Roy Lichtenstein Spiegel Wahrnehmung Bildzeichen Abstraktion

Lichtenstein Mirror als Druckversion (PDF mit Abb. 4.720 KB)

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Roy Lichtenstein: Mirror (1972)

in: Sammlungskatalog Fondation Beyeler. Neuzugänge 1998-2003, Riehen/Basel/Wolfratshausen 2003, S. 36-37.
Lichtensteins Bilder haben eine ausgeprägt konzeptuelle Seite, die Fragen der Gegenstandswahrnehmung und -darstellung betrifft. Sie versuchen jeweils den Punkt zu treffen, wo an sich bedeutungslose, formalisierte Bildzeichen in ein gegenständliches Wiedererkennen umschlagen. Darin begründet sich auch Lichtensteins Interesse an Cartoons.
In ihnen entdeckte er eine Bildsprache, die die Spannung zwischen abstrahierenden Bildchiffren und drastischer Gegenständlichkeit maximalisiert. Zudem faszinierte ihn, dass sie sogar für flüchtige, kaum darstellbare Dinge wie Explosionen oder Lichtstrahlen schlagkräftige Bildchiffren zu finden wissen. Cartoons waren für ihn das Paradebeispiel dafür, dass gelingende Repräsentation nicht von einer naturalistischen Darstellungsweise abhängt, sondern von der Gewöhnung an Darstellungskonventionen.
Die Serie der Mirrors bildet vermutlich die äusserste Verdichtung der Darstellungs- und Wahrnehmungsthematik in Lichtensteins Werk. Das liegt nicht zuletzt an ihrem Gegenstand, dem Spiegel, der seit Platon als Metapher für die illusionistische Qualität eines Bildes gilt. Ein Spiegel zeigt die Wirklichkeit genau so, wie sie ist. Als Gegenstand tritt er dabei hinter den wechselnden Inhalt, den er zeigt, zurück. Als er selbst bleibt er praktisch unsichtbar. Lichtensteins Mirror hingegen lässt nichts Gespiegeltes erkennen. Er vollbringt das Kunststück, nicht etwas Gespiegeltes, sondern das Spiegeln selbst zu zeigen. Die bildnerische Lösung dafür zu finden war nicht leicht. „Es brauchte einige Zeit“, so Lichtenstein, „um zu etwas zu gelangen, das ein ausreichend interessantes abstraktes Bild war und das man gleichzeitig für einen Spiegel halten konnte.“ Die beiden Aspekte, die Lichtenstein nennt – abstraktes Bild und Spiegeldarstellung – stehen dabei in grösstmöglicher Spannung zueinander. Wir sehen Rasterpunkte und verschiedenfarbige Streifen, die in keiner Hinsicht einem Spiegel zu ähneln scheinen und dennoch einen solchen zu illusionieren vermögen. An den Rasterpunkten, Lichtensteins Markenzeichen, wird dies besonders augenfällig. Eigentlich sind sie ein drucktechnisches Mittel, Halbtöne und Mischfarben hervorzubringen. Entsprechend erscheint die blau gepunktete weisse Fläche in Mirror als lichtes Hellblau. Die starke Vergrösserung der Rasterung sowie deren regelmässige Skalierung erzeugen zugleich einen Flimmer-Effekt, der die Flächigkeit des Bildes optisch transzendiert und einen ungreifbaren, lichtvollen Raum evoziert, der sich im Spiegel abzuzeichnen scheint. Faktum und Wirkung, gerasterte Fläche und Tiefenillusion, Materialität des Bildes und Immaterialität der Erscheinung werden gegeneinander ausgespielt und somit gleichzeitig wahrnehmbar. Wir können gewissermassen unserem Sehen zuschauen, wie es die visuelle Information in Gegenstandserkenntnis umsetzt. Wenn „Sehen“ normalerweise bedeutet, „etwas als etwas“ zu sehen, dann dehnt Lichtenstein dieses „als“ bis zu dem Punkt, wo es als Vorgang sichtbar wird. Mirror ähnelt einem Spiegel, doch in dem Sinne, wie Vexierbilder ähnlich sind. Denn worauf das Wiedererkennen basiert, wo sich die Ähnlichkeit konkret einstellt, darauf können wir im Bild nicht zeigen. Den Vexierbild-Charakter akzentuiert Lichtenstein zusätzlich, indem er Form und Grösse des Bildes einem tatsächlichen Spiegel entsprechen lässt. Mirror spielt damit, das gemeinte Objekt tatsächlich zu sein. Doch er reflektiert nicht unser Konterfei. Was er reflektiert, ist allein ein Paradox der Wahrnehmung.

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Lichtenstein Mirror als Druckversion (PDF mit Abb. 4.720 KB)