will. Jener von Lacan imaginierte Satz des Malers: »Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das!«, fordert eine implizite Antwort des Betrachters heraus: Warum das – und nicht etwas anderes? Warum Menschen auf einem Balkon, warum eine stellare Konstellation? Eine unaufhebbare Asymmetrie des Begehrens macht die Begegnung von Bild und Betrachter ›grundlos‹: entzieht ihr den Grund, der eine erfüllende Reziprozität garantierte. Zwischen Bild und Betrachter öffnet sich eine kommunikative Lücke, die die Rede von der ›Selbstbezüglichkeit‹ des Kunstwerks nur notdürftig verdeckt.
Mit Wittgenstein habe ich von der Anerkennung des Bildes gesprochen, die vonnöten sei, um die Jeweiligkeit seiner Ordnung erkennen zu können. Bei Lacan gewinnt das Argument eine weitere Dimension. Wenn ich ein Gemälde betrachte, muss ich anerkennen, dass es mir gerade dies zeigt, auch wenn ich vielleicht anderes sehen möchte, und ich muss anerkennen, dass es mir gerade so gezeigt wird, auch wenn ich es vielleicht anders sehen möchte. Darin liegt die immanente Ambivalenz der ›reinen Sichtbarkeit‹ des Bildes. Sie stabilisiert sich nicht zu jener strahlenden Präsenz, die ihr Wiesings Phänomenologie zuschreibt. Stattdessen wird sie von der ebenso ungreifbaren wie hartnäckigen Negativität durchzogen, uns anstelle von dem dargeboten zu werden, was uns nicht gezeigt wird. Soll dies nicht zu jener Enttäuschung führen, die Benjamins Galeriegänger empfinden, muss die ›Grundlosigkeit‹ dessen, was ich sehe, als jener Grund anerkannt werden, auf dem Bild und Betrachter sich begegnen.
Einleitung | |
Kapitel I: Die Bildfläche | |
Kapitel II: Die Bildordnung | |
Kapitel III: Das Unsichtbare im Bild | |
Schluss | |
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