Relationale Ästhetik Cezanne Fleck Farbe Raum

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Relationale Ästhetik. Über den ‚Fleck‘ bei Cézanne und Lacan

in: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265-288.

Kapitel III: ‚Fleck‘ und Farbe

Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sei jedoch die Funktion der taches in Cézannes Bildern genauer betrachtet. Für Cézanne sind sie das Grundelement, aus dem er, je später im Œuvre desto ausdrücklicher, seine Bilder ‚baut‘. Diese Bausteinfunktion können sie deshalb erfüllen, weil sie verschiedene Dualitäten in sich aufheben. So wird es möglich, traditionell voneinander getrennte Ausführungsschritte eines Gemäldes in einer einzigen Setzung zusammenzufassen. Denn jede tache ist Form und Farbe, Malerei und Zeichnung, Licht und Dunkelheit, materieller Rohstoff und Form in einem. Statt die Dinge durch die Linie zu umreißen, durch das Spiel von Licht und Schatten zu modellieren und schließlich durch Farbe zu kolorieren, basiert Cézannes Malerei allein auf einem differenziellen System kontrastierender Farbmarkierungen, das er ‚Modulation‘ nannte:
„Man sollte nicht modellieren sagen“, so Cézanne, „man sollte modulieren sagen. […] Es gibt keine Linie, es gibt keine Modellierung, es gibt nur Kontraste. Diese Kontraste werden aber nicht von Schwarz und Weiß hervorgebracht, sondern von der farblichen Empfindung. Aus der richtigen Beziehung zwischen den Farbtönen ergibt sich die Modellierung. Wenn sie harmonisch nebeneinander gesetzt werden und alle vorhanden sind, modelliert sich das Bild von selbst.“
Die tache ist folglich Endpunkt und Ausgangspunkt zweier gegenläufiger Prozesse. Einerseits werden darin komplexe Erfahrungen und Verfahren eingefaltet, um anschließend daraus die Ordnung des Bildes zu entfalten. Mit dem rhythmisierten, eine Art gleichmäßiger Unschärfe hervorbringenden Gewebe der taches versuchte Cézanne der Natur des Sehens möglichst nahe zu kommen. Das Vorgehen war allerdings ebenso paradox wie das Ergebnis. Um neu sehen zu lernen, brach Cézanne mit den Konventionen der Malerei. Im Willen, der ‚Verdunkelung‘ des konventionalisierten Sehens eine neue Klarheit entgegenzusetzen, ersetzte er die Durchsichtigkeit des klassischen Tafelbildes durch eine fleckige Opazität, also durch eine Malweise, die nicht nur die Medialität des Bildes, sondern mehr noch: dessen Dinglichkeit zur Schau stellte. Damit aber bezog sich das ’neue Sehen‘ vor allem auf Gemälde, deren Erscheinungsweise befremdlich ins Auge stach. Es mündete in ein Bild, das zunächst einmal auf sich selbst verrwies.
Mit seinem Prinzip der Modulation kontrastierender Flecken durchkreuzte Cézanne die klassische Bildordnung Punkt für Punkt. Die symbolische Ordnung des klassischen Bildes gründete in einer Metaphysik der Schönheit als Angemessenheit und Proportion, die sich kompositorisch in einer spannungsvollen Hierarchie von Teil und Ganzem, Zentrum und Peripherie, Vorne und Hinten, Oben und Unten, Hell und Dunkel, Bunt und Unbunt, malerischer Präzision und skizzenhafter Andeutung manifestierte, wobei sich die einzelnen Aspekte dieser Bildordnung in ihrer Sinnfälligkeit gegenseitig bestärkten. Im Mittelpunkt des Bildes, buchstäblich und metaphorisch, stand der Bildheld und spielte sich das Hauptgeschehen ab, während die Peripherie und der Hintergrund als Echo und Bestätigung dienten. Gleichzeitig wurde das Bild als ‚Durchblick‘ (prospectus, prospectiva) aufgefasst. Der Blickpunkt des Betrachters und der Fluchtpunkt des Bildes standen dabei in einem unumkehrbaren Verhältnis zueinander, allein schon deshalb, weil der räumliche Durchblick unmittelbar mit der geforderten perspicuitas, der Prägnanz und der Lesbarkeit der Darstellung, verbunden war. Bei Cézanne hingegen überwiegt das Heterogene das Homogene, das Offene das Geschlossene, die Peripherie das Zentrum, die Zerstreuung die Konzentration; und während die klassische Kompositionsform Bild und Betrachter über die Metaphern des ‚Organismus‘ und des ‚Körpers‘ analogisierte – durchaus in dem Sinne, wie sie in Lacans Aufsatz über das „Spiegelstadium“ aufscheint -, kündigt Cézannes Fleckentextur dieses Spiegelverhältnis zwischen Betrachter- und Bildkörper auf.
