Relationale Ästhetik als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 8.8 MB)
Relationale Ästhetik. Über den ‚Fleck‘ bei Cézanne und Lacan
in: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265-288.
Kapitel IV: Die Geste des Malens
Als Cézanne auf einem Fragebogen angab, worin für ihn das „Ideal irdischen Glücks“ bestehe, notierte er: „Eine schöne Formel haben.“ Das Geheimnis von Cézannes Malerei liegt nicht in einer verborgenen Bedeutung, sondern an der Oberfläche: in der Struktur. Mit Lacans Signifikantenstruktur teilt sie die Eigenschaft, Bedeutung nicht aufgrund der Relation von Zeichen und Bezeichnetem zu erzeugen, sondern aufgrund der differenziellen Logik des Kontrastes. Ob ein Fleck eher eine Mauer oder aber ein blühendes Feld meint, kann erst im Zusammenhang mit den anderen Flecken vermutet werden, und auch dann noch unterliegt diese Zuschreibung beständiger Modifikation, die durch jede Identifizierung eines weiteren Flecks angestoßen werden kann. Wenn ‚Sehen‘ normalerweise bedeutet, ‚etwas als etwas‘ zu sehen, dann dehnt Cézanne dieses ‚als‘ bis zu dem Punkt, wo es als Vorgang sichtbar wird. Worauf das Wiedererkennen des Motivs basiert, d.h. wo sich die Ähnlichkeit zum Dargestellten einstellt, darauf kann man im Bild nicht zeigen. Das Signifkat lässt sich von der signifikanten Struktur nicht ablösen, die ‚Realisierung‘ bleibt unabschließbar. Was im Bild erscheint, ist weder festgestellt noch feststellbar, sondern erzeugt einen paradoxen Raum, in dem stets etwas aus den Fugen gerät, fehlt oder unsichtbar bleibt: eine signifikante Abwesenheit des Signifikats. Auf diese Weise wird der Betrachter in die Bedeutungsstiftung des Bildes hineingezogen. Aus dem Fleckenteppich bildet sich nur dann etwas heraus, wenn der Betrachter dessen einzelne Elemente für ‚bedeutend‘ hält. Lacans Definition des Signifikanten, dieser repräsentiere das Subjekt, aber für einen anderen Signifikanten, trifft die Bilderfahrung eines Cézanneschen Bildes ziemlich genau.
Gleichwohl stößt der Vergleich zwischen tache und Signifikant an eine Grenze, die nicht nur auf deren unterschiedliche Medialität verweist, sondern zugleich auf die Darstellungsfunktion der taches. Den Signifikanten versteht Lacan als maximal arbiträres, d.h. unmotiviertes und keine natürliche Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten aufweisendes Zeichen, dessen Bedeutung sich allein aus der Bedeutung für ein Subjekt erschließt. Als ikonisches Zeichen hingegen weist Cézannes tache eine durch Konvention und Ähnlichkeit reduzierte Arbitrarität auf. Einen Baum durch Farbe darzustellen, beruht auf der Konvention Malerei, die ein kulturelles Wissen voraussetzt, damit jemand in der Farbe überhaupt etwas zu sehen vermag. Für einen Baum sodann grüne Farbe zu verwenden, motiviert sich durch die Ähnlichkeit zwischen dem Farbton auf der Palette und dem gesehenen Objekt, wobei das arbiträre Moment darin liegt, dass genau dasselbe Grün auch für einen anderen farbähnlichen Gegenstand eingesetzt werden könnte. Aus dieser Kombination aus Ähnlichkeit, Konvention und Arbitrarität schöpft die Malerei ihre medienspezifische Fähigkeit zur Artikulation. Sie eröffnet unter anderem die Möglichkeit, dass auch ein ungegenständliches Bild gegenständliche Assoziationen hervorruft, beispielsweise ein grüner und ein blauer Streifen eine Landschaft evozieren kann.
Eine Gleichsetzung der Signifikantenstruktur mit Cézannes Fleckengebilde ignorierte aber auch die Materialität der taches und damit die indexikalische Ebene ihrer Zeichenfunktion. Genau auf den indexikalischen Rückverweis auf den Maler richtet sich nun aber Lacans Interesse, wohingegen ihn die ikonische Seite der taches kaum interessiert.
