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Rezeption (von Kunst durch Künstler)
in: Kunst-Begriffe der Gegenwart. Von Allegorie bis Zip, hrsg. von Jörn Schafaff, Nina Schallenberg und Tobias Vogt, Köln 2013, S. 249-254.
Die Sinnproduktion künstlerischer Rezeptionen von Kunst – von der expliziten Hommage bis zur impliziten Orientierung am Werk eines Dritten – lässt sich am bündigsten mit jener Phänomenologie des ‚Aspekts‘ erfassen, die Ludwig Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen entfaltet. Nach Wittgenstein ist ein Aspekt etwas, das unter bestimmten Bedingungen an etwas aufleuchtet, und zugleich das, was man unter bestimmten Bedingungen daran bemerkt. Weder allein eine Eigenschaft des Gegenstands noch allein eine Imaginationsleistung des Subjekts, verdankt er sich dem produktiven Zusammenspiel beider. Solches gilt auch für künstlerische Rezeptionsprozesse. Am Rezipierten werden aufgrund eines bestimmten Blicks darauf Aspekte sichtbar, die keine bloßen Projektionen sind, sondern ein im Rezipierten liegendes Potenzial aktivieren. Umgekehrt wirft das, was jemand am Werk eines Dritten bemerkt, ein Licht auf ihn selbst – auf die Eigenart seines eigenen Blicks. Aus der Position der Außenstehenden wird die Sinnproduktion künstlerischer Rezeptionsprozesse folglich als eine doppelte beobachtbar, indem sie sowohl das Objekt als auch das Subjekt der Rezeption besser verständlich machen. Nicht zuletzt an solchen Rezeptionsprozessen zeigt sich, dass Kunstwerke Entitäten sind, deren Bedeutung nur relativ zu einem bestimmten Standpunkt erläuterbar ist.
Künstlerische Rezeptionsprozesse von Kunst erfolgen im selben Modus wie das Rezipierte, nämlich als Kunst. Ihr Ergebnis ist selbst ein Werk, das ein Spiel von Ähnlichkeit und Differenz zum Rezipierten eröffnet. Angesichts der qua Kunstwerk singulär und spezifisch bleibenden Rezeptionsprozesse, angesichts auch ihrer historischen Diversität – von der Aemulatio älterer Kunst bis zur jüngsten Appropriation art – scheint es wenig ergiebig, eine übergreifende Bestimmung ihrer Verfahren und Resultate vorzunehmen. Stattdessen soll die wechselseitige Perspektivierung von Rezipient und Rezipiertem anhand eines einschlägigen Beispiels veranschaulicht werden; es ist das Beispiel der Picasso-Paraphrasen Roy Lichtensteins.
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Lichtensteins Picasso-Paraphrasen entstanden vor dem Hintergrund von Picassos besonderer Stellung in der amerikanischen Nachkriegskunst. Diese hatte unterschiedliche Gründe, genannt sei hier lediglich einer: das intensive Engagement des MoMA für diesen Künstler – einer Institution, deren Rolle für die Sozialisation der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geborenen amerikanischen Künstler kaum zu überschätzen ist. 1939 eröffnete dort die bis dahin größte Picasso-Schau mit einer eindrücklichen Zahl von Hauptwerken, einschließlich der Demoiselles d’Avignon, deren Ankauf dem MoMA soeben gelungen war, als auch Guernica, das Picasso nach Francos Sieg ins New Yorker Exil geschickt hatte. Die Schau wanderte anschließend in 22 Stationen quer durch die USA, darunter an viele Orte, in denen moderne Kunst noch nie nennenswert zu sehen war – mit der Folge, dass in den USA ‚moderne Kunst‘ und ‚Picasso‘ in einer Weise deckungsgleich wurden, die Life später auf die Formel bringen sollte: „When you understand Picasso, you understand modern art.“ Picasso war in fast allen frühen und einflussreichen thematischen Ausstellungen des MoMA vertreten, zu seinen runden Geburtstagen wurden ihm Retrospektiven eingerichtet, und für den eigenen fünfzigsten Geburtstag beschenkte sich das MoMA mit einer Picasso-Schau, die bis heute die umfangreichste geblieben ist.
Nicht nur für Lichtenstein führte der Weg zur eigenen künstlerischen Handschrift über eine intensive Beschäftigung mit Picasso. Dasselbe gilt, um nur die Prominentesten zu nennen, für Arshile Gorky, Jackson Pollock, Willem de Kooning oder David Smith. Womit sie sich auseinanderzusetzen hatten, lässt sich am leichtesten im Rekurs auf Clement Greenbergs damals maßgeblicher Ansichten zusammenfassen. Für ihn war der analytische Kubismus das entscheidende Ereignis im selbstreflexiven Programm des Modernismus, seit dem es der Malerei nicht mehr um fiktive Projektionen ging, sondern um Bilder, die unauflöslich mit dem verschmolzen, was sie tatsächlich waren. Aufgrund von Picassos in Guernica gipfelnder Entwicklung, das analytische Verfahren des Kubismus mit expressiver Gegenständlichkeit zu verbinden, sah Greenberg die Bedeutung des Kubismus universalisiert. Er habe den Status einer Schule gewonnen – der einzigen, die in der Gegenwart Relevanz besitze. Bis zum Auftritt der sogenannten New York School sei für die amerikanische Avantgarde, so Greenberg, ein Ausbruch daraus nicht denkbar gewesen.