In denselben Zusammenhang gehört auch Cézannes vieldiskutierter Bruch mit der zentralperspektivischen Raumordnung. Häufig wird dieser Bruch lediglich im Zusammenhang mit der modernistischen Malerei gesehen, deren Tendenz zur Flächigkeit den Illusionismus des klassischen ‚Bildfensters‘ destruiert und die Medialität des Bildes selbstreferenziell herausgestellt habe. Seltener bedacht wird der Umstand, dass das Verschwinden des Fluchtpunktes als innerer Fokus des Bildes zwangsläufig das Verschwinden des Betrachterstandpunktes als äußerer Fokus des Bildes nach sich zieht. An beiden Polen der Sehachse gerät das Bild sozusagen ‚out of focus‘, so dass die Beziehung zwischen Bild und Betrachter ebenso unbestimmt wird wie der Zusammenhang zwischen den einzelnen Flecken im Bild.
„Das Licht ist keine Sache, die reproduziert werden kann, sondern etwas, das mit etwas anderem, mit Farben, dargestellt werden muss“, sagt Cézanne nach den Aufzeichnungen von Maurice Denis. Durch diese Eigenart, ‚anders‘ zu repräsentieren, verschränken sich in Cézannes Flecken Ähnlichkeit und Entstellung. Da jede von ihnen unterschiedlichen Ordnungen angehört, erscheinen sie überdeterminiert und unterbestimmt zugleich. So besteht eine der Pointen von Cézannes Malerei in der Überblendung von Sehen und Berühren. Wie schon die Ambivalenz der Begriffe motif und sensation zeigt, ist das Gesehene für Cézanne immer zugleich dasjenige, was einen im Inneren ‚berührt‘. Wird das Gesehene sodann als Bild realisiert, entsteht dieses aus lauter einzelnen kleinen Berührungen der Leinwand: tache/’Fleck‘ und touche/’Berührung‘ sind etymologisch verwandt. Dieselbe Überblendung zeigt sich in Cézannes Beschreibung seines Sehens. Er wünschte sich, ebenso präzise wahrnehmen zu können wie eine lichtempfindliche fotografische Platte, auf der sich „die ganze Landschaft einschreiben“ sollte. Der Vergleich des eigenen Sehens mit einer fotografischen Apparatur greift gerade nicht die nahe liegende Korrespondenz von Auge und Objektiv auf. Cézanne parallelisiert vielmehr die jeweils ‚dahinter‘ liegende Ebene von fotografischer Platte und Gehirn. Dieses soll sich, so Cézannes Formulierung, mit dem Bild der Dinge „imprägnieren“. Eine solche Selbstbeschreibung des Sehens lässt jedes reflexive Modell scheitern, ’sich selbst sehen zu sehen‘. Gegenüber der Unmittelbarkeit der Berührung wird jedes ’sehende‘ Bewusstsein davon zur nachträglichen Rekonstruktion. Oder anders formuliert: Das Gehirn sieht nicht.
