Rhetorik Sprache Konvention Kunst Ähnlichkeit

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Wahrscheinlichkeit. Zur Rhetorik der Kunst

in: Daidalos 64, Juni 1997 (Sondernummer „Rhetorik), S. 80-89.

Abschnitt II

Doch ob der erweiterte Rhetorikbegriff zum besseren Verständnis der Kunst etwas beitragen kann, ist ungewiß. Wenn jedes Sprechen, ob Alltagskommunikation oder Wissenschaftsdiskurs, rhetorisches Sprechen ist – was ist mit dieser Feststellung gewonnen? Übertragen auf die Welt des Visuellen entspräche ihm die Feststellung, daß jedes Bild ästhetisch ist, gleichviel, ob es als anspruchsvolles Kunstwerk oder als beliebiger Schnappschuß intendiert ist. Letztlich laufen diese Feststellungen auf die tautologische Aussage hinaus, daß die Sprache die Realität nie unmittelbar wiederzugeben vermag, sondern bloß Sprache bleibt, die ihren eigenen Gesetzen unterliegt. Das Beharren darauf gehört zur „aufklärerischen“, anti-ideologischen Intention dieses Rhetorikbegriffs, die als solche berechtigt sein mag. Doch die Begleiterscheinung, daß hiermit alle Gattungsdifferenzen nivelliert werden, vermag nicht zu befriedigen. Denn die Frage drängt sich gleichwohl auf, ob es zwischen den verschiedenen Sprachformen nicht Unterschiede in der rhetorischen Strukturierung gebe. Innerhalb des visuellen Bereichs müßte es möglich sein, zwischen der Kunst und dem Pressebild, dem Urlaubsfoto, der Werbung usw. zu differenzieren.
Bei der Übertragung des Rhetorikbegriffs auf die Kunst gibt es zudem das grundlegende Problem, daß die Kunst nicht sprachlich strukturiert ist. Die Kunst als „Rede“ zu bezeichnen ist selbst eine Metapher und damit ein rhetorischer Akt. Die Sprache operiert mit Zeichen, die als solche arbiträr sind: Grundsätzlich spräche nichts dagegen, mit dem Wort „Tisch“ das zu bezeichnen, was wir unter einem Baum verstehen. Das Zeichen „Tisch“ ist jedoch aufgrund sprachlicher Konvention dem Objekt „Tisch“ eindeutig zugeordnet. Die Bedeutungselemente der Kunst, Farbe und Form, funktionieren hingegen grundlegend anders. Zum einen sind sie nicht arbiträr, sondern analog, z.B. Gelb für die Sonne, oder eine Vertikale für eine Häuserwand. Zum anderen sind sie keinem Bezeichneten eindeutig zuzuordnen. Gelb kann für alles stehen, was gelb ist: neben der Sonne für ein Weizenfeld, für Narzissen usw.; und eine Vertikale kann auch für ein Rückgrat oder einen Pfosten stehen. Aus dieser Offenheit der bildnerischen Elemente schöpft die Kunst Entscheidendes für ihre spezifische Artikulationsfähigkeit, u.a. die Möglichkeit, daß selbst abstrakte Bilder etwas „bedeuten“. So vermag bereits das Übereinander eines unteren grünen und eines oberen blauen Streifens, obgleich beide keinen eindeutigen Referenten besitzen, „Landschaft“ zu suggerieren. Die Beziehung eines bildnerischen Elementes zum „Bedeuteten“ ist also nicht durch Konvention, sondern im weitesten Sinne durch Ähnlichkeit geregelt. Wenn aber die Kunst nicht auf der Ordnung von Zeichen beruht, dann ist die Rhetorik, die stets (auch) semiotisch operiert und somit auf das Fundament der Zeichen angewiesen ist, kaum wirklich auf die Kunst anwendbar.

Abschnitt I
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Pfeil Abschnitt III
Abschnitt IV
Abschnitt V
Abschnitt VI
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