Auf Cézannes ‚kleines Blau‘ und ‚kleines Braun‘ wurde er durch dieVermittlung Merleau-Pontys aufmerksam. Dieser hatte in der Phänomenologie der Wahrnehmung und bereits zuvor im Essay über den „Zweifel Cézannes“ eine von Gasquet vermittelte Äußerung aufgegriffen, in welcher Cézanne über die Möglichkeit spricht, den Blick und das Lächeln eines Porträtmodells aus einzelnen zueinander gesetzten Farbflecken wiedererstehen zu lassen: „Wenn ich“, so lässt Gasquet Cézanne sagen, „um deinen Blick das ganze, unendliche Netz der kleinen blauen und kleinen braunen Flecken webe, die dort sind, die sich miteinander verbinden, dann werde ich dich auf meinem Bilde blicken machen, wie du blickst. […] Zum Teufel, wenn sie ahnten, wie man einen Mund traurig macht oder eine Wange lächeln, indem man zu einem Rot ein abgestuftes Grün setzt.“ Anhand von Cézannes aus Farbe geschaffenem Porträt demonstriert Merleau-Ponty, wie sich die Gegenwärtigkeit und der Sinn des Sichtbaren, seien es ein Mensch oder auch Gegenstände wie beispielsweise ein Tisch, als ‚inkarnierte‘ zeigen, die sich vom ‚Leib‘ des Gesehenen nicht ablösen lassen. „Das Problem der Welt, und zu allem Anfang das des eigenen Leibes“, so fasst Merleau-Ponty den Gedanken zusammen, „ist eben dies, dass alles darin bleibt.“
Lacans Perspektive auf Cézannes Äußerung ist eine andere. Ihm geht es nicht um die Relation zwischen Bild und abgebildetem Gegenstand, sondern umgekehrt um die Beziehung zwischen dem Maler und dem Bild, genauer um die „Geste als Bewegung, die man sehen lässt“. Während es Merleau-Ponty um einen Ursprung geht (den Ursprung des Sichtbaren im ‚Fleisch der Welt‘), geht es Lacan um einen Abschluss: um das terminierende Moment einer Bewegung, die im Pinselstrich ausläuft. Darin verbinden sich für Lacan ein Akt des Niederlegens mit einem Akt der Absonderung. Der Maler male, wie ein Vogel seine Federn herabflattern lasse, eine Schlange ihre Haut abstreife oder ein Baum sich seiner Blätter entledige. Doch da der Mensch, so führt er den Gedanken weiter, nur über eine Farbe verfüge, nämlich sein Exkrement, seien die Flecken seiner Bilder nicht mehr als eine Reihe aneinandergesetzter schmutziger Häufchen. Im Malakt scheint ein ‚Abjektes‘ auf, das die Farbe zu einem Ausgestoßenen macht, das gleichwohl Teil unserer selbst ist, zu einem intimen und zugleich verworfenen Material. Die Nähe zu Merleau-Ponty ist folglich so aufschlussreich wie die Differenz. Auf den ersten Blick scheint es, als rücke Lacan Farbe und Körper in eine ebenso unmittelbare Beziehung zueinander wie Merleau-Ponty. Doch während dieser Farbe und ‚Fleisch‘ (chair) gleichermaßen als ontologische Primärmaterialien versteht, deren Präsenzerfahrung die Oppositionen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Innen und Außen, Körper und Ding aufbebt, beharrt Lacan auf deren Repräsentationsverhältnis. Der Farbfleck ist ein Zeichen, das aufgrund der Geste, die es setzt, zwar in einer unmittelbaren Beziehung zum Maler steht, ihn jedoch lediglich vertritt. Als Zeichen vermittelt es zwischen der Bewegung des Malers und dem Sehen des Betrachters, weist auf das eine zurück und auf das andere voraus. Der Fleck entsteht, wo die Geste des Malers „stockt“ und ein ‚Bild‘ gerinnen lässt, das dem Betrachter hingehalten wird.
Wie die Ausführungen zur Geste des Malens verdeutlichen, begreift Lacan die Malerei als kommunikativen Tausch zwischen zwei gegenläufig ausgerichteten Begehren. Auf den Blick, von dem der Maler sich erfasst sieht – und Lacan betont, dass das Erblicktsein jedem Sehen vorausgehe -, reagiert der Maler nicht mit einer Erwiderung des Blicks, sondern mit dessen ‚Niederlegung‘. Diese vollzieht sich als Gabe, die der Maler dem Blick anbietet: Er zeigt einen Teil seiner selbst und doch nicht sich selbst, indem er, einem Schild oder einer Maske gleich, ein tableau verfertigt, das ihn zugleich verbirgt. „Der Maler“, so Lacan, „gibt dem, der sich vor sein Bild stellt, etwas, das […] in der Formel zusammenzufassen wäre – Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das!“ Der Schautrieb des Betrachters soll durch diese Gabe so weit zufrieden gestellt werden, dass er seinen „gefräßigen“ Blick darin deponiert, „wie man Waffen deponiert“. Ober den ‚Fleck‘ kommunizieren Maler und Betrachter in einem „Augentäuschungsspiel“, dessen Pointe darin besteht, gerade nicht das ‚Eigentliche‘ einzusetzen, sondern vielmehr etwas, das dem Maler erlaubt, dem Blick zu entgehen, sowie dem Betrachter, die Augen darauf weiden zu lassen. Die Dimension des „Trugs“ liegt dabei weniger in einem illusionistischen Vortäuschen des Dargestellten, sondern darin, dass jenes, „was ich erblicke, nie das [ist], was ich sehen will.“
Indem Lacan die Bildfunktion im Rahmen eines Tausches sieht, verschränkt er die Produktionsseite mit der Rezeptionsseite der Kunst. Darin liegt, kunsttheoretisch gesehen, eine der Pointen seines Modells. Das Bild fungiert als Instanz einer Kommunikation, in deren Zentrum der Blick steht – aber als einer, den es auszusperren gilt. In der älteren Kunst kommuniziert der Künstler einen Blick, der, so Lacan, „von weiter herkommt“ und in dessen Auftrag er arbeitet: in der religiösen Malerei den Blick Gottes, in der frühneuzeitlichen höfischen Kunst den Blick des Herrschers. In der Epoche der Moderne hingegen, in der diese souveränen Instanzen ausfallen, verkürzt sich die vierstellige Kommunikationskette (Blick des Anderen – Maler – Bild – Betrachter) zu einer dreistelligen Struktur. Der Maler rückt selbst an die Stelle dieses absoluten Blicks, wodurch er zu jenem ‚Ungetüm‘ wird, von dem Lacan mit Malraux spricht: Immer habe es, so Lacan, beim Bild einen „Blick dahinter“ gegeben, doch in der Moderne sei dieser Blick der Maler selbst.