Während Sehenkönnen die Distanz zum Gesehenen voraussetzt, kommt es in Cézannes Wahrnehmungsszenario zu einer dramatischen Umkehr der Verhältnisse: zu einer Berührung aus der Ferne. Mit Maurice Blanchot könnte Cézannes Sehen als „Blick der Faszination“ bezeichnet werden, der die Distanz neutralisiert und zu einer Gleichunmittelbarkeit von Nähe und Ferne führt. Es ist ein „Blick des Unablässigen und Endlosen, in dem Erblinden noch immer Sehen ist – ein Sehen, das nicht mehr die Möglichkeit ist, zu sehen, sondern die Unmöglichkeit, nicht zu sehen.“ Dabei liegt der Ursprung der Faszination nicht in dem, was zu sehen ist, sondern im Schauenden selbst: Man wird, so Blanchot, nur dann von etwas fasziniert, wenn man bereits „ganz unter dem Blick der Faszination lebt“
Indem jeder Farbfleck ikonisches und indexikalisches Zeichen in einem ist, wird die Relation zwischen der Bildoberfläche und demjenigen, was auf ihr sichtbar wird, zutiefst ambivalent. Einerseits verharren die Bilder in einer Art absoluter Distanz zu den Dingen. Sie verleiht Cézannes Malerei jenen Zug von ‚Unmenschlichkeit‘, den Merleau-Ponty einprägsam beschreibt: „Kein Wind weht durch die Landschaft, das Wasser des Sees von Annecy liegt regungslos da, ringsum erstarrte, zögernde Gegenstände, wie am Anfang der Erde. Es ist eine Welt ohne Vertraulichkeit, in der man sich unwohl fühlt, und die sich gegen alle menschlichen Gefühlsäußerungen sperrt.“
Zugleich aber drängt dieser unnahbare Grund, der in einem klassischen Gemälde lediglich den Hintergrund eines bühnenartigen Raums abgegeben hätte, immer stärker nach vorne, bis er jeglichen Zwischenraum verdrängt hat und mit der Bildfläche verschmilzt. Einerseits also entfernen sich die Gegenstände aus dem immer unkörperlicher werdenden Bild, andererseits aber bewegen sich Bild und Gegenstand solange aufeinander zu, bis sie ineinander aufgehen. Die Bildfläche wird zur Membran, wo diese gegenläufigen Bewegungen sich berühren. Ob das Bild eher ‚hinter‘ dem Raum liegt und diesen aus seinem fleckigen Grund heraus entspringen lässt, oder ob es vielmehr wie ein Schirm ‚vor‘ dem Raum liegt, dessen Licht sich in ihm abzeichnet, bleibt unentscheidbar. An Gemälden, die sich wie der Waldweg in der Provence (Abb. 4) an der zentralperspektivischen Ordnung zu orientieren scheinen, wird diese Ambivalenz besonders augenfällig. Jeder Farbfleck markiert hier zugleich eine Position im Raum und eine Position auf der Bildfläche, wobei beides fortlaufend ins andere umspringt. Im Kontext des Bildes als tiefenräumliche Illusion zeigt sich die tache als Fläche, in der flächigen Ausbreitung der Leinwand indessen als Tiefe. Diese Doppelidentität gewinnen die Flecken deshalb, weil sie sich kaum je verdecken, sondern konsequent nebeneinander gesetzt sind und somit jeweils gleich weit von unserem Auge entfernt scheinen. Die Tiefenerstreckung des Waldwegs wird zu einem rein differenziellen Effekt, wobei sich der Raum, der von keiner einzigen Linie erschlossen wird, nie mit einem messbaren Raum konvergiert. Durch das unruhige Nebeneinander von warmen und kalten, helleren und dunkleren Farbtönen gewinnt er vielmehr eine zeitliche Dimension, die ihn pulsieren (entstehen und wieder schwinden) lässt. Das Bild wird zum ‚Schirm‘, der die Tiefe ebenso zeigt wie verdeckt. Über ihn rieselt das Licht, dessen Quelle oder konkreten Einfall Cézanne niemals malt, sondern über die gesamte Bildfläche zerstreut. Das Sehen ist weder perspektiviert noch fokussiert. Umgekehrt ist im Bild – wie man mit Rilkes Gedichtzeile über den Torso von Belvedere sagen könnte – „keine Stelle, die dich nicht sieht“. So gibt es kaum eine präzisere Beschreibung der Phänomenalität von Cézannes Waldweg als eine Passage in Lacans Seminar XI, die der Relation von Auge und Licht gewidmet ist: „Was Licht ist, blickt mich