In den späten 1940er und den 1950er Jahren hatte auch Lichtenstein, ähnlich wie der frühe Pollock oder de Kooning, eine Malerei in Picassos Manier betrieben. Er transformierte traditionelle Gemälde, vorzugsweise der amerikanischen Kunst des 19. Jahrhunderts, in ein Gefüge aus monochromen Farbflächen, deren Konturen sich ineinander fortsetzen, so wie es in Picassos Malerei seit den mittleren 1920er Jahren zu beobachten war. Nach einer Zwischenphase ungegenständlicher Malerei gelang ihm 1961 endlich die sein Werk neu ausrichtende Zäsur: Er begann nach Cartoons zu arbeiten. Von diesen übernahm er dabei nicht nur die Motive, sondern auch die Darstellungsweise, indem er sie ebenfalls mit dicken schwarzen Konturen, wenigen grellbunten, flachen Farben und Punktrasterung malte. Pollocks oder de Koonings Wege, sich aus Picassos Schatten herauszuarbeiten, liefen über die Relativierung bzw. Aufgabe der Figürlichkeit, an der Picasso stets festhielt, sowie durch die Überschreitung des Tafelbildformats hin zu wandfüllenden Gemälden. Lichtensteins Weg hingegen verlief anders, indem er weder die Gegenständlichkeit aufgab noch das Konzept des Tafelbildes in Frage stellte. Doch mit der Übernahme des stereotypen Formenvokabulars der Cartoons gelang ihm nicht nur die Emanzipation von Picassos Kubismus, sondern – paradoxerweise – auch der Durchbruch zu seinem individuellen Idiom. Dieses behielt er auch bei, wenn er keine Cartoons malte, sondern anderes, beispielsweise einen Picasso.
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Zwischen 1962 und 1965 schuf Lichtenstein fünf Picasso-Paraphrasen, darunter als früheste die hier näher betrachtete. Deren Titel sagt, was das Gemälde zeigt: Femme au chapeau – eine Frau mit Hut. Zugleich verdeutlicht der französische, von Picasso übernommene Titel, dass es weniger um die Darstellung einer Frau geht als vielmehr um die Darstellung eines bestimmten Gemäldes von Picasso. Lichtenstein selbst sprach davon, er hätte „einen Picasso“ gemacht. Doch kann man „einen Picasso“ machen, wenn man nicht Picasso ist? Das wäre ein Plagiat oder eben kein Picasso, sondern ein Lichtenstein. Und falls es doch möglich sein sollte, „einen Picasso“ zu machen, auch wenn man Lichtenstein ist – was wäre dieser Picasso mit unbestimmtem Artikel?
Bei den Cartoon-Picassos malte Lichtenstein nicht mehr wie in seinem Frühwerk à la Picasso, sondern kopierte dessen Gemälde unmittelbar, um es zugleich in die neu entdeckte Bildform zu transformieren. Er verleibte den Meister dem eigenen, anonymisierten, die Handschrift verbergenden Idiom ein – mit dem Ergebnis einer bizarren Engführung von Subjektivität und Unpersönlichkeit, Originalität und Klischee.
Die von Lichtenstein paraphrasierten Picassos, vorzugsweise Porträts Dora Maars, gelten für viele als die Picassos schlechthin. In ihnen führt er seine Kunst der Bildschöpfung als Gegenstandszerstörung zu einem Höhepunkt. Obwohl Picassos Maar-Porträts in ihrem Grundentwurf dem Kubismus verpflichtet bleiben, entfernen sie sich vom frühen Kubismus der 1910er Jahre deutlich. Insbesondere kehrt eine recht konventionelle Unterscheidung von Figur und Grund ins Bild zurück. Der Umraum der Figur spannt sich als einheitliche Fläche hinter der Figur auf und schiebt diese nach vorn, zugleich erfährt die Facettierung und Verformung der Figur durch den Umriss eine ästhetische Bändigung. Obschon das Bild aus flächigen Elementen aufgebaut ist, scheint es in einem tieferen Raum entworfen zu sein, als es später ausgeführt wurde. War die Flächigkeit im Kubismus der 1910er Jahre Ausgangspunkt der Darstellung, scheint sie hier wie ein Flachpressen auf die Figur appliziert zu sein.