Ihre Bestätigung findet Lacans Bemerkung in der Rezeptionsperspektive, die erst in der Moderne davon ausgeht, dass es beim Kunstwerk weniger um das Dargestellte gehe, sondern vielmehr um das ebenso fetischisierte wie beargwöhnte Künstlersubjekt, welches das Bild hervorgebracht hat. An der Art und Weise, wie das Werk erscheint, will man erschließen, wie es gemacht worden ist und welchen psychischen, sozialen oder kontextuellen Kräften der Künstler ausgesetzt war. Das Werk wird zur Maske des Künstlers, dessen Physiognomie man darin zu erkennen sucht, und dessen Hervorbringungsakt das stärkere Interesse gilt als der gezeigten Sache selbst.
Aufgrund der strukturellen Reduktion auf die dreigliedrige Kette Künstler-Bild-Betrachter entspricht Lacans Beschreibung der Kommunikationsstruktur moderner Kunst genau dem bereits erwähnten Schema, das die Dreiecke der geometralen Subjektperspektive und der entgegengesetzten Perspektive des ‚Blicks‘ ineinander blendet (vgl. Abb. 3): Obschon dieses Schema weitere Bedeutungsebenen enthält, beschreibt es auch die wechselseitige Durchdringung von Produktion und Rezeption der Kunst. An der Schnittfläche der beiden Dreiecke steht das Bild, dem Lacan zwei gegenläufige Funktionen zuweist. Als image eröffnet es einen imaginären Ausblick auf die jeweils andere Seite, als écran trennt es die beiden Seiten voneinander. Der ‚hinter‘ der Leinwand stehende Maler prägt der Leinwand den Fleck auf, der ihn vertritt, zum Fleck entstellt und vor dem Blick verbirgt. Auf der anderen Seite steht der Betrachter, der im Bild zweierlei (nicht) sieht: das vom Bild Dargestellte (beispielsweise Äpfel oder eine provenzalische Landschaft), sowie in jener spezifisch modernen Überblendung von Subjekt und Sujet auch den Maler. Diese beiden sehr unterschiedlichen Bilder (Bild der Landschaft und Bild des Malers), welche das Bild zu sehen gibt und die sich gegenseitig eigentlich verdrängen müssten, verschmelzen bei Cézanne im Fleck, dessen Pointe im Umschlag zwischen Indexikalität und Ikonizität liegt. Während sich die Landschaft in subjektivierte ‚Berührungen‘ auflöst, entstellt sich der Maler zur fleckigen Bilderhaut.
Werfen wir noch einmal einen Blick auf Lacans Schema, dann fällt daran auf, dass es den Begriff des tableau nicht enthält. Doch der begleitende Text erläutert, dass die Linie rechts, auf welcher der Ort des Subjekts liege, zugleich der Ort des tableau sei. Dies entspricht den Ausführungen der vorhergehenden Seminarsitzung, in der das Schema noch zwei voneinander getrennte Dreiecke aufwies und Lacan am Beispiel der Begegnung mit der in der Sonne glänzenden Sardinenbüchse erläuterte, wie das Subjekt durch den Blick zum tableau werden könne. Dass der Begriff des tableau im kombinierten Schema fehlt, hat allerdings einen heuristischen Sinn. Denn Lacans Ausführungen zufolge befindet sich die Funktion des Gemäldes genau im Übergang zwischen dem Ort des Subjekts und der Schnittfläche der beiden Dreiecke: Um die Gefahr abzuwehren, unter dem Blick zum tableau zu werden, lässt das Subjekt jenes tableau entstehen, das sich je nach Funktion bald als image, bald als écran zeigt.