an, und dank diesem Licht zeichnet sich etwas ab auf dem Grunde meines Auges – nicht einfach jenes konstruierte Verhältnis, das Objekt, bei dem der Philosoph hängenbleibt – sondern die Impression, das Rieseln einer Fläche, die für mich nicht von vorneherein auf Distanz angelegt ist. Dabei kommt etwas ins Spiel, was beim geometralen Verhältnis elidiert wird – die Feldtiefe in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit, Variabilität, auch Unbeherrschbarkeit. In der Tat ist eher sie es, die mich ergreift, mich in jedem Augenblick umwirbt und aus der Landschaft etwas anderes macht als eine Perspektive […]
Ein später Brief Cézannes an seinen Sohn Paul eröffnet eine weitere Dimension der wechselseitigen Kräfte, die auf den zwischen Auge und Sichtbarem liegenden Bild-Schirm einwirken: „Ich möchte dir sagen“, schreibt er, „dass ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, dass bei mir jedoch die Realisierung meiner Empfindungen immer sehr schwierig ist. Ich kann die Intensität, die sich vor meinen Sinnen entfaltet, nicht erreichen, ich besitze diesen großartigen Farbenreichtum nicht, der die Natur beseelt. Hier, am Ufer des Baches, vervielfachen sich die Motive, das selbe Sujet, unter einem anderen Blickwinkel gesehen, bietet ein Studienobjekt von stärkstem Reiz und von solcher Mannigfaltigkeit, dass ich glaube, mich über Monate beschäftigen zu können, ohne den Platz zu wechseln, indem ich mich bald mehr nach rechts, bald mehr nach links beuge.“ Cézannes Aufmerksamkeit wendet sich von der Registrierung visueller Sensationen und den Phänomenen des Lichts auf den eigenen Körper zurück, auf dessen rhythmische Bewegung und Zeitlichkeit. Unter solchen Voraussetzungen eines dynamisierten Sehens zu malen heißt, dem Bild nicht nur die gegenläufige Verschiebung von Augpunkt und Sehfeld einzutragen, die das Wiegen des Körpers provoziert, sondern zugleich die Empfindung der eigenen Körperbewegung mit derjenigen der ‚beseelten‘ Natur zu verschmelzen – ein bildplastisches Problem, das man sich kaum schwierig genug vorstellen kann. In einem drei Wochen früher geschriebenen Brief, der bereits von den am gleichen Bachufer gemachten Erfahrungen berichtet, stellt er dafür eine Maxime auf. Es sei ausschlaggebend, ins Bild „ein Höchstmaß an Wechselbeziehungen hineinzubringen“ – Wechselbeziehungen, die folglich nicht nur die einzelnen Bildelemente betreffen, sondern zugleich das Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem beweglichen Auge des Malers. An manchen Bildern lassen sich die Versuche, beides ineinander zu blenden, besonders gut beobachten; zwei unterschiedliche Varianten seien herausgegriffen. So führt etwa im Gemälde Kiefern und Felsen(Abb. 5) die starke Konturierung des Felsens im Vordergrund, aber auch die eigentümliche Überschneidung von Gestein und Baumstamm am linken Bildrand zu einem Effekt, wie er aus stereometrischen Fotografien bekannt ist: zu einer Räumlichkeit, die eher aus der Verschiebung verschiedener Bildebenen zueinander entsteht denn aus einer nachvollziehbaren Tiefenstaffelung der Dinge. Eine andere Variante zeigt das Aquarell eines Blätterwerks (Abb. 6). Die evozierte Bewegtheit lässt sich weder allein auf das Rascheln der Blatter noch auf das Wiegen des Malers reduzieren, sondern hebt beides in einer Bewegtheit des Bildes selbst auf. Die sich wiederholende Abfolge von Rot, Smaragdgrün und Violett entfaltet einen Effekt, als blickten wir durch ein Kaleidoskop, dessen Drehung die Welt in eine immanente, in sich selbst zurückgespiegelte Ordnung farbiger Facetten überführt.

Kapitel I: Zwei Formen des Relationalen
Kapitel II: ‚Blick‘ und ‚Fleck‘
punkt Kapitel III: ‚Fleck‘ und Farbe
Andy Warhol - Pfeil Kapitel IV: Die Geste des Malens
Kapitel V: Die Funktion des Gemäldes
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