Diese Eigenarten weisen Ähnlichkeiten zum Darstellungsverfahren von Cartoons auf, und tatsächlich bezeichnete Lichtenstein Picasso als einen Cartoonzeichner, dessen klischeehafte Formfindungen er in seinen Paraphrasen lediglich steigere. Mit Cartoons hat Picassos Spätkubismus gemeinsam, die Figuren klar zu umreißen, innerhalb der Umrisslinien möglichst nur eine Farbe zu verwenden und die einzelnen Farbflächen weitgehend unmoduliert zu lassen. Beide erzeugen Plastizität nicht durch illusionistische Schattierungen, sondern durch Überschneidung und Größenkontraste. Und beide vereinfachen das Darzustellende, etwa ein Auge, zu piktogramm-artigen Formeln.
Aufgrund dieser Schnittmenge ist in Lichtensteins Bild kaum zu bestimmen, wo der Picasso endet und der Cartoon beginnt; und ebenso ungreifbar ist, wo der Picasso endet und der Lichtenstein beginnt. Diese Unschärfen liegen nicht zuletzt daran, dass Lichtenstein Femme au chapeau nicht bloß in Cartoonform nachmalte, sondern Komposition und Farbigkeit modifizierte. Die farblichen Veränderungen und die schärfer gezogenen Linien erhöhen den Figur-Grund-Kontrast. Die Frau sitzt fester im Bildfeld, unter anderem weil die mittlere Hutspitze jetzt beinahe den oberen Bildrand berührt, auch das Ausziehen der Schleierlinie, die zum rechten Arm herunterfällt, wirkt stabilisierend. Der Oberkörper ist kräftiger, der rechte Arm reicht bis zum Bildrand, und die Schulter- und Dekolletee-Partie wird symmetrisch geglättet. Durch den größeren Oberkörper schließlich schiebt sich der Kopf nach oben, was zu einer Intensivierung des Blicks führt.
Insgesamt orientieren sich Lichtensteins Modifikationen an der Gestalt-Theorie, die eine Form nach ihrer raschen Erfassbarkeit beurteilt. Er überführte Picassos Gemälde folglich nicht nur in die Cartoonform, sondern verlieh ihm zugleich eine glatte Perfektion, so als sei es, wie Lichtenstein es formulierte, von einem technischen Zeichner hervorgebracht.
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Indem er an Picassos Gemälde alles Individuell-Malerische auslöschte, wirkt das Gemälde wie ein Bild ohne Ursprung. Damit offenbart sich die Ambivalenz von Lichtensteins Paraphrase. Einerseits entwertet sie Picasso zur billigen Stereotype. Andererseits löscht sie den individuellen Autor Picasso nur aus, um ihn als überindividuelle Autorität zurückkehren zu lassen. Konvention und Klassik seien, so Lichtenstein, dasselbe; doch sprächen wir von Konvention oder Klischee, sei es entwertend, sprächen wir hingegen von Klassik, sei es ein Kompliment. Nur wenigen Künstlern gelang es, ihre Sicht der Realität in eine so prägnante Darstellungsweise zu übersetzen, dass fast jeder sie vor dem inneren Auge abrufen kann. Dabei ist es gut möglich, dass das entstehende Vorstellungsbild eines Picassos etwa so aussieht wie die Picassos von Lichtenstein. Deren Pointe dürfte folglich weniger in der High-Low-Problematik oder in der Kommentierung von Walter Benjamins Thesen zur Reproduzierbarkeit der Kunst liegen, sondern im Ineinanderblenden von Individuellem und Allgemeinem. Lichtensteins Picassos stellen das Paradox eines Picassos dar, der erkannt wird, obschon kaum etwas an ihm Picasso ist, und der ausdrucksstark ist, ohne dass das, was zum Ausdruck kommt, sich bestimmen ließe. Lichtensteins Femme au chapeau ist ein Vexierbild – dem Vexiernamen ‚Picasso‘ ähnlich, der für ein unentwirrbares Knäuel aus Zuschreibungen und Eigenschaften, Mythos und Wirklichkeit steht.
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Je nachdem, worauf der Betrachter sein Augenmerk richtet, zeigen Lichtensteins Paraphrasen anderes: bald erscheinen sie als Analytik von Picassos Sicht- und Malweise, bald als Ausdruck von Lichtensteins Interesse an Zeichenprozessen, bald wiederum als der ungreifbare Punkt, wo die beiden heterogenen künstlerischen Ansätze sich treffen. Damit sind sie ein Musterbeispiel für jenen multiplen Sinn, der in der künstlerischen Rezeption von Kunst entsteht. Doch auch hinsichtlich der historischen und systematischen Varianz von Rezeptionsverhältnissen, auf die einleitend hingewiesen wurde, erzeugen Lichtensteins Picassos ein signifikantes Schillern der Aspekte. Sie sind zugleich bewundernde Aemulatio jenes Künstlers, den Lichtenstein als den größten und erfindungsreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts, ja vielleicht der Kunstgeschichte überhaupt, ansah, kühle Appropriation eines fremden künstlerischen Idioms, aber auch aggressive Attacke gegen jenen Übervater, der das eigene Werk über Jahre epigonal erscheinen ließ – eine Mehrdeutigkeit, die auf die komplexe Psychdynamik verweist, die bei der Auseinandersetzung von Künstlern mit der Kunst anderer im Spiel ist.
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